
(Dieses Buch wird am 28.11.24 in Deutschland erscheinen; die Rezension bezieht sich auf die amerikanische Originalausgabe “The Singularity is Nearer”).
Wenn man ein Gegenstück zu dem mahnenden und warnenden HARARI-Buch “Nexus” suchen würde: Hier ist es! Der amerikanische Erfinder, Futurist und Autor gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Digital-Gurus, die das angebrochene Zeitalter der Künstlichen Intelligenz als spannenden Weg in eine verheißungsvolle Zukunft betrachten.
Dabei traut sich KURZWEIL seit Jahrzehnten weiter aus der Deckung als die meisten seiner technikbegeisterten Mitstreiter, lag mit seinen Prognosen aber tatsächlich schon einige Male genau richtig.
Auch in seinem aktuellen Buch – eine Art Fortsetzung des 2005 erschienenen “The Singularity ist Near” – kratzt der Autor an den Grenzen, den Grenzen des Machbaren und des Vorstellbaren. Sein Markenzeichen ist dabei, dass er die Schilderung scheinbar abwegiger Zukunftsszenarien mit harten Fakten und Berechnungen unterfüttert, so dass seine Prognosen etwas geradezu Unvermeidliches bekommen.
Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang der – seit Jahrzehnten stabile – Trend, dass digitale Rechenleistung in einem atemberaubenden Tempo sowohl exponentiell größer und schneller, als auch immer (relativ) billiger wird. KURZWEIL führt uns vor Augen, dass dies nicht nur die Grundlage für den aktuellen Siegeszug von ChatGPT und Konsorten darstellt, sondern in den nächsten beiden Dekaden zu – je nach Einstellung – faszinierenden bzw. verstörenden Entwicklungen führen wird.
Spektakulär sind vor allem die – ausführlich geschilderten – Szenarien, in denen nicht nur die direkte Verbindung zwischen unserem Gehirn und digitalen Geräten bzw. der Cloud eine geradezu unendliche Erweiterung unserer kognitiven Fähigkeiten schaffen, sondern mithilfe von Nano-Bio-Computern unser Gehirn nach Bedarf repariert oder ausgelesen und in digitale Umgebungen übertragen werden kann.
Entsprechend futuristische Ankündigungen betreffen auch die Medizin allgemein; natürlich speziell den Aspekt der Lebensverlängerung. Eines der krassesten Beispiele: KURZWEIL geht davon aus, dass der erste Mensch, der sein 1000. Lebensjahr erreicht, bereits geboren wurde. Da zögert man kurz. Der Autor verweist dann darauf, dass es schon in zwei bis drei Jahrzehnten möglich sein wird, alle Körperprozesse durch Nanotechnologie lückenlos zu überwachen und jede Funktionsstörung oder Alterung durch Reparatur oder Ersatzprodukte zu beseitigen.
Um es zu wiederholen: All das spinnt sich der Autor nicht im Sinne einer Science-Fiction aus, sondern leitete es lückenlos aus bereits vorhandenen Ansätzen und stabilen Trends ab.
Und die Gefahren?
KURZWEIL ist ein notorischer Optimist. Er verwendet viele (vielleicht zu viele) Seite seines Buches auf die Beweisführung, dass der menschliche Fortschritt letztlich unaufhaltsam voranschreitet. Dabei greift er auch auf statistisches Material von PINKER (“Aufklärung jetzt“) zurück.
Er ist recht sicher, dass die Menschheit auch in der Lage sein wird, die – nicht geleugneten – Risiken der KI-Revolution zu bewältigen.
In Bezug auf die wirtschaftlichen Umbrüche zeichnet der Autor ein sehr abgewogenes Bild: Es sei letztlich eine gesellschaftliche Aufgabe, die schwierige Übergangszeit bis zu einer “Überflussgesellschaft für alle” so zu managen, dass nicht einzelne Gruppen den Preis dafür zahlen müssen (z.B. durch Arbeitslosigkeit). Willkommen in der Sozialen Marktwirtschaft!
Natürlich bleiben bei einem so weiten und ungehemmten Blick in die Zukunft einige Fragen offen. KURZWEIL selbst thematisiert die Frage, ob wohl eine fehlende gesellschaftliche Akzeptanz oder andere politische Widerstände dazu führen könnten, dass technologisch mögliche Entwicklungen verzögert werden. Er lässt durchblicken, dass er das bedauerlich fände.
An einem anderen Punkt wird deutlich, dass der Autor zwar ein begabter Techniker und mutiger Visionär ist, aber ganz sicher kein Psychologe. Wenn er darüber schwärmt, wie sich unsere Gehirnkapazität vervielfachen könnte und uns so bisher ungeahnte Abstraktionsebenen, z.B. das Denken in 11 Dimensionen, zugänglich werden könnte, so bleibt der Aspekt der psychischen bzw. emotionalen Bewältigung solcher Erfahrungen völlig außen vor. Wie müsste unser psychischer Apparat aussehen, wenn wir permanent mit allen verfügbaren Wissensbeständen der Menschheit verbunden wären und selbst so etwas wie eine KI in uns tragen würden? Müssten dann die Nano-Maschinen in unserem Körper unsere Emotionsregulation so konstruieren, dass sie zu unseren unbegrenzten kognitiven Fähigkeiten kompatibel wären? Wer testet das wie aus? Gibt es darauf dann Patente und monatliche Updates?
Aber trotzdem: Der Wert dieses Buches wird mit solchen Überlegungen keineswegs in Frage gestellt. Hier ist Transhumanismus keine philosophische Denkrichtung, sondern eine konkrete technologische Prognose. Wer wissen möchte, wie weit man dabei im Moment fakten- und datenbasiert gehen kann, findet hier faszinierende bzw. erschreckende Antworten auf Expertenniveau.
Eine öffentliche Diskussion zwischen KURZWEIL und HARARI über die KI-Zukunft wäre sicher ein extrem spannendes Event. Bis dahin bleibt die Möglichkeit, beide Stimmen zu hören (lesen).
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2 Antworten auf „“Die nächste Stufe der Evolution” – von Ray KURZWEIL“