“Keine Zeit für Pessimismus” von Dirk ROSSMANN und Josef SETTELE

Der bekannte Unternehmer Dirk ROSSMANN ist ein umtriebiger Mensch, dem der Aufbau eines Drogerie-Imperiums als Lebensleistung ganz offensichtlich nicht ausreicht (auch das wird in diesem Buch zum Thema). Besonders öffentlichkeitswirksam wurden seine Aktivitäten durch 3 Umwelt-Thriller (die Oktopus-Reihe).
Mit seinem aktuellen Buch (2025) wechselt ROSSMAN das Genre: Dargeboten wird solider Wissenschaftsjournalismus in Form eines gut lesbaren Sachbuchs. Der Mitautor SETTELE (Biologe und Umweltforscher mit dem Spezialgebiet “Schmetterlinge”) ist dabei nicht als Ghostwriter tätig; stattdessen ergänzen sich offenbar die Textbeiträge beider Autoren.
Inhaltlich geht es beispielsweise um Mikroplastik, Mini-Wälder, Antibiotika-Forschung, Batterie-Optimierung und um ein Schulmodell. Insgesamt werden diese und andere Projekte in 10 Kapiteln vorgestellt; auch die Autoren gönnen sich jeweils ein Kapitel.
Von zahlreichen anderen Nachhaltigkeits-Büchern unterscheidet sich “Keine Zeit” insbesondere in einem Punkt: Hier werden die dargestellten Transformations-Ideen für Produkte, Herstellungsmethoden oder Zukunfts-Konzepte nicht als – mehr oder weniger austauschbare – Beispiele für bestimmte Trends angeführt. Durch die Breite und Tiefe der Präsentation bekommen die ausgewählten Themen bzw. Personen so etwas wie ein Eigenleben: Sie erheben sich aus der Masse von Initiativen, werden fassbar, bekommen Konturen und Individualität.
Ein weiterer Gewinn beinhaltet die gewählte Nah-Perspektive, in dem sie Motivationen, Prozesse und Strategien erkennbar macht: Die verschlungenen und kräftezehrenden Wege von einer Idee bis zur marktreifen Umsetzung werden so verstehbar; gleichzeitig entsteht ein Gefühl dafür, warum auch gute Ansätze oft scheitern.
Es fehlt noch ein Bezug zum Titel: Die Autoren wollen Pessimismus vertreiben und Optimismus säen. Das entspricht nicht nur ihrer persönlichen Grundhaltung, sondern hat ganz pragmatische Ziele: Der Glaube daran, dass eine bessere Zukunft möglich ist, schafft Motivation, weckt Tatendrang und wirkt sozial ansteckend. Auch deshalb gehen sie so in die Tiefe: Es soll deutlich werden, auf welchen psychologischen Mechanismen leidenschaftliches Engagement entstehen kann.
Auf dieser Basis wird dann auch ein wenig Kritik an den Weltuntergangs-Aktivisten (meine Formulierung) formuliert.
Die Autoren schaffen es in diesem Buch vorbildlich, den Weg zur Nachhaltigkeitswende aus dem Bereich der immer gleichen Schlagworte zu befreien und in lebendiger Form zu konkretisieren.
Angesichts dieser Leistung ist es sicher tolerierbar, dass die beiden älteren Herren am Ende des Buches ein wenig (selbstverliebte) Eigenwerbung betreiben. Man darf z.B. ruhig ein wenig stolz darauf sein, wenn man mit den Gewinnen seines Unternehmens eine ganze Reihe von gesellschaftlich relevanten Projekte unterstützt (statt sich einen Privatjet zu leisten).
Wenn man insbesondere an inhaltlichem und strukturellem Sachwissen interessiert ist, wird man vermutlich das ein oder andere private Detail oder bestimmte Anekdoten für verzichtbar halten. Dass dieses Buch andere – eher strukturelle und politische – Facetten der Nachhaltigkeits-Thematik weitgehend auslässt, kann kein ernsthafter Kritikpunkt sein: Der Anspruch auf eine umfassende Darstellung wird an keiner Stelle erhoben (und wäre auch eher unrealistisch).
Anders als bei den Oktopus-Thrillern (Bd. 1 / Bd. 2 / Bd. 3) kann hier jedenfalls eine uneingeschränkte Empfehlung ausgesprochen werden.
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“Adams Apfel und Evas Erbe” von Axel MEYER

Bei einem 10 Jahre alten naturwissenschaftlichen Sachbuch (erschienen 2015) stellt sich vorweg die Frage, ob nicht schon die mangelnde Aktualität gegen die Beschäftigung mit dieser Publikation spricht.
Ich will im Folgenden u.a. begründen, warum ich darauf mit “nein” antworte – und es deshalb auch nicht bereue, dieses Buch gelesen zu haben.
Der international bekannte Zoologe (spezialisiert auf Genetik und Evolutionsbiologie) legt in diesem durchaus schwergewichtigen Band (375 Textseiten) zunächst einmal eine Einführung in die allgemeine Genetik vor. Diese ist zwar für Laien gut verständlich geschrieben, geht aber hinsichtlich der Informationstiefe deutlich über einen wissenschaftsjournalistischen Standard hinaus. Das ist kein Text, in dem man zur Entspannung kurz vor dem Schlafengehen ein wenig schmökert.
Vermittelt wird solides Basiswissen in klassischer Genetik, das sich dann schrittweise auf die biologischen Grundlagen der Geschlechtlichkeit fokussiert. Auch hier geht es deutlich unter die Oberfläche: Der (durchaus komplizierte) Zusammenhang zwischen der Chromosomen-Ausstattung und der Entwicklung eines männlichen bzw. weiblichen Körpers wird in aller Differenziertheit betrachtet.
In einem weiteren Kapitel werden die – insgesamt sehr seltenen – Abweichungen und Ausnahmen erklärt, ebenso wie die Versuche, im Grauzonen-Bereich zu sinnvollen Entscheidungen zu kommen.
Die Leserschaft erfährt auch, wie genau sich weibliche und männliche Gene einen Wettbewerb um Dominanz in der Nachkommenschaft liefern, wie es um die biologischen Grundlagen von Monogamie bzw. Promiskuität bestellt ist und wie die biologischen Grundlagen von Attraktivität bei der Partnerwahl aussehen.
Der Erblichkeitsforschung nähert sich der Autor schwerpunktmäßig beim Thema “Intelligenz”, erklärt dabei auch methodische und statistische Grundlagen.
In den letzten Kapiteln des Buches stehen dann die Fragen rund um die biologische Verankerung von Geschlechtsunterschieden zwischen Männern und Frauen im Mittelpunkt.
Dem Autor ist nicht nur bewusst, dass er damit ein vermintes Gelände betritt, sondern er steigt ganz bewusst und engagiert in die gesellschaftlichen Kontroversen um die relative Macht von Biologie und Kultur ein. Seine Botschaft ist eindeutig: Er stellt sich konsequent dem Zeitgeist entgegen, verteidigt die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse gegen die Angriffe durch Wokeness-Aktivismus, stellt sogar ganz offen die wissenschaftliche Seriosität vieler “Gender-Studies” in Frage.
Auch in diesem Themenspektrum (Gender, Geschlechtsrollen, Transgender, Homosexualität, Gendermainstreaming) bezieht sich MEYER zwar über weite Teile auf Fakten und Befunde, geht in seinen gesellschaftlichen und politischen Schlussfolgerungen aber an einigen Punkten deutlich darüber hinaus. In diesen Momenten wird deutlich, was den Autor ganz persönlich umtreibt, was ihn motiviert hat, dieses Buch zu schreiben: Er will einerseits die wissenschaftlichen Standards in einem Bereich verteidigen, dem er seit Jahrzehnten seine Schaffenskraft gewidmet hat. Zusätzlich versteht er sich auch als politischer Mensch, der ganz direkt gesellschaftlichen Entwicklungen entgegentreten will, die er als ideologisch motiviert bewertet (z.B. einer umgekehrten Geschlechterdiskriminierung zum Nachteil von Männern).
Mit diesem Buch erhält man eine beachtliche Menge von gut aufbereitetem (Grundlagen-)Wissen über einen Themenkomplex, der – zusammen mit der digitalen KI-Revolution – die Zukunft unserer Spezies entscheidend prägen wird. Auch wenn hier nicht die neuesten Befunde der letzten Jahre eingegangen sind, eignet sich der Band als solide Informationsquelle über die grundlegenden Mechanismen der Genetik.
Mit der Fokussierung auf die Geschlechter-Frage berührt der Autor eine Diskussion, die seit der Veröffentlichung noch an Intensität zugenommen hat. Dass sich MEYER hier nicht mehr (nur) als neutraler Wissenschaftler zeigt, kann man verständlich, sympathisch oder vielleicht sogar notwendig finden. Man könnte es aber auch ein wenig bedauern, dass er es durch ein paar wenige – vielleicht etwas zu kämpferische – Formulierungen der “Gegenseite” erleichtert, ihn als “konservativen Antifeministen” zu brandmarken.
Es wäre tatsächlich sehr schade und extrem ungerecht, dieses extrem faktenreiche und (ganz überwiegend) differenzierte Werk in die Kulturkampf-Ecke zu verbannen.
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“Gar es ohne Bares” von Sebastian MAAS

Um in dem unüberschaubaren Markt der Kochbücher auf sich aufmerksam zu machen, muss man schon irgendein Alleinstellungsmerkmal liefern. Sebastian MAAS macht es über die Low-Budget-Schiene. Ihm kommt dabei der segensreiche Umstand zupass, dass er bei SPIEGEL-online eine Kolumne hat (die dort “Kochen ohne Kohle” heißt.
Doch es geht dem Redakteur und Hobby-Koch nicht nur um den Nachweis, dass auch eine extrem knappe Haushaltskasse eine kreative und abwechslungsreiche Ernährung ermöglicht. Auch unabhängig von der Knete zeigt MAAS ein Herz für seine Zielgruppe: junge Leute, die in ihren WGs die ersten Verselbständigungs-Schritte in Richtung Selbstversorgung machen.
Der Autor schafft einen entsprechenden Kontext, in dem er seine Rezepte in kleine Geschichten aus dem Studenten- und WG-Alltag einbettet. Dabei kann er immer wieder aus dem Fundus eigener Erfahrungen schöpfen: Der Koch-Lehrer kommt daher als Szene-sicher und authentisch rüber.
Doch auch auf der Informationsebene macht MAAS zusätzliche Zielgruppen-affine Angebote: Seine Handlungsanweisungen sind ausführlich und setzen keine Grundkenntnisse voraus. Darüber hinaus definiert er die notwendige Küchen-Minimalausstattung, gibt Hinweise für Einkauf, Lagerung und Resteverwertung.
Auch an die Ästhetik wird gedacht: Farbfotos von Zutaten und/oder dem fertigen Gericht sind vorhanden. Das erhöht nicht nur die Motivation, sondern schafft auch zusätzliche Sicherheit und gibt Anregungen für die Darbietung der Speisen.
Da Geld eine zentrale Rolle spielt, vermeidet MAAS weitgehend exotische Zutaten aus der Feinkost-Ecke. Das hindert ihn aber nicht daran, seine Rezepte breit aufzustellen und international auszurichten. Schnell wird der Leserschaft deutlich, dass Sparen auch etwas mit Selbermachen zu tun hat: So wird dann schonmal der Teig für Fladenbrote oder Scherennudeln in Eigenarbeit hergestellt.
Als kleinen Gag erlaubt sich der Autor, die Rezepte nach dem Portionspreis zu sortieren: Die Ein-Euro-Gerichte gibt es am Ende des Monats (kurz bevor das nächste Bafög kommt).
Insgesamt kann man das Projekt von der Idee und Umsetzung als sehr gelungen bewerten. Man merkt dem Text auf jeder Seite an, dass der Autor nicht nur praktische Lebenshilfe, sondern auch Spaß am Selberkochen vermitteln wollte.
Ein tolles Geschenk zum Einzug in die erste eigene Bude!
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“Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins” von Peter GODFREY-SMITH

Wenn ein Philosoph ein naturwissenschaftliches Interesse an den biologischen Quellen des Bewusstseins hat und nebenher noch leidenschaftlicher Taucher mit einem Schwerpunkt in der Kraken-Erforschung ist – dann kann es unter günstigen Umständen zu einem Buch wie diesem kommen! Und zwar genau dann, wenn dieser Tausendsassa auch noch das Talent hat und die Motivation aufbringt, seine Erlebnisse, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen in allgemeinverständlicher Form zu vermitteln.
GODFREY-SMITH webt seinen literarischen Stoff aus folgenden Einzelfäden:
– Wir bekommen eine Einführung in die Systematik der biologischen Stammbäume und werden so im Turbotempo durch die Geschichte des Lebens geleitet.
– Der Autor berichtet von diversen Unterwasser-Begegnungen mit einer der interessantesten und geheimnisvollsten Tiergattungen, den Kraken. Die spannendste Frage dabei: Findet Kommunikation zwischen zwei Arten statt, deren Entwicklungs-Wege sich vor ca. 600 Millionen Jahren getrennt haben?
– Wir lernen diese so fremd wirkenden Kreaturen sowohl aus evolutionsbiologischer Perspektive, als auch in ihrem natürlichen Verhalten kennen und erfahren insbesondere, dass die Natur hier einen ganz anderen Weg gewählt hat, Intelligenz zu erzeugen. Dabei greift GODFREY-SMITH (natürlich) auch auf allgemeine Ergebnisse der Kraken-Forschung zurück.
– Der Autor nimmt uns mit in seine grundsätzlichen Überlegungen zum Entstehen von verschiedenen Bewusstseins-Stufen: Für ihn gibt es fließende Übergänge zwischen ersten Formen des Fühlens in einfachen Organismen und dem selbstreflexiven Bewusstsein der Primaten.
Es ist eine ungewöhnliche Mischung von Themen und Zugangswegen: Auch innerhalb der Kapitel finden immer wieder mal ein Wechsel von Perspektiven statt: Gerade noch geht es um hoch-abstrakte Bewusstseins-Theorien – und schon findet ein neuer Tauchgang statt, in dem es um ehr konkrete Verhaltensbeobachtungen geht.
Immer wieder spürbar ist dabei die ganz einzigartige Faszination, die von einem Lebewesen ausgeht, dessen Welt- und Selbsterfahrung schon auf basaler biologischer Ebene eine solch prinzipielle Andersartigkeit aufweist: Da ist ein dezentrales Nervensystem, das den Krakenarmen eine erstaunliche Autonomie ermöglicht; da gibt es die Fähigkeit der Krakenhaut zu spektakulären Farbenspielen (die von den Tieren selbst offenbar gar nicht wahrgenommen werden können); da gibt es den irritierenden Umstand, dass diese so differenzierten und vielseitigen Organismen nur eine sehr kurze Lebenserwartung haben; da gibt es erstaunlich raffinierte Verhaltensweisen, die Kraken unter den Bedingungen einer Gefangenschaft zeigen.
Eine Sehnsucht bleibt offenbar unerfüllt: Kraken zeigen Menschen gegenüber kein Spiel- und soziales Bindungsverhalten, wie dies z,B. zwischen Delfinen und Menschen zu beobachten ist. Das Welterleben der Kraken scheint deutlich “autistischer” zu sein als man es sich bei so intelligenten Kreaturen wünschen würde; kommunikative Aspekte spielen in Begegnungen meist nur eine kurze, oberflächliche Rolle.
So ist man am Ende des Buches auf mehreren Ebenen schlauer geworden: Man weiß mehr über Evolution, über Kraken, über Unterwasserforschung und über Bewusstsein.
Man hätte diesen Erkenntnisgewinn sicher auch auf getrennten Wegen erlangen können. Dass uns der Autor diese besondere Mischung verabreicht, ist vor allem dann ein attraktives Angebot, wenn man sich für alle diese Inhalte interessiert.
Umgekehrt gilt: Wer sich in erster Linie mit dem Thema “Bewusstsein” beschäftigen will, dem wird es sicher irgendwann zu viel mit der Kraken-Beobachtung…
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“Philosophie für alle” von Christian TIELMANN

Dieses Buch wurde unter dem Titel “Meilensteine der Philosophie” schon im Jahr 2009 erstmals veröffentlicht. Für die Inhalte dieser Publikation spielt Aktualität allerdings keine Rolle.
Die Konzeption dieser Heranführung an den wuchtigen Gegenstand “Philosophie” lässt sich wie folgt beschreiben:
In 20 Kapiteln werden 18 große Denker (es sind alles Männer) aus der gesamten (abendländischen) Philosophiegeschichte vorgestellt. Zwei weitere Kapitel widmen sich einer Thematik: dem sog, Universalienstreit und der Willensfreiheit.
In diesen Texten wird weitgehend darauf verzichtet, eine zusammenfassende Darstellung bzw. Bewertung der jeweiligen Denkschule zu präsentieren. Was ebenfalls entfällt, sind Hinweise auf Bezüge und Querverbindungen zwischen den Kapiteln oder eine Einordnung hinsichtlich der übergreifenden Grundfragen der Philosophie. TIELMANN legt auch keinen Fokus darauf, die vorgestellten Denker und ihre Theorien in einen zeitgeschichtlichen Bezug zu stellen.
Was bekommt man stattdessen?
Der Autor konzentriert sich darauf, einen exemplarischen Teilaspekt der jeweiligen Lehre herauszugreifen und ihn einer Feinanalyse zu unterziehen. Dabei “übersetzt” und hinterfragt TIELMANN die Vorannahmen, die Klarheit von Definitionen, die Stichhaltigkeit von Argumenten und Widerspruchsfreiheit von Schlussfolgerungen. Er führt also vor, wie einzelne philosophische Aussagen geradezu mikroskopisch seziert werden können.
Dabei hält sich der Autor mit seinen eigenen fachlichen Bewertungen nicht zurück, zeigt also auch, dass Philosophie keine streng objektive Wissenschaft sein kann.
Da sich das Buch an philosophische Anfänger richtet, irritiert gelegentlich die Auswahl der betrachteten Aspekte. Zwar liegt es nahe, dass Platons Ideenlehre und Aristoteles Ausführungen zum glücklichen Leben zum Thema werden; dass TIELMANN sich allerdings ausgerechnet die Musiktheorie von Adorno vornimmt oder sich damit beschäftigt, wie Foucault “Autorenschaft” definiert, macht ein wenig ratlos.
Mit dem Abschlusskapitel über “Willensfreiheit” begibt sich der Autor in einen interdisziplinären Bereich und versucht sich an der philosophischen Bewertung neurowissenschaftlicher Experimente und Theorien (u.a. von Singer und Roth). Hier wirkt seine Schlussfolgerung – die erwartungsgemäß zugunsten der Willensfreiheit ausfällt – doch ein wenig oberflächlich und subjektiv; so wird z.B. die Frage der psychologischen Determiniertheit kaum gestreift.
Insgesamt präsentiert TIELMANN eine Einführung in die Philosophie, die eine nachvollziehbare Auswahl prägender Denker vorstellt und einen praktischen Einblick in die Methode der Text- und Theorieanalyse verschafft. Es gelingt ihm immer wieder, Begrifflichkeiten und Konzepte aufzuschlüsseln und zu hinterfragen und so einen vertieften Einblick in die Denk- und Argumentationsstrukturen zu geben. So sammeln sich Mosaiksteinchen, die eine grobe Idee davon vermitteln, was Philosophie inhaltlich und methodisch ausmacht.
Man sollte aber als Leser/in nicht erwarten, dass sich aus diesen Einzelstücken ein gut erkennbares Gesamtbild ergibt: Dafür fehlt es an Passungen und Verbindungen zwischen den Elementen. Auch muss man bei dieser Betrachtungsweise in kauf nehmen, dass keine Einbettung in kulturelle, wirtschaftliche oder politische Rahmenbedingungen erfolgt.
So kann zwar “Philosophie für alle” einen sinnvollen Beitrag zur Annäherung an dieses Menschheitsthema leisten, sollte aber um Quellen ergänzt werden, die weniger episodenhaft und exemplarisch, sondern eher verbindend und strukturiert vorgehen.
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“Die Enkelin” von Bernhard SCHLINK

Der Autor wurde 1995 mit dem Roman “Der Vorleser” zu einer internationalen literarischen Größe und bekam auch für seine nachfolgenden Werke viel Anerkennung.
In “Die Enkelin” gelingt ihm eine grandiose Verknüpfung zwischen der einfühlsamen Schilderung einer ungewöhnlichen familiären Konstellation und einer brisanten gesellschaftlichen Herausforderung,
Erzählt wird die Geschichte des Buchhändlers Kaspar, der erst im Seniorenalter erfährt, dass seine verstorbene Frau Birgit vor ihrer Flucht zu ihm in den Westen eine Tochter geboren hatte. Während im ersten Teil des Romans die – von biografischen Bürden und Sprachlosigkeit belastete – Ehe zwischen Kaspar und Birgit im Mittelpunkt steht, geht es im Hauptteil des Plots um den schwierigen Aufbau und die hindernisreiche Gestaltung der Beziehung eines spätberufenen “Stief-Opas” zu seiner “Stief-Enkelin” Sigrun.
SCHLINK begnügt sich aber nicht mit der sensibel und psychologisch dicht beschriebenen Familien- und Beziehungsdynamik auf dem Hintergrund des geteilten Deutschlands. Indem er die jugendliche Enkelin in ein völkisch-nationales Milieu versetzt, eröffnet er eine extrem spannende Frage: Wie können späte Familienbande wachsen, wenn nicht nur ein komplizierter biografischer Rahmen, sondern auch noch ein extrem breiter ideologischer Graben den Prozess erschweren.
Die – von Zweifeln und Ambivalenzen durchzogenen – Anstrengungen des Großvaters, dem Mädchen trotz Widerstand ihrer rechtslastigen Eltern ein verlässliches Beziehungsangebot zu machen, werden transparent und nachfühlbar gemacht. Literatur und Musik sind letztliche die entscheidenden Verbindungsglieder, die weltanschauliche Hürden (zeitweise) überwinden können.
Der wohlmeinende, liberale und großzügige Bildungsbürger Kaspar wird immer stärker zu einer Identifikationsfigur; bei Birgit werden wir Zeuge ihrer inneren Zerrissenheit. Dem Tanz dieser beiden Figuren zuzuschauen, bereitet echtes Lesevergnügen.
Der Roman spricht Intellekt und Emotionen gleichermaßen an. Zwar konstruiert der Autor eine extrem spezielle Ausgangssituation, siedelt in ihr aber eine ganze Reihe thematische Fragestellungen von prinzipieller Bedeutung an. Dabei geht es auch um den Preis, den das “Nichtgesagte” in einer Beziehung haben kann, um die Möglichkeit einer Liebe unter schwierigsten Bedingungen und eben um das relative Gewicht von Weltbildern und Bindung.
Die entscheidende Botschaft SCHLINKs: So persönlich kann das Politische sein, so politisch das Persönliche!
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“Zu Besuch am rechten Rand” von Sally Lisa STARKEN

Das Buch der Journalistin, Autorin und Podcasterin STARKEN erschien wenige Tage vor der Bundestagswahl 2025. Es darf bezweifelt werden, dass dies der ursprüngliche Zeitplan war; da kam wohl das Ampel-Aus in die Quere.
Aber das Buch wurde auch sicherlich nicht mit dem primären Ziel der Beeinflussung einer Wahlentscheidung geschrieben: Das Motiv lag in der Bedürfnis, eine vertiefende Analyse eines gesellschaftlichen Trends vorzulegen: der verstärkten Zuwendung zu rechtspopulistischem Gedankengut und der dieser Stimmung repräsentierenden Partei.
Die Publikation bewirbt sich auf der Buchrückseite und auf dem Klappentext als Reise in die rechten Randzonen von Deutschland und als Ergebnis eigener Erkundungen und Gespräche. Das ist auch nicht verkehrt, weil von solchen Kontakten (natürlich) auch berichtet wird.
Überraschend ist allerdings die Gewichtung: Der Austausch mit Experten, der Bezug auf Forschungsergebnisse bzw. Veröffentlichungen und eigene strukturierende Betrachtungen nehmen einen weit größeren Raum ein, als das zu erwarten gewesen wäre.
Das macht das Buch nicht weniger wertvoll, aber ein bisschen Mogeln ist schon dabei.
Jedenfalls rechtfertigt die insgesamt doch recht geringe Zahl an geschilderten Einzel-Kontakten nicht die in Aussicht gestellte Besonderheit dieses Buches. Es ist in weiten Teilen eben doch eine politisch-soziologische Analyse – auf der Basis von persönlichen Eindrücken, Expertengesprächen und Datenmaterial.
Inhaltlich ist der Text ohne Zweifel sehr informativ und auf der Höhe des gesellschaftlichen und medialen Diskurses. Die Autorin versteht es gut, die unterschiedlichen Facetten des Themenbereiches einzufangen, zu ordnen und nachvollziehbar in gut verständlicher Sprache darzustellen. Insgesamt wirkt der Text eher wie ein journalistisches Sachbuch, als dass der persönliche Erlebnischarakter im Vordergrund stände.
Sie strukturiert ihre Betrachtungen nach Themenbereichen wie der zeitlichen, geografischen und demographischen Entwicklung, spricht die erfolgreiche Social-Media-Strategie, die zentrale Bedeutung des Migrationsthemas und das Phänomen des Protest-Wählertums an. Am Ende geht es um Strategien für Gespräche mit Menschen, die man noch nicht an den rechten Rand “verloren” wähnt. In diese Kapitel sind dann jeweils beispielhafte Begegnungen mit realen Gesprächspartnern eingestreut.
In Bezug auf die eigene Position und das politische Ziel des Buches lässt die Autorin kein Zweifel entstehen: Es geht hier nicht um eine neutrale wissenschaftliche Publikation. Der Text richtet sich an Gleichgesinnte, die auch ganz selbstverständlich geduzt werden. Das gemeinsame Ziel, den Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus zu bekämpfen, wird vorausgesetzt.
Die Autorin ist ganz eindeutig darum bemüht, keine unüberwindbare Mauern aufzubauen; sie stellt offene Fragen, ihr geht es um ein echtes Verständnis von Sichtweisen, die ihr in ihrem privaten Alltag nicht vertraut sind. Sie dämonisiert nicht, sie wertet nicht ab. Sie sucht nach Antworten, die es nur geben kann, wenn man sich auf das Bezugssystem des Gegenübers einlässt.
Was man jedoch auch durchweg spürt: Bestimmte Haltungen (z.B. zur Migration) sollen und können zwar verstanden und biografisch bzw. sozial eingeordnet werden; die Möglichkeit, dass sie auch “richtig” (angemessen, sachgerecht) sein könnten, schimmert aber an keiner Stelle durch. Man darf in diesem Buch nicht erwarten, dass das Weltbild der Autorin an irgendeiner Stelle auch nur ein bisschen ins Wanken kommt.
Man darf leider auch nicht erwarten, dass der mögliche Anteil von links-progressiv-aktivistischen Forderungen bzw. Einflussnahmen an der Rechtsverschiebung des gesellschaftlichen Klimas (selbst)kritisch analysiert wird. Wenn STARKEN auch so ziemlich jede Spur von möglicher Verursachung verfolgt: Den Blick für eine Mitverantwortung durch eine mögliche Überforderung der Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich des zugemuteten Wandels (z.B. bei der Berücksichtigung diverser Minderheitsgruppen) hat sie nicht.
Was bleibt ist ein informatives Sachbuch – mit einem persönlichen Touch – zu einem gesellschaftlich extrem relevanten Thema. Letzteres wird sich vermutlich leider – dieser Text wurde am 23.02.25 vor der Bekanntgabe der Ergebnisse der Bundestagswahl geschrieben – nicht so schnell verändern.
“Mein Ein und Alles” von Gabriel TALLENT

Es geht hier um einen in den USA und Frankreich sehr erfolgreichen Debüt-Roman eines kalifornischen Schriftstellers, den dieser nach achtjähriger Recherche 2017 im Alter von ca. 30 Jahren veröffentlichte. Das Buch wurde insbesondere daher stark beachtet und diskutiert, weil es den massiven und andauernden Missbrauch eines vorpubertären Mädchens durch ihren alleinerziehenden Vater in sehr eindringlicher und drastischer Form schildert.
Einem Roman, der sich der Macht- und Beziehungsdynamik einer gewaltsamen Missbrauchssituation und dem Leiden des ausgelieferten Opfers widmet, begegnen wohl viele potentielle Leser erstmal mit Interesse und Sympathie. Literarisch stellt sich die Frage, mit wieviel psychologischer Tiefgründigkeit die Persönlichkeit des Täters analysiert wird und wie feinfühlig und empathisch die körperlichen und seelischen Verletzungen des Opfers erlebbar gemacht werden.
Zunächst kurz zum Handlungsrahmen: Die Geschichte spielt in einem sehr ländlich-urwüchsigen Teil von Kalifornien, wo Vater und Tochter nach dem tragischen Tod der Mutter weit entfernt von einer urbanen Zivilisation leben. Im ersten Teil der Geschichte ist noch der (väterliche) Großvater in der nahen Umgebung präsent. Die Busfahrt zur Schule stellt für die junge Turtle die einzige Verbindung zur Außenwelt dar; sie ist allerdings dort nicht sozial eingebunden und letztlich ihrem einsiedlerisch lebenden Vater völlig ausgeliefert.
Der Autor konfrontiert uns sehr schnell mit der harten Wirklichkeit dieses Lebens in dieser Wildnis: Diverse Waffen bilden praktisch von der ersten Seite ab einen zentralen Bestandteil des Alltags und Turtle ist seit ihrer Kindheit im Umgang mit Messern und diversen Schusswaffen selbstverständlicher und besser vertraut als “normale” Altersgenossen mit ihrem Lieblingsspielzeug. Der waffenverliebte und ganz offensichtlich psychisch auffällige Vater bildet seine Tochter geradezu systematisch zu einer auf alle Eventualitäten vorbereitete Einzelkämpferin aus.
Aus fachlicher Sicht betrachtet steht im Zentrum dieser Missbrauchs-Konstellation die – sowohl für den Täter, als auch für das Opfer – unauflösbare Verquickung zwischen einer hoch-toxischen Form von pathologischer “Liebe” und massiver zerstörerischer Gewaltausübung bzw. Abhängigkeit. Ohne Zweifel ist gehört die Darstellung der lähmenden Ambivalenz dieser emotionalen Gefangenschaft, die dem Mädchen die Flucht aus ihrem Martyrium verunmöglicht, zu den Stärken dieses aufwühlenden Romans.
Der psychologische Einblick in die Täterpersönlichkeit fällt weniger überzeugend aus – zumindest, wenn man mehr verlangt, als eine eindeutige Darstellung einer gravierenden Persönlichkeitsstörung.
Der Schlüssel zu der Intensität der Schilderungen liegt in der geradezu physisch spürbaren Kraft der eingesetzten, extrem bildhaften, präzisen und gleichzeitig wortgewaltigen Sprache. TALLENT hat ein wirklich bemerkenswertes Talent (das Wortspiel bot sich an), Alltagsszenerien, intensive Naturphänomene und vor allem Gewalt (und ihre Folgen) in einer Plastizität auszumalen, dass sich einem die passenden Bilder geradezu zwangsläufig aufdrängen: Wozu so etwas verfilmen, wenn die Sprache schon alles fertig liefert?
Das Problem: Dem Autor selbst ist seine Begabung nicht verborgen geblieben! Statt diese allerdings wohl dosiert und dramaturgisch passend komponiert in seinen Plot einfließen zu lassen, leert TALLENT sein sprachliches Füllhorn in einer überschießenden Dauerberieselung über seine Leserschaft aus. Das Ergebnis: Ein chronisches Intensitäts-Overload!
So bietet z.B. der – für rechte USA-Gruppierungen typische – perverse Waffenfetischismus des Vaters sicher ein lohnendes Feld für eine knackige Darstellung; der Autor liefert uns allerdings auf hunderten Seiten eine permanente Konfrontation mit einem ganzen Arsenal von verschiedensten Schusswaffen – einschließlich ausführlicher Einblicke in Munitionssorten, Mechanik und Wartung. Ähnlich ungebremst verfährt der Autor mit Kampfszenen oder mit bestimmten Unbilden der Natur.
Kurz gesagt: TALLENT merkt nicht, wann es genug ist!
Natürlich gibt es in dem Handlungsverlauf eine Entwicklung, noch ein paar Nebenfiguren und einen Spannungsbogen. Schon nach den ersten Seiten wird niemand mehr überrascht sein, wenn ein paar der permanent präsenten Waffen in einem irgendwie gearteten Show-Down zum Einsatz kommen wird. Man wird – nach dem bisher Gesagten – nicht mit einem leisen und schnellen Ablauf rechnen können…
Wer (vorrangig) ein möglichst permanent hochgetriebenes Emotionserlebnis im leidvollen Bereich des psychischen und sexuellen Missbrauchs sucht, kann mit diesem kraftvollen literarischen Erstlingswerk möglicherweise glücklich werden. Viele andere Leser/innen werden darauf hoffen, dass TALLENT beim nächsten Versuch seine Begabung zurückhaltender, überlegter und zielgenauer einsetzt.
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“Wer bin ich und wenn ja, wie viele?” von Richard David PRECHT et al.

Viele werden sich erinnern: Das Ursprungs-Werk mit dem selben Titel hat 2007 die Karriere PRECHTs in Fahrt gebracht und ihn zum Star-Philosophen unserer Nation gemacht. Viele Bestseller und unzählige Medien-Auftritte später ist sein Renommee zwar nicht mehr ganz ohne Kratzer, einer Neuauflage seines Mega-Erfolges und einer Übertragung in das Genre der “Graphic Novel” stand das aber nicht im Wege.
Wenn man auch nur ein bisschen von PRECHTs Philosophie-Einstieg mitbekommen hat, wird man über den Inhalt dieses gezeichneten Potpourris aus Denkern und deren Ideen nicht überrascht sein. Auf der Suche nach dem ICH stolpert und poltert der Protagonist (der Autor ist wegen seiner unverwechselbaren Frisur unschwer zu erkennen) durch die Geschichte der Philosophie. Grundideen – wie Dualismus, Empirismus, das Unbewusste, Moral, Vernunft – werden genauso angesteuert wie eine illustre Reihe von Geistesgrößen (u.a. Platon, Kant, Descartes, Rousseau, Freud, Nietzsche).
Es reicht meist nur für kurze Begegnungen (Freud und Kant bekommen z.B. etwas mehr Text), aber eine gewisse Intensität kommt immer zustande.
Eines kann man diesem gezeichneten Philosophie-Trip ganz sicher nicht vorwerfen: dass er die andere Darstellungsform nur als Alibi-Begleitung für den textlichen Inhalt eingesetzt hätte. Im Gegenteil: Über weite Strecken des Buches wirkt die zeichnerische Ebene deutlich dominant. Das Zusammenspiel des Zeichners Martin MÖLLER und des Drehbuchautors Jörg HARTMANN hat eine dynamische und expressive Szenerie generiert, die insgesamt etwas Wildes, Rohes und Experimentelles ausstrahlt. Es wird weniger mit detaillierten Pinselstrichen als mit Aquarell-typischen großflächigen Darstellungen gearbeitet. Auf einer Reihe von Seiten findet sich überhaupt kein Text, nicht einmal eine ausgearbeitete Szenerie. Das Ganze ist monochrom gehalten und wirkt recht düster.
Ein Ersatz für die Textausgabe des Buches kann diese Graphic Novel ganz sicher nicht sein. Diesen Anspruch hat sie ganz sicher auch nicht. Die großen Fragen und Themen der Philosophie werden nur angerissen: die Zeitmaschine macht nur Stippvisiten.
Und doch erfährt der Reisende ein paar grundlegende Konzepte und bekommt einen Einblick in die verschiedenen Optionen der Selbsterkenntnis: Das eine, stabile und konsistente ICH scheint es eher nicht zu geben; dafür ist der Mensch wohl zu komplex und widersprüchlich…
In Bezug auf den Einstieg in die Philosophie kann dieses Buch eher neugierig machen, als dass es selbst befriedigende Antworten geben kann. Ob es als zeichnerisches Kunstwerk überzeugt, ist ganz sicher Geschmackssache. Da es sich ganz sicher nicht um einen gefälligen Zeichen-Stil handelt, wäre anzuraten, vor dem Kauf einen Blick ins Innere zu werfen. Sonst könnte die Abenteuerreise in die Denker-Welt von Anfang an erschwert werden.
“Dieses Buch verändert dein Leben für immer” von Martin WEHRLE

Der Journalist und Karriere-Berater WEHRLE hat schon eine ganze Reihe von erfolgreichen Büchern veröffentlicht, die bisher eher die Berufswelt zum Thema hatten. Mit dem hier vorgestellten Buch begibt sich der Autor auf den großen Markt der allgemeinen Lebenshilfe-Literatur; offenbar hat sich das ebenfalls für ihn gelohnt.
Zunächst fällt auf, dass dieses Buch aus 52 separaten Kurz-Beiträgen (sog. “Impulsen”) besteht, die nach einem wiederkehrenden Muster aufgebaut sind und jeweils nur einige Seiten umfassen. Es geht also kurz und knackig zur Sache. Jeder Veränderungs-Vorschlag steht für sich und könnte somit – theoretisch – mit jeder anderen Anregung beliebig kombiniert werden.
Der Autor verzichtet völlig auf einen verbindenden bzw. strukturierenden Rahmentext und entzieht sich dadurch der Aufgabe, die sehr heterogenen Anregungen bzgl. ihrer inneren Logik oder hinsichtlich der spezifischen Bedarfe bei der Leserschaft zu sortieren bzw. einzuordnen.
Inhaltlich bedient WEHRLE verschiedenste Ausgangslagen: Es geht um Menschen, die versagt sind, sich nichts zutrauen, in desolaten Beziehungen oder Berufssituationen stecken, es immer anderen recht machen wollen, in negativen Gedankenschleifen feststecken, keinen Blick für die Guten Seiten ihres Lebens haben, nie etwas Neues ausprobieren, immer alles aufschieben, immer Probleme und selten Lösungen sehen und sich nicht motivieren bzw. aktivieren können.
Also geht es irgendwie um uns alle…
Seine methodischen Anregungen holt sich der Autor vorwiegend bei der Positiven Psychologie und bei der Kognitiven Verhaltenstherapie. Tatsächlich geht es in den meisten Beiträgen um das “falsche” Denken – denn ein Schwerpunkt beider Ansätze liegt in der Bedeutung, die sie den (ungünstigen, dysfunktionalen) Gedanken beimessen. Immer wieder gipfelt das in so prägnanten Aussagen wie: “Egal, was in Ihrem Leben passiert, das Problem ist nie die äußere Wirklichkeit, sondern Ihre Bewertung.”
Der Autor holt sein Publikum nicht im psychotherapeutischen Wartezimmer oder im Forschungslabor ab: WEHRLE beginnt seine Kurz-Kapitel mit z.T. recht bekannten Geschichten aus historischen oder literarischen Quellen oder konstruiert selbst eine passende Ausgangssituation. Daraus destilliert der Autor dann den anvisierten Inhalt und bringt in in eine übersichtliche und prägnante Form. Er formuliert eine griffige Fragen und/oder gibt klare Hinweise bzw. Anweisungen; am Ende stehen jeweils “Drei Perlen” (also die die Quintessenz in Kurzform) und eine konkrete Beobachtungsaufgabe (“Mini-Challenge mit Maxis-Wirkung”).
Kommen wir zum Stil:
Bei WEHRLE wirkt alles wirkt sehr eindeutig und klar. Er ist kein Freund der Grautöne oder des “sowohl als auch”. Er macht gerne absolute Aussagen, gerne auch knackig zugespitzt.
Der Autor ist offensichtlich davon überzeugt, dass man Veränderungsmotivation am besten dadurch schafft, dass man Komplexität reduziert, pointiert formuliert und den Erfolg der jeweiligen Maßnahme als gesichert darstellt: Nur keinen Zweifel! Was man wirklich will, kann man auch schaffen! Jedes Problem hat auch gute Seiten! Mit der richtigen Art zu denken, bestimmen Sie ihr Glück selbst!
Für den Autor ist Zögern und Zaudern offenbar das größte Problem – stattdessen sollte man sich einfach entscheiden, das Richtige zu tun (also seine passenden Vorschläge einfach umzusetzen – er weiß ja, dass sie wirken).
Sicher findet jede/r in dem Sammelsurium von Einzeltipps Anregungen, die genau zu einem eigenen Thema passen. Ohne Zweifel finden sich eine Menge sinnvoller bzw. hilfreicher Tipps, die niemandem schaden und vielleicht genau den kleinen zusätzlichen Anschubs zu einer Entscheidung oder einer Verhaltensänderung geben, der bisher gefehlt hat. Und sicher ist es insgesamt eine gute Strategie, auf die Ressourcen (statt auf die Defizite) und auf die Lösungen (statt auf die Probleme) zu schauen. Optimismus kann motivieren!
Diese Form der Hau-Ruck-Lebenshilfe ist aber nicht frei von Unlogik, Risiken und Nebenwirkungen:
– Wenn Lösungen für das jeweilige Problem so klar auf der Hand liegen und für jedermann verfügbar sind, gibt es keinen akzeptablen Grund mehr, nicht zuzugreifen. Ein Problem zu behalten, für das es eine offensichtliche Lösung gibt, erscheint dann geradezu dumm oder zumindest unentschlossen. Wie fühlt sich das an?
– Hinter der Kernüberzeugung von WEHRLE, man könne sich jederzeit für andere Gedanken bzw. Verhaltensweisen entscheiden, steckt ein extrem vereinfachtes und objektiv falsches Menschenbild: Er tut so, als ob das Entscheiden bzw. Entscheiden-Können eine isolierte Fähigkeit wäre, die von biografischen Prägungen und Erfahrungs- bzw. Lerneinflüssen völlig unabhängig wäre. Als ob es nur das Lesen von ein paar Textseiten bedürfe, um fest in die Persönlichkeit und seine Neuronalen Netz eingewobene Muster zu durchbrechen und den Entscheidungs-Schalter mal eben in die andere Richtung zu kippen. Was muss ich für ein Versager sein, wenn ich das nicht hinbekomme?
– Wie es diese Art Selbsthilfe-Rezeptbücher gerne tun, greift auch dieser Autor immer wieder auf – mehr oder weniger spektakuläre – Einzelbeispiele zurück, in denen Menschen ihr (bis dahin schwieriges Schicksal) hinter sich lassen, ihr Leben mutig in die Hand nehmen und erfolgreich bzw. glücklich werden. Von den vielen anderen (sicher der Mehrheit), die diesen wundersamen Aufstieg aus desolaten Verhältnissen nicht schaffen, ist nie die Rede. Also mal wieder selbst schuld!
– Die Machbarkeits-Ideologie lässt den angemessenen Respekt vor schädigenden bzw. einschränkenden Lebensbedingungen und individuellen psychischen, emotionalen bzw. kognitiven Strukturen völlig vermissen. Alles ist ja relativ, eine Frage der Bewertung und durch Entscheidungen überwindbar. Auf welchen Knopf muss ich drücken, um z.B. eine durch Vernachlässigung erworbene Bindungsstörung zu überwinden? Woher bekomme ich die Zuversicht und die Entschlusskraft, mich z.B. in eine Therapie zu begeben?
– Auch die gebetsmühlenartig wiederholte These, dass jedes nach so große Unheil immer auch Chancen eröffne und sich letztlich sogar als Vorteil erweisen könne, wird der Dramatik und Tragik bestimmter Lebensereignisse und Schicksalsschläge nicht gerecht. Das absurdeste Beispiel: Ein überraschender Hinauswurf aus der geliebten Mietwohnung führt dazu, dass ich mich in dem daraufhin gekauften Haus dann noch wohler fühle. Genau so funktioniert unsere Welt…
Vermutlich weiß der Autor, das das Leben komplexer ist als seine Instant-Tipps. Manchmal deutet er auch an, dass Veränderungen Zeit und Mühe kosten. Aber die Entscheidung für einen neuen Weg ist – seiner Überzeugung nach – immer möglich.
Manche Menschen wird er mit diesem marktschreierischen Optimismus ohne Zweifel erreichen. Für die kann so ein Buch genau richtig sein.
Das Problem besteht wohl darin, dass sich viel andere nicht nur unverstanden fühlen, sondern sich selbst – und nicht unhaltbaren Versprechungen des Autors – die Verantwortung für ein Nichtgelingen zuschreiben könnten. Das wäre dann eine Ent- statt einer Ermutigung.
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