Willkommen im Buch-Blog “Weltverstehen”

WELTVERSTEHEN ist jetzt BUCH-BLOG und Web-PROJEKT

Ich stelle “Wissensbücher” vor und begründe meine Bewertung ihrer Qualität und ihres Nutzens.
Schwerpunktmäßig sind das Sachbücher; gelegentlich aber auch Romane, die zum Verständnis unseres Daseins beitragen können.

Hier werden alle Beiträge chronologisch angezeigt.
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“See der Schöpfung” von Rachel KUSHNER


























Bewertung: 3 von 5.

Es gibt Bücher, bei denen man sich nach der Lektüre beinahe schuldig fühlt, weil man den allgemeinen Begeisterungssturm nicht teilen kann. Wenn ein Werk von der Literaturkritik mit Lob überhäuft und für namhafte Preise nominiert wird, wächst der Druck, sich diesem Urteil anzuschließen. Und das eigene abweichende Urteil löst Zweifel aus: Hat man etwas übersehen? Oder ist man einfach nicht empfänglich für den besonderen Ton, den diese Literatur anschlägt?

Im Zentrum dieses Romans steht eine Ich-Erzählerin, die im Auftrag einer privaten Organisation eine Gruppe französischer Umweltaktivisten infiltriert. Die 34-jährige Sadie hat ihr Handwerk einst beim FBI gelernt. Ihre Tarnungen sind perfekt, ihre Loyalität gilt einzig dem Auftraggeber (und ihrem Honorar) – moralische Bedenken oder gar Skrupel kennt sie nicht. Diese Konstellation eröffnet eine reizvolle Prämisse: eine Agentin ohne ethischen Kompass, die sich auch persönlichste Beziehungen strategisch zunutze macht, um ihre Ziele zu erreichen.

Bemerkenswert ist, mit welcher Detailtreue und psychologischen Tiefe einige Mitglieder der Aktivistengruppe beschrieben werden – besonders eine Figur sticht durch ihre radikale Entwicklung hervor. Der Text erlaubt Einblicke in extreme Rückzugs- und Fantasiewelten, die weit über das hinausgehen, was man als bloße politische Radikalisierung verstehen würde. Eine zusätzliche Ebene bringt die spekulative Idee ins Spiel, die Welt hätte sich womöglich ganz anders entwickelt, wenn sich nicht der Homo sapiens, sondern der Neandertaler durchgesetzt hätte. Alte Mythen des Landstrichs, in dem die Handlung spielt, dienen als Projektionsfläche für diese evolutionäre Alternativgeschichte.

Auch sprachlich hebt sich der Roman zweifellos vom Mittelmaß der Unterhaltungsliteratur ab. Der Stil ist anspruchsvoll, pointiert, gelegentlich philosophisch grundiert.
Und doch bleibt der Gesamteindruck zwiespältig. Die einzelnen inhaltlichen Ebenen – politische Milieustudie, persönliche Tragödien, anthropologische Spekulation – greifen zwar textlich ineinander, ergeben aber letztlich kein überzeugendes kohärentes Ganzes.
Die Protagonistin bleibt durch ihr berechnendes, empathieloses Verhalten schwer zugänglich, fast schon abstoßend. Die Darstellung der Aussteiger-Szene changiert zwischen Romantisierung und Kritik, findet jedoch keinen klaren Standpunkt. Der Einfluss gescheiterter Lebenswege, Alkohol- und Drogenmissbrauchs wird nicht verschwiegen; gemischt werden diese Aspekte in einer wenig überzeugenden Weise mit einem stabilen antikapitalistischen gesellschaftliche Gegenentwurf.

So bleibt ein Buch, das sich bewusst vom literarischen Mainstream absetzt, aber in seiner etwas zerrissen wirkenden Komplexität nicht restlos überzeugt. Thematisch und sprachlich anspruchsvoll, ja – aber nicht in dem Maße bemerkenswert, wie es der Konsens der literarischen Kritikerszene vermuten lässt.

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“Parts Per Million” von Theresa HANNIG

Bewertung: 2.5 von 5.

(Achtung: Spoiler-Warnung! Einigen könnten in dieser Rezension die Hinweise auf den Handlungsverlauf zu weit gehen; wer sich den Spannungsbogen in vollem Umfang erhalten möchte, sollte die Rezension vielleicht eher im Nachhinein lesen und mit dem eigenen Eindruck abgleichen.)

Theresa Hannigs neuer Roman “Parts Per Million” knüpft erzählerisch an die reale Situation der Autorin an: Ein Folgeprojekt ihres erfolgreichen Romans („Pantopia“) steht aus, Inspiration ist rar. Dann gerät die Ich-Erzählerin zufällig in eine Protestaktion von Klimaklebern. Was zunächst wie eine bedeutungslose Episode erscheint, entwickelt sich zur Initialzündung für eine weitreichende persönliche Transformation, die das Privat- und Familienleben der Protagonistin völlig durcheinanderwirbelt.

Die Protagonistin tastet sich zunächst neugierig und beobachtend an die Szene heran, beginnt zu recherchieren und lässt sich zunehmend hineinziehen in eine Welt, in der moralische Dringlichkeit und politischer Aktionismus eine explosive Mischung eingehen. In mehreren Stufen wandelt sich ihre Rolle: Von der interessierten Außenstehenden zur aktiven Mitstreiterin bis hin zur zentralen Figur einer radikalisierten Gruppierung, die mit immer drastischeren Mitteln gegen die “Klimakiller” unserer Gesellschaft vorgeht.

HANNIG strukturiert ihren Roman auch als warnende Aufklärung: Jedes Kapitel beginnt mit einer realen, alarmierenden Klimanachricht – ein erzählerisches Stilmittel, das die – unzweifelhafte – Dringlichkeit des Themas betont. Im Zentrum steht jedoch nicht der Klimawandel selbst, sondern die Frage, wie weit Aktivismus gehen darf bzw. vielleicht auch muss.
Zunächst dominiert das Ideal der Gewaltfreiheit, doch mit wachsender Frustration über die Wirkungslosigkeit symbolischer Aktionen verschiebt sich das moralische Koordinatensystem der Gruppe zunehmend. Gewalt wird nicht nur als Mittel zur Aufmerksamkeitserzeugung eingesetzt, sondern auch als eine Art Erziehungsmittel (Strafe) und zur Erzeugung konkreter Angst („ich könnte der Nächste sein“). Wirklich erschreckend ist jedoch die Radikalität, mit der die physische Ausübung der Gewalt als emotional befriedigend beschrieben wird.

An dieser Stelle beginnt der Roman problematisch zu werden. Die Grenzverschiebung in Richtung Gewalt wird erzählerisch kaum kritisch begleitet, sondern nimmt Züge einer geradezu sadistischen Gewaltorgie an.
Zwar wird ganz am Ende ein Kontrollverlust – und somit ein Scheitern der Strategie – dargestellt, eine inhaltliche Reflexion über Schuld, Verhältnismäßigkeit oder moralische Grenzen bleibt aber weitgehend aus. Weder wird diskutiert, inwieweit einzelne Akteure allein durch autonome „Willensentscheidungen“ – also im engeren Sinne „schuldhaft“- zu schädlichem (Klima-)Handeln veranlasst werden, noch ob und wann auch brutalste Gewalt gegen Personen auf einer höheren ethischen Ebene legitimierbar sein könnte.

Auch die Entwicklung der Hauptfigur wirkt da an entscheidenden Stellen konstruiert. Die Entwicklung von einer gutmeinenden und verantwortungsvollen linksliberalen Autorin und Mutter zur brutalen Akteurin in einer klimakämpferischen Terrorzelle bleibt psychologisch wenig überzeugend. Hier fehlt es an innerer Logik und Tiefe, um diese Wandlung wirklich nachvollziehbar zu machen; ohne den Bezug auf entsprechende biografische Prägungen wirkt das Ganze sehr unglaubwürdig.

Was als spannender Beitrag zur Diskussion um Klimaaktivismus begonnen hatte, verliert sich zusehends in einem erzählerischen Extremismus, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. “Parts Per Million” ist ein aufrüttelndes, aber letztlich unausgewogenes Buch, das die moralischen Dilemmata des militanten Aktivismus zwar aufgreift, sie aber erzählerisch nicht zu Ende denkt. Die notwendige Balance zwischen Empathie, Analyse und Kritik bleibt auf der Strecke. Vielleicht ist das alles genau so gewollt – aber schwer verdaulich und unausgegoren ist es trotzdem.
Mit viel gutem Willen kann man den Roman zwar durchaus als provokante Mahnung und Warnung vor dem Phänomen des Öko-Terrorismus betrachten; er lässt das Publikum aber an entscheidenden Stellen ziemlich ratlos zurück. Stellenweise liest sich der Text wie eine konkrete Anleitung zu organisierter Klima-Militanz – inklusive Social-Media-Strategie. Warum sich HANNIG dann auch noch so detailliert in Gewaltlust-Szenarien hineinsteigert, bleibt ihr Geheimnis.
An diesen Irritationen kann auch das persönliche Nachwort der Autorin nichts mehr ändern.

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“Der Mensch im Tier” von Norbert SACHSER

Bewertung: 5 von 5.

Manchmal begegnet man einem Buch, bei dem man als Rezensent eigentlich nur eines möchte: Fünf Sterne zücken und den Rest sich sparen. Norbert SACHSERs Werk “Der Mensch im Tier” ist genau so ein Fall. Es liefert eine beeindruckend umfassende und dabei wunderbar zugängliche Darstellung der verhaltensbiologischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte – ohne akademische Hürden, aber auch ohne oberflächliche Vereinfachungen.

SACHSER gelingt hier ein Glanzstück des Wissenschaftsjournalismus: gut strukturiert, detailreich und mit einem Tiefgang, der nie ins Spezialistentum abgleitet. Stattdessen nimmt er seine Leserschaft mit auf eine Reise durch die Tierwelt, bei der sich altbekannte Vorstellungen Schritt für Schritt als überholt erweisen. Tiere, das wird hier deutlich, sind weitaus kompetenter, komplexer und – ja – auch individueller, als es noch vor wenigen Jahrzehnten selbst in Fachkreisen angenommen wurde.

Ob es um Problemlösen, Werkzeuggebrauch, Denkprozesse, Kommunikation oder moralische Intuitionen geht – SACHSER zeigt anhand zahlreicher Beispiele, wie sehr sich das Bild von unseren tierischen Mitgeschöpfen gewandelt hat. Dabei ist besonders faszinierend, dass diese Fähigkeiten nicht nur bei den “üblichen Verdächtigen”, also höheren Säugetieren oder Primaten, beobachtet wurden, sondern auch in der Vogelwelt – deren Intelligenz auf einem evolutionär ganz anderen Weg entstanden ist. Die Vorstellung, dass die Natur verschiedene Pfade zur Intelligenz eingeschlagen hat, ist nicht nur spannend, sondern auch erkenntnistechnisch revolutionär.

Das Buch ist reich an Beispielen für verblüffendes Tierverhalten und die kreativen Methoden, mit denen diese wissenschaftlich untersucht werden. Und erfreulicherweise verzichtet der Autor auf Selbstdarstellung oder biografische Abschweifungen – hier steht der Forschungsstand im Mittelpunkt, nicht der Forscher.

Kurz: Der Mensch im Tier ist ein vorbildlich geschriebenes Sachbuch, das man nicht nur mit Gewinn liest, sondern gerne auch ein zweites Mal aufschlägt. Für alle, die sich für Evolution, Biologie und die großen Fragen nach dem, was uns wirklich von anderen Tieren unterscheidet – oder mit ihnen verbindet –, ist dieses Buch ein echter Volltreffer.

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“Die Vermessung unserer Gefühle” von Dr. Jesus MARTIN-FERNANDEZ”

Bewertung: 4 von 5.

Wie viel kann man aus einem geöffneten Gehirn über den Menschen erfahren? Eine ganze Menge – zumindest, wenn man dem jungen, engagierten Neurochirurgen Jesus MARTIN-FERNANDEZ folgt, der mit seinem Buch nicht nur einen faszinierenden Einblick in die moderne Gehirnchirurgie gibt, sondern auch ein leidenschaftliches Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der neurologischen Medizin formuliert. Dabei geht es ihm nicht nur um den Fortschritt in der praktischen Arbeit, sondern um nicht weniger als ein erweitertes Verständnis des komplexesten Zellhaufens, den die Evolution auf diesem Planeten jemals hervorgebracht hat.

In klarer, auch für Laien verständlicher Sprache schildert er eine hochspezialisierte OP-Technik, bei der Patienten während der Tumorentfernung wach bleiben. Elektrische Reize, kognitive Aufgaben, Bewegungsübungen und emotionale Erkennungstests – das OP-Team beobachtet dabei, wie das Gehirn auf Stimulationen reagiert, um jene Regionen zu identifizieren, die für essentielle Funktionen zuständig sind. Nur was keine kritischen Ausfälle provoziert, wird entfernt – auch wenn Tumorreste verbleiben müssen. Der Gewinn an Lebensqualität ist beachtlich.

Diese „funktionelle Kartografie“ widerspricht dem klassischen Bild lokalisierter Funktionszentren. Martin-Fernandez stellt diesem überkommenen Konzept ein neues, dynamisches Verständnis entgegen, das er anhand zahlreicher Fallbeispiele eindrücklich belegt. Dabei gelingt ihm der Spagat zwischen wissenschaftlicher Präzision und erzählerischer Zugänglichkeit – ein echtes Lehrstück für Wissenschaftskommunikation.

Doch das Buch ist mehr als ein medizinischer Erfahrungsbericht. Es ist auch das Selbstporträt eines jungen Arztes, der von einer Idee und einer Mission getrieben ist – und dem es gelungen ist, in wenigen Jahren zu einer international gefragten Kapazität seines Fachs zu werden. Martin-Fernandez gewährt intime Einblicke in seine berufliche Entwicklung, seine internationalen Konferenzerfahrungen und die Belastungen des Klinikalltags. Seine Aufzeichnungen – von ihm selbst mehrfach Tagebuch genannt – wurden oft geschrieben in Momenten größter Erschöpfung nach stundenlangen Operationen oder Fachvorträgen – und wirken dadurch direkter und authentischer als ein Schreibtisch-Text.

Diese Intensität seines beruflichen Engagements allein wäre schon bemerkenswert. Doch Martin-Fernandez überrascht noch mit einer weiteren Facette: Parallel zu seiner Karriere in der Medizin absolviert er eine Ausbildung zum Dirigenten, produziert musikalische Werke für Opernaufführungen. Auch hier ist Perfektion sein Maßstab, Kreativität sein Antrieb. Es entsteht das Porträt eines Menschen, der mit kaum versiegender Energies zwischen Wissenschaft und Kunst pendelt – hochintelligent, hochkreativ, hochproduktiv.

Allerdings hat dieser Tagebuchcharakter auch seinen Preis. Die Begeisterung des Autors für seine Tätigkeit ist so überbordend, dass zentrale Thesen und Prinzipien in einem Maße wiederholt werden, das mitunter auch den gutwilligsten Leser nerven wird. Bereits nach dem ersten Drittel des Buches hat man das Gefühl, die Kernaussagen auswendig zu kennen. Hier hätte ein Lektorat straffer eingreifen können – oder sollen.
Überhaupt: Der Autor kratzt immer wieder mal an der Grenze zum “too much” – es ist eben ein sehr persönliches Werk – kein neutrales Sachbuch. Und der Autor selbst steht immer wieder im Zentrum der Betrachtungen.

Doch bei aller Kritik fällt es schwer, dem Autor daraus ernsthaft einen Vorwurf zu machen. Denn immer wieder öffnet er dem Leser emotionale Räume, spricht respektvoll und fast zärtlich über seine Patienten und seine Helfer im OP-Team. Seinen wissenschaftlichen Widersachern (Vertretern der fest lokalisierten Gehirnzentren) begegnet er mit Respekt – allerdings auch mit der Überzeugung, den wissenschaftlichen Fortschritt auf seiner Seite zu wissen. Auch die Hochachtung, die er seinem Mentor entgegenbringt, verleiht dem Text eine besondere menschliche Tiefe.

Am Ende bleibt ein Buch, das eine ungewöhnliche Mischung bietet – aus wissenschaftlicher Innovation, persönlicher Leidenschaft und intensiver Selbstreflexion. Wer bereit ist, die wirklich ausgeprägte Redundanz zu ertragen, wird mit einem Leseerlebnis über „menschliche Medizin“ belohnt, das sowohl informiert, intellektuell stimuliert als auch emotional berührt.


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“Das Ministerium der Zeit” von Kaliane BRADLEY

Bewertung: 3.5 von 5.

Zeitreisen waren schon immer ein dankbares Szenario für alle Arten von Zukunftsromanen. Immer wieder reizten – neben den technischen Visionen – auch die hochphilosophischen Spekulationen darüber, ob man durch Interventionen in der Vergangenheit Einfluss auf die Gegenwart nehmen könnte.

BRADLEY wählt einen recht individuellen und kreativen Weg in die Thematik:
Sie konstruiert einen Plot, in dem eine junge Frau (die Ich-Erzählerin) als Angestellte einer britischen Regierungsbehörde die Aufgabe hat, einen Zeitreisenden (den Polarforscher Graham Gore) eine Weile zu betreuen. Zusammen mit einigen anderen Personen (aus anderen historischen Epochen) wurde er unfreiwillig Versuchsperson in einem einmaligen Geheim-Experiment.
Aus dem Jahre 1847 wird Graham in das London des 21. Jahrhunderts katapultiert und bekommt – neben einer offiziellen fachlichen Behandlung – eine private Alltagsbegleitung. Die Protagonistin dieses Romans ist diese “Brücke” (zwischen dem im 19. Jahrhundert geprägten Offizier und der Moderne).

Der Roman wird auf der einen Seite durch einen Handlungsstrang getragen, in dem sich die Vorgänge in der staatlichen Behörde und zwischen den Zeitreisenden und ihren Begleitern in einer zunehmend komplexen Form kreuzen und schließlich heftig eskalieren.
In wie weit diese ganzen Entwicklungen inhaltlich und logisch überzeugend sind, soll hier nicht weiter kommentiert werden. Zweifel sind aber angebracht…

Der eigentliche Reiz des für diese Story gewählten Kontextes liegt aber auf einer anderen Ebene (und soll wohl dort auch liegen): Die Autorin interessiert sich für die psychologische und emotionale Dynamik, die sich bei den Zeitreisenden selbst und zwischen ihnen und ihren (sehr privaten) Betreuern abspielt.
Was bedeutet es wirklich – so fragt man sich auch als Leser/in – von einem Moment zum anderen in eine völlig andere historische Wirklichkeit zu geraten – und dort so ziemlich alle Selbstverständlichkeiten zu verlieren, die das bisherige Leben und damit auch die eigene Identität getragen haben?

Die Vorfreude auf die Schilderung einer solchen extremen Irritation und auf die Beschreibung der kaum zu überschätzenden Herausforderung an die Anpassungsleistungen eines psychischen Systems – diese Erwartung wird nur in geringem Umfang erfüllt. Man gewinnt sehr schnell den Verdacht, dass die Vorstellungskraft und/oder die sprachlichen Möglichkeiten der Autorin einfach nicht ausreichen, um wirklich nachvollziehbar zu machen, wie tief der innere Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Fühlen und Denken von Graham ist.
So bleiben – bei allen vorhandenen Ansätzen – die Fragen nach seinem inneren Erleben weitgehend offen: Der Bruch mit dem gelebten Sein bzw. die Integration der neuen Erfahrungen gelingt dem Zeitreisenden erstaunlich schnell. Und natürlich bezieht sich diese Eingewöhnung letztlich auch auf die ganz persönliche Beziehung zwischen Graham und seiner “Brücke”.

So ganz überzeugend ist dieser Roman also auf beiden Analyseebenen nicht.
Das ist insbesondere deshalb ein wenig schade, weil die Grundidee wirklich eine Menge Potential in sich trägt.
Das könnte auch ein Grund dafür sein, sich dem Buch – trotz seiner Schwächen – mit Interesse zuzuwenden: Er verschafft eine Menge Anlass, sich selbst Gedanken über diese extrem ungewöhnliche Situation zu machen. Was spricht dagegen, auch solche Wege weiterzudenken, die von der Autorin nicht gegangen werden?

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“Wie KI dein Leben besser macht” von Franz HIMPSL und Dirk von GEHLEN

Bewertung: 3.5 von 5.

Manchmal stellt sich bei einer Buchbesprechung die Aufgabe, über die – durchaus vorhandenen – Qualitäten eines Buches schreiben zu müssen, das bei einem selbst eher Enttäuschung hervorgerufen hat.
Das KI-Buch von HIMPSEL/von GEHLEN ist dafür ein Beispiel.

Fangen wir mit den Enttäuschungen an:
Für meinen Geschmack verfehlt dieses Buch, das zum “Ausprobieren und Weiterdenken” anregen soll, das Gleichgewicht zwischen allgemeinen, eher abstrakten Betrachtungen auf der einen – und den “50 klugen Impulsen zu den praktischen Potentialen von KI” auf der anderen Seite.
Anders formuliert: Für Leser, die wirklich ins Tun kommen wollen, wird erheblich zu viel über KI geplaudert und erheblich zu wenig konkrete Anleitung gegeben. So dauert es z.B. geschlagene 40 Seiten, bis der erste praktische Tipp spendiert wird: Man solle beim “Prompten” am besten selbst ausprobieren und experimentieren.
Für den ein oder anderen mag das an dieser Stelle schon ein wenig die Geduld strapaziert haben – für ein doch recht dürftiges Ergebnis…

Die insgesamt 50 Kurz-Kapitel spannen einen weiten Schirm auf, unter dem sich ganz unterschiedliche Aspekte von KI-Anwendungen versammeln können. Diese Perspektiv-Vielfalt ist erstmal vielversprechend. Gelegentlich zweifelt man aber schon an der thematischen Stringenz, wenn man sich plötzlich einer Kurzeinführung in das Konzept der “Emotionalen Intelligenz” ausgesetzt sieht oder man mit der erstaunlichen Erkenntnis konfrontiert wird, das Schreiben dabei hilft, unsere Gedanken zu strukturieren.

Und die Stärken des Buches?
Das Buch bietet einen (extrem) niederschwelligen Zugang zur Welt der Künstlichen Intelligenz. Es wurde offenbar für Menschen geschrieben, die noch ein wenig unentschieden hinsichtlich der Frage sind, ob sich eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Thema auch für sie lohnen könnte. Die Heranführung an den technischen Aspekt der KI wird geradezu in homöopathischer Dosierung verabreicht. Nach dem Motto: Bloß keine Widerstände wecken, sonst wird das Buch vielleicht sofort entsorgt!
Die Annäherung an KI erfolgt eindeutig aus einer kultur- bzw. geisteswissenschaftlichen Perspektive: Erstmal vorsichtig das Umfeld erkunden, einen kontextuellen Rahmen schaffen, Ängste abbauen. Dann in ganz kleinen Schritten anfangen…
Und siehe da: Es tut überhaupt nicht weh!
Man könnte diese Herangehensweise als eine Art “Systematische Desensibilisierung” für potentielle KI-Phobiker betrachten: Wenn man so nett und harmlos über seine Sache schwadronieren kann, dann kann es so schlimm nicht werden.

Ja, es gibt auch auch auf der praktischen Ebene ein paar interessante Anregungen. Hier lugt dann das Vorhaben der Autoren um die Ecke, den Alltagsbezug der KI auch für Anfänger fassbar und nachvollziehbar zu machen.
So kann man z.B.:
– die gleiche Frage mehrfach dem gleichen oder parallel verschiedenen Chatbots stellen,
– einen Chatbot als Sparring-Partner bei kontroversen Fragen nutzen,
– mit wenig Aufwand spezialisierte Chatbots für individuelle Zwecke bauen,
– Texte zusammenfassen, strukturieren oder sich vorlesen lassen,
– sich durch spezielle Tools seine Stimme klonen lassen oder aus seinen Texten kleine Podcasts herstellen lassen,
– usw.
Vermutlich schaffen es die Autoren mit diesen insgesamt 50 Angeboten, bei jedem Leser bzw. jeder Leserin irgendwo anzudocken.

Und das Resümee:
HIMPSL und von GEHLEN haben einen gefälligen und unterhaltsamen Hemmschwellen-Abbauer für das Thema der Stunde geschrieben. Die dafür passende Zielgruppe lässt sich schnell definieren. Anzumerken bleibt aber auch hier, dass die Autoren auf dem Weg zur praktischen Umsetzung keine Hilfen – in Form von konkreten Anleitungen – bereitstellen. Die Vorbereitung findet eher auf der Ebene von Haltungen und Motivation statt – nicht auf der (technischen) Handlungsebene.
Für Menschen, die schon eine Weile in der KI-Welt unterwegs sind, eignet sich dieses Buch ganz eindeutig nicht.

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“Die Evolution der Gewalt” von Harald MELLER et al.

Bewertung: 4 von 5.

Dies ist eines der Bücher für Menschen, die alles ganz genau wissen wollen.
Den drei Autoren (Historiker, Archäologe, Verhaltensforscher) würde es leicht fallen, ihre Kern-Erkenntnisse und Basis-Aussagen in einem Thesenpapier oder in einem kurzen Artikel nachvollziehbar darzustellen. Tatsächlich tun sie genau das an mehreren Stellen Ihres Textes und letztlich auch in ihrem Manifest-artigen Schlusskapitel.
Warum schreiben sie stattdessen ein 360-Seiten-Buch?
Weil sie ganz offenbar ein leidenschaftliches Interesse daran haben, jede ihre Aussagen und Schlussfolgerungen mit möglichst vielen und detaillierten Indizien und Fakten zu untermauern. Es geht Ihnen darum, nicht nur Ergebnisse zur kriegerischen Natur des Menschen darzubieten (wenn das auch vermutlich das Hauptziel war), sondern sie haben sich der Mission verschrieben, auch den mühsamen Weg der wissenschaftlichen Erkundung in allen Facetten zu beschreiben.
Und weil sie alles so akribisch und faktenverliebt ausführen und dabei auch immer wieder in die größeren Zusammenhänge einordnen, setzen sich die einzelnen Bausteine Ihrer Argumentationskette dann letztlich – wie im Untertitel erwähnt – zu einer (themenspezifischen) Menschheitsgeschichte zusammen.

Auf zwei Haupt-Pfaden verfolgen die Autoren die Spuren von Gewalt und Krieg:
– Als evolutionäre Anthropologen erkunden sie die biologischen Wurzeln unserer Spezies, auch auf dem Hintergrund unserer Verwandtschaft zu anderen Primaten.
– Aus zahlreichen archäologischen (später auch kulturellen) Zeugnissen entwickeln sie eine (in sich kohärente) Theorie der Gewalt- und Kriegsbereitschaft des Menschen.

Wie schon angedeutet: Es werden keine fertigen Hochglanzbilder präsentiert. Stattdessen schaut man zahlreichen weltweit tätigen Spezialisten förmlich dabei zu, wie sie aus winzigen Bruchstücken (z.B. Skelettfunden, Grabbeigaben und ersten Zeichnungen) ein zunehmend feiner strukturiertes Mosaik über die Rolle spontaner oder organisierter Gewaltausübung in der Menschheitsgeschichte zusammenfügen. Im wahrsten Sinne eine “Knochenarbeit”!

Die eigentliche Arbeit der Autoren lag darin, die kaum zu übersehende Zahl von Einzel(be)funden zu einer stimmigen Gesamt-Theorie zu bündeln.
In aller Kürze könnte sie lauten:
Über den weitaus größten Teil seiner Evolutionsgeschichte war der Mensch zwar kein gewaltfreies Wesen, aber er lebte ganz offensichtlich in recht egalitären und kooperativen Gemeinschaften, weitestgehend ohne organisierte Gruppengewalt. In dieser Hinsicht unterschied er sich offenbar eindeutig von seinen Vettern, den Schimpansen.
Zu einer wahrhaft kriegerischen Spezies entwickelte sich der Mensch durch die Veränderung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Strukturen im Rahmen von allmählicher Sesshaftigkeit, Arbeitsteilung, Eigentumsbildung, Machtkonzentration und patriarchalen Gesellschaftsregeln
. Das alles spielte sich in den letzten 10 000 Jahren ab – also einem winzigen Bruchteil unserer Entwicklungsgeschichte.
Die Autoren weigern sich hartnäckig, aus dieser “Momentaufnahme” auf die grundlegende – und damit unveränderliche- kriegerische Natur des Menschen zu schließen – zudem der teilweise atemberaubenden Grausamkeits-Verherrlichung auch gegenläufige kulturelle Strömungen entgegenstehen.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass der Text – obwohl gut lesbar und didaktisch gekonnt geschrieben – gelegentlich auch Herausforderungen beinhaltet. Nicht jeder Leser wird sich wiederholt für die exakten Ausprägung von Spuren interessieren, die vermeintliche Waffen in Knochenfragmenten hinterlassen haben. Nicht jede Leserin wird Gefallen daran finden, gezeichnete oder schriftlich überlieferte Grausamkeits-Rituale exakt geschildert zu bekommen. Manchmal hat Detailverliebtheit auch einen Preis…

Dass die Autoren sich nicht nur ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten und Sichtweisen präsentieren wollen, zeigt sich in ihren abschließenden “Zwölf Lektionen”: Dort fassen sie nicht nur ihre Befunde zusammen, sondern leiten daraus auch den Appell ab, sich den erkannten Einflüssen und Dynamiken in Richtung “Normalisierung des Krieges” engagiert zu widersetzen. Aus ihrer Sicht stehen die Chancen für diesen Weg gar nicht schlecht – weil wir eben nicht gegen eine unveränderliche kriegerische Natur ankämpfen müssen.
So kann dieses Buch nicht nur Wissen erweitern, sondern im besten Fall auch zum Einsatz für eine friedlichere Welt ermutigen.

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“Neurowissenschaften in der Kritik” von Eileen WENGEMUTH

(Vorbemerkung: Ich vergebe in dieser Rezension keine Sterne-Bewertung. Das wäre in sofern unfair, als dass ich hier eine wissenschaftliche Publikation (Dissertation) mit den (unpassenden) Maßstäben eines populärwissenschaftlichen Sachbuchlesers betrachte.
Meine Ausführungen zu dieses Buch sind daher in keiner Weise als Kommentierung der wissenschaftlichen Qualität zu verstehen.)

In dem spannenden Forschungsfeld zwischen Philosophie, Psychologie und Biologie gibt es kaum eine vergleichbar faszinierende Disziplin wie die Neurowissenschaft. In den letzten 20 – 30 Jahren hat sie auch in der Öffentlichkeit ein großes Interesse auf sich gezogen; dabei sind gelegentlich auch Kontroversen um die Deutungshoheit in grundsätzlichen Fragestellungen bekannt geworden.

Die Psychologin WENGEMUTH hat sich die Aufgabe gestellt, die Kritik an den so populären Neurowissenschaften in systematisch-wissenschaftlicher Form zu untersuchen. Dafür nimmt sie zunächst eine Literaturanalyse vor, die sie nach den von HOLZKAMP (1983) im Rahmen seiner “Kritischen Psychologie” konzipierten Kategorien gliedert.
Sie führt dann Experteninterviews mit 13 Neurowissenschaftlern (davon vier Frauen) aus Deutschland (10) und England (3) durch, die sie entsprechend ihrer Fragestellung und der gewählten Methodik auswertet. In diesen Befragungen will die Autorin erkunden, welchen Stellenwert die gesammelten Kritikpunkte im Forschungs- bzw. Arbeitsalltag der Wissenschaftler haben.

Die Bereiche der Kritik wurden wie folgt unterschieden:
– philosophische Aspekte (unklare Beziehung bzw. Kausalitäten zwischen mentalen und neurologischen Prozessen, widersprüchliche Dualismus-Konzepte, ungeklärte Rolle der Willensfreiheit)
– gesellschaftstheoretische Fragen (implizite Verstärkung von Machtverhältnissen und Ungleichheit; einseitig naturalistische Konzepte, Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs)
– Ebene der Konzepte und Begriffe (sprachliche und inhaltliche Unklarheit; mangelnde Güte der Operationalisierungen, salopper Umgang mit Metaphern)
– einzeltheoretische Punkte (insbesondere Methodenkritik)
Die einzelnen Themenbereiche werden von der Autorin mit einer bemerkenswerten Tiefe und Differenziertheit untersucht, die in dieser Genauigkeit von keinem “normalen” Sachbuch zu erwarten wäre. In dieser analytischen Aufarbeitung liegt ganz eindeutig die Stärke dieser Arbeit; sie lässt sich gut als Grundlage für zukünftige Diskussionen nutzen.

Es stellt sich insgesamt heraus, dass es keine einheitliche Haltung der Praktiker/innen zu den verschiedenen Kritikbereichen gibt. Je nach eigenem Wissenschaftsverständnis werden den Themen eine unterschiedliche Relevanz für den Arbeitsalltag zugeschrieben.

Wenn auch die Kritikpunkte von der Autorin sehr sorgfältig und mit Bezug zu vielen Einzelquellen herausgearbeitet werden, ruft die Publikation doch eine zentrale Enttäuschung hervor: Es findet keine eigene inhaltlich bewertende Auseinandersetzung mit den Vorwürfen an die Neurowissenschaften statt!
Wer also als Leser/in erwartet, dass die Kritik ihrerseits einer kritischen Bewertung unterzogen wird und sich aus dem Wechselspiel der Argumente eine eigene Meinungsbildung auf einem höheren Erkenntnisniveau ergeben könnte, bleibt ein wenig frustriert zurück.
Die interviewten Experten können dieses Manko nicht ausgleichen, da sie ja nicht vorbereitet in die Konfrontation mit den Kritikpunkten gehen. So wird den sorgsam formulierten und begründeten Thesen letztlich Spontanmeinungen entgegengesetzt – die dann wiederum von WENGEMUTH sortiert und eingeordnet werden.
So hat das Team “Neurowissenschaften” keine angemessene Chance auf Relativierung und Erwiderung und spielt in einer ganz anderen Liga als die “Kritik-Profis”.

Sprachlich bzw. stilistisch bewegt sich WENGMUTH ganz im Bereich der wissenschaftlichen Anforderungen. Daher kann man an diesen Text (natürlich) nicht mit den üblichen Ansprüchen eines gefälligen Sachbuch-Journalismus herangehen. Die vorgegebene strenge Gliederungsstruktur sorgt u.a. dafür, dass es zu einer gewissen Redundanz der inhaltlichen Aussagen kommt.

Die Arbeit von WENGEMUTH hat ihren Wert vorwiegend in der wissenschaftsinternen Analyse: Es wird exemplarisch gezeigt, welche Kritikpunkte an der eigenen Wissenschaft den Praktikern bekannt sind und wie sie dazu stehen. Zusätzlich wird durch weitere Erkundungen deutlich, wie sie die Rahmenbedingungen ihres Arbeitsfeldes wahrnehmen und bewerten.
Was leider nicht geboten wird, ist eine qualitativ ausgeglichene Auseinandersetzung über die so umfassend dargelegte Kritik. Dazu hätte die Autorin letztlich die Positionen derjenigen ins Feld führen müssen, die ihrerseits das ursprünglich Ziel der Kritik waren.
Das entsprach jedoch nicht ihrem Konzept und der Zielsetzung – und kann daher kein Grund für eine negative Bewertung sein.

(Nachbemerkung: Ich werde bei nächsten mal etwas sorgfältiger prüfen, ob eine wissenschaftliche Arbeit meine Erwartungen an ein informatives Sachbuch überhaupt erfüllen kann).

“Psychotherapie ohne Fachgedöns*” von Nike HILBER

Bewertung: 3.5 von 5.

Allgemeinverständlich über Psychotherapie aufzuklären, ist ein sinnvolles und lohnendes Unterfangen. Die sonst auf Instagram (22 Tsd. Follower) aktive Therapeutin hat sich entschlossen, nun auch das klassische Print-Medium für dieses Ziel zu nutzen.

Aufgrund der Affinität zur Social-Media-Szene erwartet man eine niederschwellige Heranführung an das Thema. Genau das wird von HILBER auch geboten: Sie holt die Interessenten und potentiellen Patienten in ihrem Alltagsleben und bei ihren Zweifeln, Ambivalenzen und Ängsten ab.
Perfekt ist in diesem Zusammenhang die lebensnahe Schilderung einer ersten Kontaktaufnahme im Rahmen einer psychotherapeutischen Sprechstunde. Sie nimmt die Perspektive des Patienten ein und zeigt so, dass sie als Therapeutin – stellvertretend für alle Fachkollegen – genau weiß, wie unsicher und ausgeliefert man sich in dieser ungewohnten Rolle fühlen kann.

Diesen Weg, einige typische Störungsbilder und therapeutische Abläufe exemplarisch zu schildern, behält die Autorin bei. Auf dieser Ebene lädt sie ein, sich mit der Patientenrolle zu identifizieren und das gesamte Geschehen zu entmystifizieren und zu normalisieren.
Ihre Botschaft: “Es passiert nichts Schlimmes, wir sind alle nur Menschen…”
Gleichzeitig beinhalten die Fallbeispiele natürlich auch Informationen darüber, was typische Gründe für das Durchführen einer Psychotherapie sein können. Positiv anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass HILBER der Versuchung widersteht, die Eingangsschwelle zu einer “Psychotherapie als Teil der Gesundheitsversorgung” übermäßig zu senken: Es wird insgesamt deutlich, dass es in einer (von der Krankenversicherung getragenen) Psychotherapie nicht um alltagsübliche Befindlichkeitsstörungen oder um eine allgemeine Persönlichkeitsentwicklung gehen kann.

Doch dieses Buch hat auch noch andere Facetten:
Etwas überraschend ist zwischenzeitlich die Breite und Intensität, mit der die Autorin in die theoretischen Grundlagen der psychodynamischen Therapie einsteigt. Die Häufigkeit, mit der Sie einzelne Aussagen auf Literaturquellen bezieht, erinnert schon fast an eine wissenschaftliche Arbeitsweise. Das wirkt natürlich kompetent und seriös, spricht aber vermutlich eine andere Zielgruppe an.
Was wiederum besser in das (niederschwellige) Gesamtkonzept zu passen scheint, sind die Elemente aus Ratgeber- bzw. Selbsthilfeangeboten: Unter der Überschrift “#reflexionfürdich” schlägt HILBER kleine – jeweils zum Thema passende – Übungen vor und gibt ergänzende praxisnahe Informationen.

Auch wenn man der Autorin über weite Strecken zugute halten kann, sowohl gut verständlich, als auch seriös über Störungsbilder und Psychotherapie aufzuklären, muss man doch in einem Bereich deutliche Abstriche machen: Zwar verheimlicht HILBER nicht, dass sie über eine spezielle Therapieschule bzw. Therapiemethode spricht (über “psychodynamische” Therapie). Sie macht aber keinen Versuch, diese Ausrichtung in die Gesamtlandschaft der psychotherapeutischen Angebote vergleichend einzuordnen.
Man erfährt schlichtweg nichts über die Konkurrenzangebote “Kognitive Verhaltenstherapie” oder “Systemische Therapie”) – weder geht es um Gemeinsamkeiten, noch um Unterschiede. Genau dies würde aber ganz sicher die avisierte Zielgruppe im Rahmen einer Entscheidungshilfe interessieren.
So wie das Buch geschrieben ist, entsteht für die uninformierte Leserschaft letztlich doch – zumindest zwischen den Zeilen – der Eindruck, dass man all die beschriebenen Hilfen eben (nur) im Rahmen einer “tiefenpsychologischen” oder “psychoanalytischen” Therapie erhalten könnte: Nur da geht es schließlich um das “Unbewusste”, das “freie Assoziieren” , um “Abwehrmechanismen” und die “Traumdeutung”. Dass andere etablierte Therapierichtungen ohne diese Konzepte auskommen, sollte wenigstens eine Erwähnung wert sein.

Betrachtet man allerdings eher die Zielgruppe der potentiellen Leser, die sich genau über diese Therapierichtung informieren wollen, kann das Gesamturteil sicher noch positiver ausfallen. Allerdings hätte das dann fairerweise auch Eingang in die Titelgebung finden müssen.

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“Hör zu!” von Michel FABER

Bewertung: 4 von 5.

Wenn man über die Anschaffung eines mittleren Wälzers von ca. 550 Seiten zum Thema “Musik” nachdenkt, möchte man vorher eine Ahnung davon haben, auf was man sich einlassen würde.

Die Antwort darauf soll mit einer Aufzählung von Inhalten beginnen, die dieses Buch nicht ausmachen. “Hör zu” ist nämlich keine
– historische Reise durch die Geschichte der Musik
– Einführung in die Musiktheorie
– systemattische Darstellung von Genres oder Stilrichtungen
– Bewertung einzelner Interpreten oder Werke
– Analyse von psychologischen oder neurowissenschaftlichen Prozessen
– soziologische oder ökonomische Betrachtung.
Was bleibt dann, worüber man sich in dieser Breite auslassen kann?

FABER, der zuvor als Romanautor aktiv war, hat ein extrem persönliches Buch über Musik geschrieben. Er macht erst gar nicht den Versuch, aus einem Expertenmodus heraus den Anschein von Allgemeingültigkeit zu erwecken. Er schreibt – eher in einem assoziativen als systematischen Stil – über so ziemlich alles, was ihm als leidenschaftlichen Musikhörer bedeutsam erscheint – und dabei ist Subjektivität sozusagen seine Richtschnur.
Grundlage für seine Ausführungen ist – über seinen privaten Musikkonsum hinaus – seine jahrzehntelange Verbundenheit mit einer Kultur- und Musikszene, die sich wohl ohne Übertreibung als “links-alternativ-progressiv” charakterisieren ließe.
Nicht unerwähnt lässt der Autor auch seine Zugehörigkeit zu einer Spielart der “Neurodiversität” – aber “Normalität” ist für FABER sowieso wohl eher ein abschreckendes Konzept.

Das Buch handelt von den verschiedenen Facetten und Funktionen, die Musik sowohl im persönlichen Leben als auch in der Gesellschaft haben kann: Es geht um Gefühle, um Identität, um Gruppenzugehörigkeit, um Konsum, Geschäft und Marktgesetze, um Abgrenzung, um Selbstfindung, …
Der Versuch einer Gliederung bezieht sich auf Themen wie “frühste musikalische Prägungen”, “die Rolle der Musik in den eigenen Jugenderinnerungen”, “die vermeintliche Überlegenheit der Klassik gegenüber der Pop-Musik”, “die Rolle von Kritikern und Musikzeitschriften”, “die Geschichte und Bedeutung der jeweiligen Speichermedien”, “der (unangemessene) Umgang mit den kulturellen Ursprüngen der Pop-Musik”; “die Männer-Dominanz in der Musikwelt”, “die Bedeutung der Lautstärke”, “die Arroganz der vermeintlichen Experten”, “das Glück des Singens”, usw.

Alle diese Themen werden nicht in der Systematik eines journalistischen Sachbuchs abgearbeitet, sondern in einem rasanten Slalom-Parcours, in dem Hunderte von Interpreten und Songbeispiele zur akustischen Illustration genutzt werden.
Anders als in der Einleitung angekündigt, gibt es natürlich doch klare Präferenzen des Autors – auch wenn er gleichzeitig immer wieder darauf hinweist, dass niemand das Recht habe, anderen einen Musikgeschmack vorzuwerfen.
Es wird z.B. deutlich, dass FABER keinen Zweifel daran hat, dass die kulturellen Beiträge der Beatles, der Beach Boys, eines Bob Dylan oder eines Marvin Gaye hinter dem Vermächtnis der großen Helden der Klassik nicht zurückstehen. Aber natürlich kämpft FABER leidenschaftlich für die verkannten Underdogs der Musikszene, z.B. auch für die Frauen.

Wer sich und sein Leben selbst mit und über Musik definiert, wird früher oder später durch dieses Buch eingefangen – durch Themen, verehrte Interpreten oder Lieblingsstücke.
Man sollte allerdings realistische Erwartungen an diese Hymne an die Musik haben: Ohne persönlichen Bezug zu der Soul-, Beat-, Rock- und Popwelt der letzten 60 Jahre ist dieser große Happen Musikbegeisterung nur schwer zu verdauen. Man muss dem Autor seine manchmal exzentrischen und weitschweifigen Exkurse verzeihen können; man muss Gefallen an seiner ungebändigten Assoziationsdynamik finden.
Dann macht nicht nur Musik etwas mit einem, sondern auch dieses Buch!