
Katharina SCHÖN hat als Betroffene ein Arbeitsbuch für Betroffene geschrieben.
Rezensiert wird dieses Buch (überwiegend) aus fachlicher Sicht (eines Diplom-Psychologen und Psychotherapeuten).
Die Autorin hat nach einer bewegten Biografie ihre Berufung als systemischer Coach für “neurodivergente” Menschen gefunden und ist auch auf diversen Social-Media-Kanälen präsent und erfolgreich.
Ihr Workbook besteht aus Information, Ermutigung, Reflexions- bzw. Analysetools und Übungsmaterialien. Die Ansprache ist direkt und persönlich, wie es in einer Community von Gleichbetroffenen üblich ist. Das fachliche Niveau kann als weitgehend fundiert und seriös angesehen werden; der Bezug zu wissenschaftlichen Grundlagen und therapeutisch bewährten Hilfestellungen (z.B. aus der Kognitiven Verhaltenstherapie) ist durchweg gewährleistet.
Um es kurz zu sagen: Die Autorin weiß nicht nur, wovon sie spricht, sondern hat sich zweifellos eingehend mit der einschlägigen Fach- und Selbsthilfeliteratur beschäftigt.
Die Besonderheiten des Textes lassen sich wie folgt zusammenfassen:
– Während die parallele Betrachtung der neurodivergenten Phänomene “ADHS” und “Hochsensibilität” nachvollziehbar ist und im Text auch gut strukturiert umgesetzt wird, erscheint die Einbeziehung des komplexen und extrem heterogenen Störungsbildes “Autismus” nicht gut begründet und letztlich unpassend. Auch wenn SCHÖN selbst offenbar mal irgendeinen Teilaspekt des Autismus-Spektrums zugeschrieben bekommen hat, wäre es sinnvoll gewesen, diesen Symptombereich ganz rauszulassen – zumal er faktisch im Text kaum eine Rolle spielt.
– Die Autorin wirft freigiebig mit zahlreichen Begrifflichkeiten um sich, die teilweise aus dem Bereich der etablierten Wissenschaft stammen, teilweise aber auch dem internen Sprachgebrauch der Betroffenen- und Selbsthilfe-Community. Für Nichteingeweihte ist dieser Unterschied kaum zu durchschauen – was die Bewertung der Infos manchmal ein wenig erschwert.
– Die zentrale Rolle, die der (auch emotionalen) Identifizierung mit dem Konzept der “Neurodivergenz” in dem Workbook zukommt, ist für nicht unmittelbar Betroffene wohl nur schwer nachzuvollziehen. Diese Begrifflichkeit wird mit kämpferischen Engagement allen Sichtweisen entgegengesetzt, die ADHS oder Hochsensibilität in irgendeiner Form als “Defizit”, “Störung” oder gar “Krankheit” einordnen. Stattdessen gehört die Selbstdefinition als “anders” (statt “defizitär” oder “schlechter”) zum unzweifelhaften Glaubensbekenntnis der Community. Diese Selbstvergewisserung ist ein bedeutsamer Bestandteil im Kampf für einen ungebrochenen Selbstwert in einer oft als abwertend erlebten Umwelt; dabei spielen natürlich auch die zahlreichen Hinweise auf die typischen Stärken dieser “anderen” – eben nicht “neuronormalen” – Gehirne eine große Rolle (z.B. Empathie, Interessensvielfalt, Wissbegierde, Kreativität, Krisenresistenz).
– Hervorzuheben ist die Aktualität von Tipps und die Nähe zum Alltag des Zielpublikums: So wird auf Insider-Apps und Noise-Cancelling-Kopfhörer genauso selbstverständlich hingewiesen wie auf die Möglichkeit, sich die KI (z.B. ChatGPT) zu Diensten zu machen (um z.B. komplexe Aufgaben in Teilschritte aufzuteilen).
– Überhaupt dreht sich sehr viel um Strukturierungshilfen: Es gibt jede Menge Abfragen, Tabellen und Listen, mit deren Hilfe Themenbereiche oder Herausforderungen systematisiert werden können. Dabei kommen auch so relevante Bereiche wie Möglichkeiten der Emotions-Regulation oder der Kampf gegen “Gehirn-Trojaner” (dysfunktionale, z.B. selbstabwertende Gedanken) zur Sprache.
Wenn man nicht selbst schon Teil der Szene ist, wird man die Einteilung in “neuronormal” und neurodivergent” vielleicht als zu penetrant erleben (ebenso wie den Gebrauch der Label “ADHS” und “Hochsensibilität”). Man spürt hier, welche emotionale Bedeutung die jeweiligen Zuschreibungen für die (einige) Betroffenen haben; sie bilden offensichtlich für viele (zumindest für die Autorin) einen Kernpunkt ihrer Identität.
Dabei geht ein wenig verloren, dass all diese Konzepte in der Realität keine klar abgegrenzten Zustände sind, zwischen denen es eine Art Kippschalter gibt.
Aufgebrochen wird diese starre Kategorisierung immer dann, wenn auf die konkrete Verhaltensebene gewechselt wird. Hier bekommt man sehr konkrete Anregungen für sehr konkrete Anforderungen – und diese können auch hilfreich sein, wenn man z.B. die Diagnose-Kriterien der Eingangstests nicht voll erfüllt.
Manchmal schwirren einem ziemlich viele unbekannte Insider-Vokabeln um die Ohren (“Time-Boxing”, Pomodoro-Technik”, “Busy-Bee-DnD-Methode”, usw.); das hat in seiner Häufung schon manchmal auch etwas Skurriles…
Gelegentlich hätte man vielleicht darauf hinweisen können, dass das Bild mit den unterschiedlichen Gehirnen und ihrer unterschiedlichen Verdrahtung eben eine grobe Vereinfachung darstellt. Erstaunlich – und für manche Ratsuchende vielleicht ein wenig irritierend – ist es, dass die Frage der Medikation (bei ADHS) noch nicht einmal im Sinne einer Abgrenzung oder Verneinung angesprochen wird.
Unterm Strich bleibt festzuhalten, dass SCHÖN hier eine ausgesprochen praxisnahe und niederschwellige Handreichung vorlegt, deren Nutzen für die Zielgruppe außer Frage steht. Natürlich ersetzt dieses Selbsthilfe-Buch kein wissenschaftliches Fach- oder Sachbuch – das ist aber auch nicht der Anspruch,
Wenn man diese mit viel Liebe zum Detail aufbereitete Informations- und Materialsammlung als EBook erwirbt, ist das Preis/-Leistungsverhältnis geradezu unschlagbar.
Du möchtest das Buch kaufen?
Mach Amazon nicht noch reicher und probiere mal den sozialen Buchhandel, der aus jeder Bestellung eine kleine gemeinnützige Spende macht. Der Preis für dich ändert sich dadurch nicht; die Lieferung erfolgt prompt. Klicke einfach auf das Logo.
Oder unterstütze einen kleinen Buchladen vor Ort.