“Selbst Schuld” von Ann-Kristin TLUSTY und Wolfgang M. SCHMITT

Bewertung: 3 von 5.

Die Frage von individueller Schuld wird im Kontext von Willensfreiheit, Determiniertheit und Verantwortung philosophisch, anthroposophisch, psychologisch und neurowissenschaftlich heiß und kontrovers diskutiert.
Wer von diesem Sammelband Beiträge zu solch grundlegenden Sichtweisen erwartet, wird eher enttäuscht sein: Die Autorinnen und Autoren konzentrieren sich durchweg auf einen Aspekt der Schuldproblematik: Es geht um die – von den Autoren kritisierte – Tendenz, gesellschaftliche Verursachungszusammenhänge zu individualisieren und so einer kritischen politischen bzw. emanzipatorischen Analyse zu entziehen.
Weitgehend einig sind sich die Beiträge dabei in einer Kapitalismus-kritischen Grundausrichtung. Insofern geht es in dieser Zusammenstellung von Einzelperspektiven nicht um verschiedene ideologische Blickwinkel, sondern um verschiedene inhaltliche Facetten, die sich zu einem weitgehend widerspruchsfreien Gesamtbild ergänzen.
Eine deutliche Variabilität zeigt sich allerdings im Stil der Betrachtungen: Sie reichen von sehr persönlichen Rückblicken auf die eigene Biografie bzw. der Reflexion des privaten Alltags bis zu einem soziologischen Seminarstil.

Kritisch reflektiert wird die individuelle Verantwortungs- bzw. Schuldzuschreibung für die eigene Berufsbiografie, für (generationsspezifische) Klimasünden, für umweltschädlichen Konsum, für die eigene Armut, für den verpassten Aufstieg, für die eigene Gesundheit, für jugendliche Straftaten in der Corona-Zeit, für unzureichende Vorkehrung gegenüber sexuellen Übergriffen. Darüber hinaus geht es aber auch um das Recht auf Faulheit, um eine prinzipielle Infragestellung der bürgerlichen Familienstruktur, um den Kampf gegen Internet- bzw. Instagram-Sucht, um die Frage, ob wir als Bürger unserem Staat etwas schulden, um die Ablenkung von der Klassenfrage im Rahmen von Identitätspolitik und Wokeness – bis hin zu einer potentiellen Existenzschuld (weil jeder einzelne Mensch eine Umwelt- und Klimalast darstellt).

Im Artikel von Sebastian FRIEDRICH (über Klima) taucht dann ein Begriff auf, den man wohl auch als Motto für das ganze Buch nutzen könnte: “Systemschuld”. Es besteht bei dem Autoren-Team wenig Zweifel daran, dass es letztlich die kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung ist, die als Schuldige an den Pranger gehört.
Die Eindeutigkeit, mit der das immer wieder herausgearbeitet wird, löst sicher bei der Leserschaft ganz unterschiedliche Reaktionen aus – ja nach der ideologischen Verortung. Wer das Buch mit einer marxistisch-antikapitalistischen Grundhaltung liest, wird sich bestätigt fühlen; wer eher in der politischen Mitte beheimatet ist, wird sich auf Dauer etwas genervt fühlen; ein konservativer Leser wird dieses Buch sicher schnell zur Seite legen.
Beim Lesen könnte jedenfalls gelegentlich die Frage aufflackern, ob es denn tatsächlich gesellschaftliche Bedingungen geben könnte, unter denen die Fragen von Verantwortung und Schuld anders, besser oder zumindest eindeutiger geklärt sein könnten.

Zu der spannenden und kontroversen Grundsatzfrage, ob es so etwas wie eine individuelle Schuld – die ja so etwas wie eine autonome Persönlichkeit mit einem freien Willen voraussetzt – überhaupt prinzipiell geben kann, dringen die verschiedenen Essays kaum einmal vor. Mit philosophischen oder neuropsychologischen Theorien hält man sich nicht auf.
Ohne Zweifel sind aber – und das sollte nicht ganz unter den Tisch fallen – viele der aufgeworfenen Fragen und Ungereimtheiten bzgl. der Schuldzuschreibungen auf den Einzelnen auch psychologisch nachvollziehbar und durchaus berechtigt. Und es stimmt natürlich, dass das Narrativ vom “seines Glückes Schmied” eine weitreichende ideologische Funktion im Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell des Neoliberalismus hat.

Die Schwäche dieses Buches liegt wohl in der Uniformität der Sichtweisen, die das (Mit-)Denken irgendwann nicht mehr anregt, sondern einen Überdruss des Vorhersehbaren entstehen lässt. Vielleicht ist die Botschaft schlichtweg überdosiert.

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