
Das Cover dieses Buches wirkt fröhlich-verspielt, das Thema ist von großer Tragweite, der Stil ist (weitgehend) systematisch-analytisch, der Zugang ist philosophisch-politisch, die Positionierung ist extrem und provokant.
Es geht um das große Thema “Gerechtigkeit” – und dabei vor allem um die Frage, ob und wie weit organisierte Gesellschaften (Staaten) das Recht oder die Pflicht haben, Ungleichheiten zwischen ihren Mitgliedern durch Eingriffe in das “freie Spiel der Marktkräfte” auszugleichen.
In seinem sehr übersichtlich strukturierten Text nähert sich der Autor dem Thema, indem er zunächst über “objektive Normen” und mögliche Grundlagen einer philosophischen Staatstheorien nachdenkt. Es geht um “interessensgeleitete” Begründungen für die Übertragung von Macht an eine Zentralinstanz, die letztlich in “Vertragstheorien” der Staatsbildung münden.
EDMÜLLER wendet sich dann den etablierten Gerechtigkeitskonzepten der (von ihm aus betrachtet) “Gegenseite” zu, die vom Grundsatz her auf Ideen der Gleichheit basieren. Der Hauptteil seiner Darstellungen widmet EDMÜLLER nämlich der (vermeintlichen) Schwächung bzw. Widerlegung des Utilitarismus und der Ansätze von RAWLS und DWORKIN.
Der letzte Teil des Buches ist dann dem bevorzugten Gesellschaftsmodell gewidmet: dem libertären Minimalstaat, dessen Aufgabe es ist, die Freiheitsrechte des Einzelnen (insbesondere das Eigentumsrecht) auch weitestgehend gegen jegliche Ansprüche auf Nachteilsausgleich oder Gemeinwohlförderung zu verteidigen.
EDMÜLLER ist kein pauschalisierender Eiferer: Er vertritt seine – selbst als provokant und radikal eingeschätzte – Position auf der Basis einer differenzierten Argumentationslogik, die philosophische, formal-logische, politische und psychologische Aspekte berücksichtigt.
So baut er im Rahmen eines Systems von Axiomen und Grundüberzeugungen schrittweise ein Begründungsgerüst auf, das seinen Schlussfolgerungen den Anschein einer gewissen Zwangsläufigkeit verleihen soll.
Der Autor erweist sich dabei als guter Didaktiker: Er präsentiert seine Darstellungs- und Argumentationslinien auch auf der Meta-Ebene so transparent, dass die Leserschaft zu keinem Zeitpunkt die Orientierung verliert. Es gelingt im ausgezeichnet, die jeweiligen Kernpunkte der verschiedenen Konzepte fassbar zu machen. Das führt dazu, dass auch die von ihm inhaltlich abgelehnten Konzepte in einer bemerkenswerten Klarheit dargestellt werden. Allerdings spürt man dabei zunehmend die Konzentration auf die Aspekte, auf denen er sein Gegenmodell aufbauen will: Er arbeitet – mit bemerkenswerter Akribie – heraus, welche Begriffe sich als unzureichend definiert, welche Schlüsse als nicht solide abgeleitet und welche Konsequenzen als widersprüchlich oder unakzeptabel erweisen (jeweils aus seiner Sicht).
Für viele (potentielle) Leser/innen könnte sich so am Ende des Textes folgende Situation ergeben: Obwohl sich die Position des Autors (“Maximale individuelle Freiheit bei Verzicht auf jeden sozialen Gleichheitsanspruch”) scheinbar logisch zwingend aus der Argumentationskette ergibt, will man in dieser Gesellschaft, in der Ungleichheit geradezu als Inkarnation der Freiheit definiert wird, nicht wirklich leben! Irgendetwas fühlt sich extrem unstimmig an: Sollten sich doch in diesem so seriös und wissenschaftlich formulierten Text ein paar sehr subjektive Setzungen und Haltungen verbergen? Dient dieses ganze so formal und akkurat konstruierte Gebäude vielleicht letztlich doch nur dazu, ein extrem neo-liberales, auf dem Egoismus der Privilegierten fußendes Gesellschaftsmodell zu legitimieren?
Schauen wir uns ein Beispiel an: In EDMÜLLERs Angriff auf das bekannte Gerechtigkeitsmodell von RAWLS spielt die Unterscheidung zwischen “schicksalhaften” und “selbstverschuldeten” Ungleichheiten eine große Rolle. Geradezu süffisant macht der Autor darauf aufmerksam, dass es schließlich auf den “Eigenanteil” ankäme, mit dem jede/r auf die (tatsächlich ungleiche) Verteilung von Talenten und Privilegien reagieren könne.
Offenbar fehlt EDMÜLLER jegliches psychologisches Wissen bzw. Verständnis für den Umstand, dass auch solche Ressourcen wie Fleiß, Disziplin, Impulskontrolle, Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz nicht in der freien Verfügung von Menschen stehen, sondern ihrerseits von prägenden Faktoren abhängig sind – die ganz sicher nicht gleich und gerecht verteilt sind.
Später wird deutlich, dass der Autor gegenüber den Einschränkungen der Lebensziele privilegierter Menschen (den diese durch Beiträge zum Gemeinwohl erleiden müssen) eine wesentlich höhere Sensibilität zeigt, als er sie in Bezug auf tatsächlich benachteiligte Gruppen aufbringen kann.
Letztlich kommt die Idee auf, dass EDMÜLLER mit seinem Plädoyer (für Freiheit, gegen Gleichheit) vielleicht ungewollt ein starkes Gewicht für die – so heftig bekämpfte – Gerechtigkeitstheorie von RAWLS in die Waagschale geworfen hat: Man kann sich nämlich nicht vorstellen, dass der Autor unter Bedingungen, in denen er keine Informationen über seine persönlichen Voraussetzungen hätte, sich für die unerbittlichen Regeln seines Minimal-Staates entschieden hätte. Genau diesen “Schleier der Unwissenheit” fordert RAWLS aber in seinem berühmten Gedankenexperiment.
Letztlich kann daher dieses Buch – trotz aller formaler Stärken – inhaltlich nicht überzeugen. Ohne Zweifel bietet es aber interessantes und anregendes Trainingsmaterial für differenzierte Auseinandersetzungen in diesem Bereich der angewandten Philosophie.
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