
Es geht hier um einen in den USA und Frankreich sehr erfolgreichen Debüt-Roman eines kalifornischen Schriftstellers, den dieser nach achtjähriger Recherche 2017 im Alter von ca. 30 Jahren veröffentlichte. Das Buch wurde insbesondere daher stark beachtet und diskutiert, weil es den massiven und andauernden Missbrauch eines vorpubertären Mädchens durch ihren alleinerziehenden Vater in sehr eindringlicher und drastischer Form schildert.
Einem Roman, der sich der Macht- und Beziehungsdynamik einer gewaltsamen Missbrauchssituation und dem Leiden des ausgelieferten Opfers widmet, begegnen wohl viele potentielle Leser erstmal mit Interesse und Sympathie. Literarisch stellt sich die Frage, mit wieviel psychologischer Tiefgründigkeit die Persönlichkeit des Täters analysiert wird und wie feinfühlig und empathisch die körperlichen und seelischen Verletzungen des Opfers erlebbar gemacht werden.
Zunächst kurz zum Handlungsrahmen: Die Geschichte spielt in einem sehr ländlich-urwüchsigen Teil von Kalifornien, wo Vater und Tochter nach dem tragischen Tod der Mutter weit entfernt von einer urbanen Zivilisation leben. Im ersten Teil der Geschichte ist noch der (väterliche) Großvater in der nahen Umgebung präsent. Die Busfahrt zur Schule stellt für die junge Turtle die einzige Verbindung zur Außenwelt dar; sie ist allerdings dort nicht sozial eingebunden und letztlich ihrem einsiedlerisch lebenden Vater völlig ausgeliefert.
Der Autor konfrontiert uns sehr schnell mit der harten Wirklichkeit dieses Lebens in dieser Wildnis: Diverse Waffen bilden praktisch von der ersten Seite ab einen zentralen Bestandteil des Alltags und Turtle ist seit ihrer Kindheit im Umgang mit Messern und diversen Schusswaffen selbstverständlicher und besser vertraut als “normale” Altersgenossen mit ihrem Lieblingsspielzeug. Der waffenverliebte und ganz offensichtlich psychisch auffällige Vater bildet seine Tochter geradezu systematisch zu einer auf alle Eventualitäten vorbereitete Einzelkämpferin aus.
Aus fachlicher Sicht betrachtet steht im Zentrum dieser Missbrauchs-Konstellation die – sowohl für den Täter, als auch für das Opfer – unauflösbare Verquickung zwischen einer hoch-toxischen Form von pathologischer “Liebe” und massiver zerstörerischer Gewaltausübung bzw. Abhängigkeit. Ohne Zweifel ist gehört die Darstellung der lähmenden Ambivalenz dieser emotionalen Gefangenschaft, die dem Mädchen die Flucht aus ihrem Martyrium verunmöglicht, zu den Stärken dieses aufwühlenden Romans.
Der psychologische Einblick in die Täterpersönlichkeit fällt weniger überzeugend aus – zumindest, wenn man mehr verlangt, als eine eindeutige Darstellung einer gravierenden Persönlichkeitsstörung.
Der Schlüssel zu der Intensität der Schilderungen liegt in der geradezu physisch spürbaren Kraft der eingesetzten, extrem bildhaften, präzisen und gleichzeitig wortgewaltigen Sprache. TALLENT hat ein wirklich bemerkenswertes Talent (das Wortspiel bot sich an), Alltagsszenerien, intensive Naturphänomene und vor allem Gewalt (und ihre Folgen) in einer Plastizität auszumalen, dass sich einem die passenden Bilder geradezu zwangsläufig aufdrängen: Wozu so etwas verfilmen, wenn die Sprache schon alles fertig liefert?
Das Problem: Dem Autor selbst ist seine Begabung nicht verborgen geblieben! Statt diese allerdings wohl dosiert und dramaturgisch passend komponiert in seinen Plot einfließen zu lassen, leert TALLENT sein sprachliches Füllhorn in einer überschießenden Dauerberieselung über seine Leserschaft aus. Das Ergebnis: Ein chronisches Intensitäts-Overload!
So bietet z.B. der – für rechte USA-Gruppierungen typische – perverse Waffenfetischismus des Vaters sicher ein lohnendes Feld für eine knackige Darstellung; der Autor liefert uns allerdings auf hunderten Seiten eine permanente Konfrontation mit einem ganzen Arsenal von verschiedensten Schusswaffen – einschließlich ausführlicher Einblicke in Munitionssorten, Mechanik und Wartung. Ähnlich ungebremst verfährt der Autor mit Kampfszenen oder mit bestimmten Unbilden der Natur.
Kurz gesagt: TALLENT merkt nicht, wann es genug ist!
Natürlich gibt es in dem Handlungsverlauf eine Entwicklung, noch ein paar Nebenfiguren und einen Spannungsbogen. Schon nach den ersten Seiten wird niemand mehr überrascht sein, wenn ein paar der permanent präsenten Waffen in einem irgendwie gearteten Show-Down zum Einsatz kommen wird. Man wird – nach dem bisher Gesagten – nicht mit einem leisen und schnellen Ablauf rechnen können…
Wer (vorrangig) ein möglichst permanent hochgetriebenes Emotionserlebnis im leidvollen Bereich des psychischen und sexuellen Missbrauchs sucht, kann mit diesem kraftvollen literarischen Erstlingswerk möglicherweise glücklich werden. Viele andere Leser/innen werden darauf hoffen, dass TALLENT beim nächsten Versuch seine Begabung zurückhaltender, überlegter und zielgenauer einsetzt.
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