“Eine Art Familie” von Jo LENDLE

Bewertung: 3.5 von 5.

Begeisterung für ein Buch macht neugierig auf den Autor und frühere Werke. So war es mit Jo LENDLE (Die Himmelsrichtungen). “Eine Art Familie” ist ein deutlich sperrigerer Text.
Der Autor taucht tief in die Geschichte seiner Familie ein und rekonstruiert die Lebensläufe einiger Personen rund um seinen Großonkel Ludwig quer durchs 20. Jahrhundert. Basis dafür sind akribische Tagebuchaufzeichnungen, die Ludwig eigentlich zur Vernichtung bestimmt hatte.

Natürlich spiegeln sich die großen Jahrhundert-Themen in den privaten und beruflichen Begebenheiten der Protagonisten: der Lebensgemeinschaft von Ludwig mit seinem nur wenig jüngeren Patenkind Alma und einer treuen Haushälterin; daneben noch dem eher fremden Bruder Wilhelm und seiner Familie.
Es geht um die beiden Kriege, die Narben des ersten Weltkriegs, die Haltung zu und die Verstrickungen mit der NS-Diktatur, um das widersprüchliche Leben in der jungen DDR, um die Erfolge der Wissenschaft, um Ruhm und Karrieren.

Aber das ist nicht der eigentliche Gegenstand dieses insgesamt leisen und sehr persönlichen biografischen Romans. In oft mikroskopischer Feinarbeit werden die eigenwilligen Persönlichkeiten der drei Hauptfiguren ausgeleuchtet; dabei halten diese keineswegs spektakuläre oder grandiose Fähigkeiten bzw. Charaktereigenschaften bereit. Eher im Gegenteil: Die so detailverliebt beschriebenen Personen sind eigentümlich unfertig, in sich zerrissen, die meiste Zeit ein wenig schräg und verschroben. Sie eignen sich nicht als Helden oder Identifikationsfiguren, ihre Menschlichkeit ist meist allzu menschlich.
Immer wieder hat man das Gefühl, dass insbesondere Ludwig und Alma irgendwie an ihrem Leben und auch an der Gestaltung ihrer Beziehung vorbeileben. Trotz räumlicher Nähe und selbstverständlicher Loyalität, findet Intimität und Kommunikation nur indirekt statt.

Auch in der äußeren Welt, in der Ludwig als Professor für Pharmakologie durchaus Erfolge hat, steht er sich doch immer wieder auch selbst im Wege, hadert und zögert, findet nicht wirklich zu sich selbst. Die Verstrickungen seiner Forschungen über Narkosemittel und giftige Gase mit dem Vernichtungskrieg der Nazis treiben ihn um; seine Wege sind nicht ohne Schleifen und Ambivalenzen. Sein Leben lang wollte er das Geheimnis des Schlafes entschlüsseln, am Ende sinniert er über den Zusammenhang zwischen Schlaf, Narkose und Tod.

Doch kann man den Charakter und die Qualität dieses Buch nur dann wirklich erfassen, indem man seine Sprachkunst thematisiert. Es gelingt LENDLE nicht nur, seine Figuren sensibel und facettenreich zu zeichnen, sondern er kreiert immer wieder Formulierungen, die man sich auch eingerahmt an der Wand vorstellen könnte. Die Sprachbilder die er dabei benutzt sind so perfekt auf den zeitlichen und emotionalen Kontext abgestimmt, dass es einem kurzfristig die Sprache geradezu verschlägt.

Trotzdem: Das Lesen dieses Buches geht nicht von selbst; die Intensität und Tiefe der Betrachtungen hat auch ihren Preis und bereitet stellenweise auch mal etwas Mühe. Ohne die Bereitschaft, sich auf die Protagonisten mit all ihren Macken, Ecken und Kanten einzulassen, könnte die Lesemotivation zwischenzeitlich auch mal zur Neige gehen.
Das Buch ist etwas für Leser/innen, die weniger auf der Spur nach bestimmten Ergebnissen sind, sondern eher den Prozess des ruhigen Einlassens auf eine unbekannte Szenerie zu schätzen wissen.

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