
Der Philosoph HÜBL hat vor einigen Jahren ein großartiges Buch über die emotionalen und rationalen Grundlagen der Moral geschrieben (“Die aufgeregte Gesellschaft“, 2019). Mit seinem neuen Buch bleibt er dem Thema verbunden und liefert eine kritische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen, in denen moralische Fragen dazu missbraucht werden, Anerkennung und Status zu generieren, Andersdenkende vom politischen Diskurs auszuschließen, Macht auszuüben und die gesellschaftliche Stimmung zu polarisieren.
Damit reiht sich das Buch in die aktuellen Betrachtungen zu den Phänomenen “Wokeness” und “Cancel Culture” ein – die vom Autor in den weiter gefassten Begriff “Moralspektakel” integriert werden.
Es fällt schnell auf, dass HÜBL wohl so ziemlich mit all den modernen Begrifflichkeiten vertraut ist, die man im Umfeld des moralisch aufgeladenen Diskussionsklimas vorfindet. Das ist schonmal informativ und hilfreich.
Darüber hinaus kommt es den Lesenden entgegen, dass sie einen gut strukturierten und didaktisch sorgfältig aufbereiteten Text angeboten bekommen. Obwohl er mit Hinweisen auf empirische Untersuchungen nicht geizt und einen beeindruckenden Anhang (mit Anmerkungen, Literatur-, Namens- und Sachregister) liefert, tritt der Autor nicht als nüchterner Wissenschaftler auf. HÜBL versteckt seine Position nicht, an jeder Stelle wird deutlich, dass er hier für seine Sichtweise wirbt.
In einem Einleitungskapitel legt der Autor seinen wesentlichen Gedankenlinien schon recht umfangreich dar. Das gibt den Leser/innen Orientierung, schafft aber auch die Grundlage für einige spätere Redundanzen.
HÜBL steigt ein mit einem historischen Rückblick auf die moralischen Maßstäbe und Diskussionen der letzten Jahrzehnte und beschreibt eine deutliche Verschiebung in Richtung einer zunehmender Empfindsamkeit, einer Ausweitung von Themen/Anlässen und einer gesteigerten emotionalen Aufladung. Da Gesellschaften “objektiv” eher offener und toleranter geworden seien, könne man angesichts des Klagens über Moraldefizite von einem “Moralparadox” sprechen.
Ein zweiter Blick gilt den allgemeinen Grundlagen von Ethik und Moral: HÜBL betrachtet biologische, evolutionäre, philosophische, kulturelle und psychologische Bausteine sowohl unseres Moralempfindens, als auch der Alltagsmoral. Dabei kommen auch (kognitive) Verzerrungen in Wahrnehmung und Urteilen zur Sprache, ebenso wie unsere – tief verwurzelte – Neigung, uns über Moral selbst aufzuwerten und unseren sozialen Status zu sichern bzw. zu erhöhen.
Auf soziologisch-kultureller Ebene arbeitet der Autor unterschiedliche Moralkulturen heraus: Ehrenkulturen, Würdekulturen und Opferkulturen zeigen typische Werte-Muster, die für das moralische Klima entscheidend sind. Der Autor sieht uns gerade auf einem (inzwischen übertriebenen) Weg in einer Kultur der Verletzlichkeit und Fürsorge, in der manchmal eine geradezu pathologische Sorge bestehe, selbst geringste (von den vermeintlichen Opfern selbst oft gar nicht registrierte) Benachteiligungen bestimmter Minderheiten-Gruppen zu übersehen.
HÜBL sieht in der großen Bedeutung der eigenen Moral für die Definition der Identität ein Grund dafür, dass die moralische Außendarstellung – unter Einfluss der sozialen Medien – inzwischen eine überbordende Rolle spielt. Der Wettbewerbe um Status und Einfluss wird – so ist HÜBL überzeugt – heute bevorzugt auf der Ebene der (vermeintlichen) moralischen Überlegenheit ausgetragen: sein “moralisches Kapital” zu vermehren sei heute ein zentrales Ziel für Individuen, Unternehmen und gesellschaftliche Gruppen. Dabei seien an allen Ecken Trittbrettfahrer und Etikettenschwindler zu finden; moralische Empörung und Effekthascherei machten sich insbesondere in der digitalen Welt breit. Der Drang zur perfekten moralischen Reinheit führe im Extrem zur permanenten Selbstgeißelung als Angehöriger einer privilegierten Gruppe.
In einem zweiten Teil seines Buches wendet der Autor seine Analysen auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse an: Er spricht von Opfer-Hochstablern, von links- und rechtsgerichtetem Autoritarismus, von Trollen und Narzissten, von Einschüchterungskultur und Shitstorms. Und natürlich von Wokeness, Cancel-Culture und dem Unterschied zwischen (“inklusiver”) Sprache und Realität.
Generell gilt: HÜBL mag einfach keine Moral-Überheblichkeit – insbesondere, wenn das eigene Verhalten den – oft ins Uferlose gesteigerten – Ansprüchen an andere nicht gerecht wird. Da gilt es dann, hinter dem Moralspektakel die tatsächlichen Motive und Strategien zu erkennen.
Nachdem sich der Autor noch einige Kernbegriffe des moralischen Diskurses kritisch zur Brust genommen hat, stellt er die Schwächen des Konzeptes der “Intersektionalität” (der Addition einzelner Diskriminierungsmerkmale) dar: Die hier konstruierten Opferhierarchien hielten der Realitätsüberprüfung oft nicht stand. Da fällt dann auch mal ein kritisches Wort zur wissenschaftlichen Güte gewisser Gender-Studies, zu der Bereitschaft, wissenschaftliche Standards zu relativieren, wenn damit dem “indigenen Wissen” einer kolonialisierten Kultur geschmeichelt wird und zu der Aufnahme von Wokeness-Ansprüchen in die Kriterien für wissenschaftliche Veröffentlichungen.
Von das aus ist es nicht mehr weit zu der Schlussfolgerung, dass es oft der linksliberale Mainstream mit seiner reflexhaften Toleranz auch für die Positionen radikaler Aktivisten ist, der als Gegenbewegung einen rechtskonservativen Roll-Back erzeugt.
Der anregende – und stellenweise durchaus auch leicht provokante – Text wird durch acht nachvollziehbare Vorschläge gekrönt, die dem Moralspektakel das Wasser abgraben sollen: Da geht es um Universalität, Faktenbezug, Offenheit der Diskussion und eine vernunftbezogene moralische Bescheidenheit.
HÜBL wird sich mit dieser Publikation in den progressiven Kreisen sicher nicht nur Freude/Freundinnen machen; manche seiner Statements hinterlassen sicher den ein oder anderen Kratzer. Dass er das in kauf nimmt, ist ihm hoch anzurechnen.
Die Seiten gewechselt hat der Autor mit diesem streitbaren Text nicht: Indem er die Übertreibungen bekämpft, will er letztlich die aufgeklärten, toleranten und freiheitlichen gesellschaftlichen Entwicklungen stärken und erhalten.