“Über Freiheit” von Timothy SNYDER

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buch ist zugleich klug, faszinierend, anstrengend und auch ein bisschen nervig.

SNYDER ist ein populärer amerikanischer Historiker, der sich schwerpunktmäßig auch mit der osteuropäischen Geschichte und autokratischen Systemen beschäftigt hat; er ist auch als politischer Intellektueller Teil des gesellschaftlichen Diskurses.
“Freiheit” ist ganz offensichtlich das Lebensthema des Autors: Sein Buch ist voller autobiografischer Bezüge, greift philosophische und literarische Grundlagentexte auf, entwirft eine eigene Theorie der Freiheit und stellt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Verteidigung und Ausweitung der Freiheits-Optionen in Gegenwart und Zukunft dar.

Freiheit stellt für den Autor den obersten Wert dar, so eine Art Lebenselixier und Voraussetzung für alle anderen Werte und Tugenden. Für ihn ist ganz entscheidend, dass es nicht in erster Linie um “negative” Freiheit geht (also die Abwesenheit von Zwang), sondern um die aktiven Gestaltungsmöglichkeiten in einer konkreten gesellschaftlichen Situation.
Der Hauptteil seines Buches besteht in der Ausarbeitung von 5 grundlegenden Faktoren, durch die Freiheit – seiner Überzeugung nach – bestimmt und ermöglicht wird:
Souveränität (Kontrolle über den Körper und die eigenen Entscheidungen)
Unvorhersehbarkeit (Raum für kreative und autonome Lebensgestaltung)
Mobilität (im geographischen und sozialen Sinn)
Faktizität (die Möglichkeit, sich an Fakten und Wahrheiten zu orientieren)
Solidarität (erste der soziale Zusammenhalt ermöglicht und sichert persönliche Freiheit)

SNYDER ist ein sprachgewaltiger Autor, dem es zweifellos Freude macht mit starken Begrifflichkeiten ausgiebig zu arbeiten und zu spielen. Er schöpft die sprachlichen Möglichkeiten seiner Argumentationslinien bis an die Grenzen aus, schreckt dabei auch vor einer gewissen Redundanz und gelegentlichen Überfrachtungen nicht zurück.
Die Form seiner Darstellung hat etwas Apodiktisches: SNYDER ist sich seiner Sache ganz offenbar immer ganz sicher – fragende oder vermutende Gedanken sind seine Sache nicht. Eine Tendenz zur Selbstbezogenheit bzw. Selbstverliebtheit kann man dem Text nicht ganz absprechen…

Der Autor bleibt keineswegs auf der abstrakten Ebene stecken: Es geht ihm immer wieder auch um konkrete Ausgestaltungen der gesellschaftlichen Realität – vom lokalen Journalismus, über ökologische Verantwortung bis in die Bildungspolitik. Konkret fordert er seine Leserschaft zur aktiven Mitarbeit am demokratischen Gemeinwesen auf.

Nebenbei erfährt man von SNYDER übrigens auch eine Menge über zeitgeschichtliche Prozesse und Ereignisse; Explizit nimmt der Osteuropa-Experte Bezug auf die jüngere Geschichte der Ukraine, auf Putins Russland und auf die erste Trump-Präsidentschaft. Man bekommt einen nachhaltigen Eindruck davon, was dieser Freiheits-Fan wohl zu dem anstehenden Trump-Revival denken und sagen würde…

Dieser Text enthält eine Vielzahl von intelligent und kreativ formulierten Gedanken und Erkenntnissen, denen man sich als aufgeklärter, weltoffener und menschenfreundlicher Zeitgenosse kaum entziehen kann bzw. möchte. Oft denkt man, dass SNYDER einem “aus der Seele” spricht.
Und trotzdem könnte man es an bestimmten Punkten als einen “Tuck zu viel” empfinden – zu viel Wiederholungen, zu viel Eigenbezug, zu viel Emphase, zu viel Selbstüberzeugung.
Der Text könnte sicher davon profitieren, um ca. 20% gekürzt zu werden.

“Über Freiheit” bleibt ein lohnendes Leseerlebnis. man sollte sich allerdings auf den etwas ausladenden Stil des Autors einstellen.

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“Hoffnung” von Philipp BLOM

Bewertung: 4 von 5.

Hoffnung und Klugheit zu verbinden – das ist schonmal eine Ansage!
Ohne Zweifel generiert der – als Journalist und vor allem als Historiker – bekannte Autor in diesem Essay eine Menge kluger Gedanken, die weit über das Begriffsfeld “Hoffnung” hinausreichen.

BLOM steht für eine sanfte Form des Intellektualismus: Er verbindet auf eine unaufgeregte und einladende Art persönliche Erfahrungen mit philosophischen, zeitgeschichtlichen, gesellschaftlichen, psychologischen und kulturgeschichtlichen Betrachtungen.
Als Stilmittel hat der Autor eine briefliche Stellungnahme auf die Frage eines jungen Zuhörers gewählt, der nach einer Veranstaltung die Kernfrage des Buches formuliert hat: Kann man in diesen Zeiten noch realistischer Weise Hoffnung empfinden – ohne sich in naiven Illusionen zu verstricken?

BLOM umkreist die Thematik, macht unermüdlich verschiedene Perspektiven auf, startet mal bei den griechischen Göttern, mal bei den Chancen einer glücklichen Beziehung, mal bei der Klimakatastrophe und mal bei der digitalen Verflachung der Kultur.
Von seiner Haltung ist BLOM modern und konservativ zugleich: Er hält nichts von der Rückwärtsgewandtheit zu alten Zeiten oder zu religiösen Prophezeiungen (das wäre für ihn intellektuell unredlich), er sieht aber unseren Naturbezug als wesentlich bedeutsamer und heilsamer an als die Schwärmereien der KI-Visonäre.

Hoffnung ist für BLOM kein oberflächliches Gefühl, für das man sich mal so eben entscheiden könnte. Er leitet die Chance zur Hoffnung auch nicht aus irgendwelchen Trends oder Zukunftsversprechungen ab. Ganz im Gegenteil: Auf der faktischen Ebene gibt es wenig Positives zu vermelden.
Der Autor gräbt tiefer: Für ihn sind hoffnungsvolle Haltungen zur Welt eng verbunden mit dem unauflösbaren Bedürfnis nach Sinngebung für das eigene Leben und mit der Einbettung des individuellen Schicksals in eine längerfristigen Perspektive. Er hält es für eine Fehlentwicklung, dass wir eine Art Anspruchshaltung auf persönliches Lebensglück entwickelt haben – insbesondere in unseren westlich-liberalen Gesellschaften. Für BLOM ergibt sich Sinn und Hoffnung durch das alltäglich Tun, durch Anstrengungen und den Einsatz für größere Ziele. Er verschmäht die Abkürzung zum schnellen Erfolg, sieht das typisch Menschliche in dem körperlichen Austausch mit der materiellen Umwelt (statt mit ihrer digitalen Simulation).

Sinn und Hoffnung wird – da ist der Autor ganz im Trend – durch haltgebende und verbindende Narrative repräsentiert und vermittelt. Ohne gemeinsame Geschichten, die uns mit unserer Vergangenheit und unseren Mitbürgern verbinden, lässt sich weder individuelles Leben, noch funktionierende Gemeinschaft gestalten.
BLOM sieht die Lücke, die durch die verlorengegangenen religiösen Narrative entstanden ist – mit seinem Buch macht er ein paar Vorschläge, wie diese Lücke möglicherweise zu füllen wäre.
Ob man auch ohne jede Form von “Ersatzglauben” – in voller Akzeptanz der Absurdität, Zufälligkeit und Sinnlosigkeit des Daseins – ein psychisch gesundes und erfülltes Leben führen könnte, wäre vielleicht eine Diskussion wert gewesen. BLOM ist da recht eindeutig: Für ihn ist die Suche nach Sinn eine Art Naturkonstante.

BLOM hat keine fertigen, erst recht keine endgültigen Antworten auf die Frage nach der Hoffnung; er hat aber ein kluges, nachdenkliches und – und darauf kam es ihm vermutlich an – ermutigendes Plädoyer gegen das “Aufgeben” verfasst: ohne Hoffnung wäre für ihn das Leben wohl nicht lebenswert. Über Sinn und Hoffnung in einer KI-bestimmten digitalen bzw. virtuellen Welt muss sich wohl jemand anderes Gedanken machen…

Der andere Weg zum Buch:

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“Teufelsgold” von Andreas ESCHBACH

Bewertung: 1.5 von 5.

Eine Zeitlang kann man mitgehen und mit Hoffnung auf die Erzählkunst des Autors den beiden Handlungssträngen folgen, zwischen denen – rein historisch betrachtet – einige Hundert Jahre liegen.

Es geht um den Stein der Weisen, um Alchemismus und die offenbar zeitlose Sehnsucht, mithilfe einer mehr oder weniger magischen Altertums-Chemie das begehrte Gold herzustellen.
Der in der Jetztzeit lebende Protagonist, ein vom Durchschnitts-Leben leicht frustrierter Bankberater, gerät per Zufall in die Verstrickungen einer geschichtsbessenen Szene von Hobby-Historikern und Resteverwaltern von alten Ritterorden. Sein Leben wird durch das Eintauchen in die vergangenen Welten ziemlich durcheinandergerüttelt – bis in die privatesten Winkel.

Was zunächst ganz unterhaltsam und interessant beginnt und auch einen historischen Informationswert entfaltet, wendet sich allerdings in der zweiten Hälfte des Buches in ein restlos abstruses Gemisch aus Fantasy, Krimi, Thriller und Beziehungsdrama.

Man muss schon ein hartgesottener ESCHBACH-Fan sein – oder ein Rezensent (der sich verpflichtet fühlt), um diesem Plot bis zum bitteren Ende zu folgen.
Mein Rat: Schnell weglegen und eines der zahlreichen lohnenden Romane des Autors wählen!

“Alles KI?” von Christoph SANTNER

Bewertung: 4.5 von 5.

Wurde nicht schon alles gesagt bzw. geschrieben – zum Trendthema KI? Ist nicht schon – ähnlich wie bei Klima- und Nachhaltigkeitsbüchern – inzwischen der Punkt erreicht, wo sich journalistische Darstellungen nur noch in Nuancen unterscheiden?
Hat der Journalist und “AI-Strategist” also ein weitgehend überflüssiges Buch geschrieben?
Meine Antwort: Nein, keineswegs!

Der Autor bedient mit seinem niederschwelligen Text durchaus eine Nische, die sich noch nicht sehr besetzt anfühlt. Er ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine offene und optimistischen Grundhaltung gegenüber der KI-Revolution, verbindet dabei die Faszination über die technologischen Optionen mit einem klar definierten humanistischen und sozialen Gesellschaftsbild. SANTNER huldigt nicht den Unsterblichkeitsfantasien der superreichen Tech-Milliardäre im Silicon-Valley; ihm ist offensichtlich ganz persönlich daran gelegen, dass die KI – zumindest mittelfristig – zu einer höheren Lebensqualität des normalen Alltagsmenschen beiträgt. Und er ist erstaunlich sicher, dass dies auch gelingen kann und (wahrscheinlich) auch gelingen wird.

Der Autor ist in diesem Buch immer wieder sichtbar. SANTNER macht sich und seine Rolle in der Szene der KI-Enthusiasten explizit zum Thema, schildert seine Erfahrungen auf diversen Konferenzen und Gremien, nennt seine internationalen Kontakte und Gesprächspartner. Einige dieser Interviews sind (auszugsweise) abgedruckt; der Rest findet sich auf der das Buch begleitenden Website.
SANTNERs Mission ist sowohl in, als auch zwischen den Zeilen permanent spürbar: Wir sollten die Chance, die uns diese Technologie bietet, nicht verstreichen lassen – aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch wegen der unzähligen Möglichkeiten beim Lösen unserer großen Probleme, für die Befreiung von Routine-Arbeiten, zur Beschleunigung von Forschung und Wissenschaft, für eine bessere Medizin, als Assistenten bei verschiedensten Aufgabenstellungen, als Unterstützung bei kreativen Prozessen, als Werkzeug zur Effizienzsteigerung und Ressourcenschonung, für Spiel und Spaß, usw.

SANTNER will nicht nur informieren, er will auch motivieren, aktivieren und Ängste abbauen. Dazu bietet seine Website auch gleich eine “eigene” KI zum Ausprobieren, außerdem jede Menge praktischer Anwendungs-Tipps. Der Autor gibt einen gut gegliederten Überblick über Tools aus verschiedenen Sparten; so wird dem KI-Neuling schnell klar, dass der Medien-Star “ChatGPT” nur einen kleinen Teil der KI-Welt repräsentiert.

Insgesamt strahlt dieses Buch etwas Lockeres und Leichtes aus: “Ja, es gibt Gefahren, man muss aufpassen – aber lasst euch nicht durch die Bedenkenträger die Chancen und das Vergnügen nehmen, an einer besseren Welt mitzuarbeiten.” Die wird es nämlich – so ist SANTNER überzeugt – ohne KI ganz bestimmt nicht geben.
Am liebsten würde der Autor sich gleich mit allen Gleichgesinnten Lesern/Leserinnen zusammenschließen an an gemeinsamen Weltverbesserungs-Projekten arbeiten; an entsprechenden Initiativen ist er schon beteiligt.

Es gibt sicherlich tiefgründigere Betrachtungen und kritischere Abwägungen zum Thema KI. Dieses Buch richtet sich nicht an Technik-Nerds und nicht an Mitglieder von Ethik-Kommissionen; es spielt nicht in der Liga von HARARIs “Nexus”. Es ist – man verzeihe mir diese Analogie aus dem Reich der Zeitschriften – eher eine “Computer-Bild” als eine “ct”. Um es positiv zu sagen: Das KI-Buch von SANTNER ist absolut Mainstream-tauglich!

SANTNER liefert ein tolles Beispiel dafür, dass man Begeisterung für modernste Technologie mit einem klaren Bekenntnis zu menschlichen Werten und Zielen kombinieren kann. So etwas könnte es gerne häufiger geben!

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“Gedanken hinter Gittern” von Andy WEST

Bewertung: 4 von 5.

Eine ungewöhnliches Buch über eine ungewöhnliche Tätigkeit und die darin gemachten Erfahrungen.

Der Ich-Erzähler ist ein Philosophie-Dozent, der sein Fach in diversen britischen Strafanstalten vor Gruppen von freiwilligen Straftätern unterrichtet. Genau darüber schreibt WEST in diesem autobiografischen Buchprojekt. Da auch der Autor – wie sein Erzähler – aus einer Familie stammt, in der mehrere Mitglieder eigene Erfahrungen als Gefängnis-Insassen hatten bzw. haben, kann man davon ausgehen, dass dieses Buch kaum fiktionale Anteile enthält. Autor und Erzähler sind also (weitgehend) identisch.

Der Text setzt sich aus folgenden Elementen zusammen:

  • Beobachtungen und Reflexionen rund um die Besuche in den Strafanstalten (insbesondere kurze Charakterisierungen der teilnehmenden Straftäter, aber auch atmosphärische Schilderungen des Kontextes – z.B. Geräusche, Gerüche oder das Verhalten des Wachpersonals)
  • Schilderungen den Unterrichtsstunden (Themen, Fragen und Reaktionen der Gefangenen)
  • Berichte über Kontakte zu Familienmitgliedern (Abläufe und Reflexionen)
  • Selbstreflexionen zu Ängsten, Schuldgefühlen und Zwangsgedanken und -handlungen

Die Kapitel des Buches sind nach 20 praktisch-philosophischen Begriffen gegliedert; dazu gehören z.B. Wahrheit, Erlösung, Vertrauen, Freundlichkeit, Glück, Freiheit, usw.
Als Einstieg in das jeweilige Thema gibt der Dozent eine – meist aus der philosophischen Literatur bekannte – Situation oder ein Gedankenspiel vor und fragt dazu nach der Meinung seiner Gruppenteilnehmer.

Die Stärke des des Textes von WEST liegt vor allem in der Authentizität der dargestellten eigenen inneren emotionalen und kognitiven Prozesse und in der atmosphärischen Dichte der Beschreibungen sowohl von Situationen als auch von sozialen Reaktionen und Beziehungen.
WEST gelingt es, seinen “Schülern” selbst in den absurdesten und verletzlichsten Momenten mit Respekt zu begegnen und über sie unter Wahrung einer unzweifelhaften persönlichen Würde zu schreiben. Die Teilnehmer seiner Gruppen werden an keiner Stelle zu Objekten degradiert: selbst in schwierigsten oder vermeintlich gescheiterten Momenten geht es WEST immer um menschliche Begegnungen.

Ein Grund für dieses starke empathische Einlassen lässt sich schnell in der biografischen Verstrickung des Autors finden: Immer wieder scheint es fast einen kontinuierlichen Übergang zwischen den Innensichten aus den Gefängnissen und den Erinnerungen und Beobachtungen seines familiären Umfeldes (Vater, Bruder, Onkel) zu geben. Die für die meisten Leser wohl eindeutige Trennung der beiden Welten (drinnen und draußen) hat für den Autor niemals existiert. Dass WEST selbst aus diesem Milieu entkommen konnte, bereitet ihm offensichtlich lebenslang Schuldgefühle, die er mit seinem Engagement für die Zielgruppe abarbeitet.

Nicht übersehen werden sollte die gesellschaftliche Botschaft, die der Autor in seinen Text eingewoben hat. Für ihn besteht kein Zweifel an den prägenden und bestimmenden biografischen Faktoren, denen die Straftäter ausgesetzt waren. Es erscheint in diesem Kontext geradezu absurd, von einer “freien” Entscheidung für eine kriminelle Karriere auszugehen. Interessanter Weise sehen das die Gefangenen selber oft ganz anders – und verteidigen Ihre “Freiheit” (und damit ihren Stolz und ihren Selbstwert) gegen alle Logik.

Überhaupt stecken in den spontanen Äußerungen der Gruppenmitglieder auf die angebotenen philosophischen Ausgangslagen immer wieder verblüffende, anrührende und manchmal auch beschämend “weise” Gedanken über Gott und die Welt. Manche Antworten verdienen es, innezuhalten und Demut zu spüren. In solchen Momenten strahlt dieses Buch mit wenigen “einfachen” Worten mehr Klugheit und Verstehen aus, als das so mancher hochsprachlicher Essay es vermag.

WEST macht ganz offensichtlich einen tollen, zutiefst menschlichen Job – und hat darüber ein nachdenkliches, sehr persönliches und erhellendes Buch geschrieben.
Dass vielleicht nicht jeder Leser/jede Leserin so viel Interesse an den persönlichen Macken (biografischen Verletzungen) des Autors aufzubringen vermag, muss dabei in kauf genommen werden.

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“Eine Billion Dollar” von Andreas ESCHBACH

Bewertung: 4.5 von 5.

Ein ESCHBACH aus 2001, das Hörbuch von 2014, als Serie verfilmt 2023. Von mir nach knapp 10 Jahren Pause nochmal gehört (28 Std,) und jetzt auch rezensiert.
Das hat dieses Buch ganz sicher verdient!

Der Bestseller-Autor hat hier eine Story vorgelegt, die auf mehreren Ebenen bemerkenswert ist. Allein Umfang und Intensität der Handlung führt die Leserschaft in eine eigene Welt, in der man sich nach kurzer Zeit dauerhaft einzurichten bereit ist. Das Themenkombination “Geld und Weltrettung” hat einen zweifachen Aufforderungswert: einmal für die Menschen, bei denen die Fantasie eines geradezu unendlichen Reichtums einen angenehmen Kitzel auslöst, andererseits für diejenigen, denen die Einflussnahme auf die Geschicke unseres geschundenen Planeten am Herzen liegt.

Die märchenhafte Geschichte von dem – aus historischen Quellen stammenden – überraschenden Billionen-Erbe kann ESCHBACH aber auch dafür nutzen, der kapitalistischen Wirtschaftsordnung einer gründlichen, faktenreichen und vor allem kritischen Analyse zu unterziehen. In einer akribischen Detailliertheit schildert er die Grundlagen des internationalen Finanzsystems, die halbseidenen, oft brutalen Kampf der multinationalen Konzerne um die Marktherrschaft und die hilflose Abhängigkeit der vermeintlich so mächtigen Politik..

Es ist wirklich eine herausragende Leistung des Autors, über eine so lange Strecke das Gleichgewicht zwischen dem “privaten” Handlungsbogen und seinem “Grundkurs” in Betriebs- und Volkswirtschaft zu halten. Doch damit nicht genug: Mit einer – für das Jahr Erscheinungsjahr 2001 – bemerkenswerten Klarheit und Differenziertheit werden die großen Menschheitsprobleme und -aufgaben beschrieben. Leider ist das heute alles noch genauso aktuell!

Möglich wird das alles dadurch, dass ESCHBACH eine komplexen Plot konstruiert, in dem einige wirtschaftliche Hauptakteure mit unterschiedlichen Motiven und unterschiedlicher Moral tätig sind. Daneben gibt es eine Reihe von Handlungsfäden und Figuren, die dafür sorgen, dass auch das menschlich allzumenschliche seinen Raum bekommt: der Pizza-Bote, der zum reichsten Menschen der Welt wird; eine rührend traditionelle Anwalts-Dynastie; ein machtversessener Egomane, ein neidischer Bruder; ein chaotischer Kumpel aus dem Vorleben; eine engagierte Historikerin, die später an Bedeutung gewinnt, usw.
Zusammen bildet das alles einen kunstvoll gewebten Teppich, der einen unterhaltsam durch die vielen Stunden trägt.
Dabei tragen nicht nur die wirtschaftlichen Detailschilderungen, sondern auch der häufige Bezug auf Personen und Ereignisse der realen Zeitgeschichte dazu bei, der Story eine grundlegende Glaubwürdigkeit zu verschaffen.

Wie bei einer so monumentalen Geschichte zu erwarten, ist nicht jede Weichenstellung von einer zwangsläufigen Folgerichtigkeit untermauert. So kann man sicherlich zwischendurch daran verzweifeln, dass der gutmeinende Billionär seinen Geschäftsführer so lange in einer Richtung gewähren lässt, die seinen Zielen eigentlich entgegenstehen. Auch vermag man nur schwer nachzuvollziehen, warum man nicht mit einem Teil des großen Vermögens schonmal eindeutig gute und vernünftige Dinge tun kann.
Aber irgendwann merkt man dann: Die Story braucht das so.

Ein wenig nagt natürlich auch der Zeitgeist an dem Plot: Dass die Künstliche Intelligenz am Ende des letzten Jahrhunderts noch keine Rolle spielte, kann man sicher gut verkraften.
Was man jedoch irgendwann kaum mehr übersehen kann, ist die Verschiebung der Maßstäbe, die sich im letzten Vierteljahrhundert vollzogen hat: Zwar wäre 1 Billion Dollar auch heute noch ein absolut riesiges Vermögen – es würde aber im globalen Maßstab bei Weitem nicht mehr die dem Buch unterlegte spektakuläre Rolle spielen. In einer Welt des geradezu perversen Reichtums, die inzwischen Menschen mit einem Privatvermögen von über 200 Milliarden Dollar beherbergt, relativieren sich auch die 1000 Milliarden.

Angesichts der Qualitäten dieses Romans verwundert es nicht, dass es doch noch zu einer Verfilmung gekommen ist (über deren Qualität hier nichts gesagt werden kann). Wenn in diesem Zusammenhang auch dem Original-Manuskript noch einmal Aufmerksamkeit geschenkt wird, ist das mehr als angemessen.
Wer jemals ein ESCHBACH-Buch mit Vergnügen gelesen hat, sollte dieses Werk auf keinen Fall auslassen!

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“Moralische Ambition” von Rutger BREGMAN

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Autor von “Im Grunde gut” bleibt seinem Thema treu: Mit seinem aktuellen Werk spricht er Menschen mit dem eindeutigen Ziel an, sie zu einem beruflichen Engagement der besonderen Art zu motivieren. BREGMAN ist nämlich davon überzeugt, dass eine Tätigkeit ohne eine moralische Relevanz nichts anderes bedeutet als vergeudete Lebenszeit.
Speziell wendet er sich an eine Zielgruppe, die zwei Merkmale in sich vereinen: ein inhaltliches Interesse an Zielen, die die Welt zu einem besseren (gesünderen, gerechteren, nachhaltigeren) Ort machen würden, und die Bereitschaft sich mit vollem Einsatz dafür auf der Handlungsebene zu engagieren. Der Autor wirbt nachdrücklich dafür, bisherige Karrierepläne bzw. Berufswege zu hinterfragen und in das Team “Weltverbesserung” zu wechseln. Als Belohnung stellt er ein sinnhafteres und erfüllteres (Berufs-)Leben in Aussicht – ausgelöst durch die Gewissheit, auf der “richtigen” Seite der Geschichte zu stehen (beim moralischen Fortschritt). Ein noch so gut bezahlter “Bullshit-Job” könnte da doch keine ernsthafte Alternative sein – oder?

Wer den niederländischen Historiker kennt, weiß von seiner Fähigkeit, Geschichten aus der Geschichte zu erzählen. Genau das tut BREGMAN auch diesmal auf unterhaltsame Weise.
Der Autor führt am Beispiel einer Reihe von – mehr oder weniger bekannten – Vorbildern aus, in welchem Kontext, auf welchen Wegen und auf der Basis welcher Kompetenzen – oft spontane – persönliche Weichenstellungen zu erstaunlichen Langzeitwirkungen geführt haben. Dabei geht es ganz gewiss nicht um Kleinigkeiten, sondern um wahrhaft historische Entwicklungen wie die Abschaffung der Sklavenwirtschaft, die Gleichberechtigung der Frauen oder den Kampf um Verbraucherrechte.
BREGMAN leitet aus den exemplarischen Schilderungen auch bestimmte grundlegende Prinzipien ab, die er für die Umsetzung der moralischen Ambitionen für unerlässlich hält: Es geht um die Herabsetzung der individuellen Handlungsschwelle, um die Notwendigkeit einer Eingliederung in ein solidarisches Team, um das Inspirierenlassen durch (gerne auch etwas schräge) Modelle, um die Erweiterung des “moralischen Kreises”, um Kreativität, Hartnäckigkeit und Unbeugsamkeit.

Diese geführte Wanderung durch die Landschaft des moralischen Fortschritts ist ausgesprochen informativ und vergnüglich. Er soll aber vor allem Mut machen und Lust wecken für ein eigenes Abenteuer; auch das gelingt dem Autor.
Auch wenn BREGMAN betont, dass man im Kampf für eine bessere Welt keine halben Sachen machen sollte (“mit ein paar Klicks im Internet ist nichts gewonnen”), so warnt er am Ende doch die Übereifrigen vor einer Selbstüberforderung und erinnert an andere legitime Lebensinhalte.

Die Ernsthaftigkeit und der Anspruch des Autors wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass BREGMAN sein Buch mit einem eigenen international angelegten Projekt hinterlegt hat. In seiner “School für Moral Ambition” will er konkrete Projekte anstoßen und begleiten und so aus seiner theoretischen Idee reale gesellschaftliche Initiativen erwachsen lassen. Nur logisch erscheint auf diesem Hintergrund, dass BREGMAN u.a. die Erlöse dieses Buches in diese Stiftung einfließen lassen will.

Man kann diesem anregenden und engagierten Buch mit gutem (moralischen) Gewissen einen großen Erfolg wünschen.

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“Systemsturz” von Kohei SAITO

Bewertung: 2.5 von 5.

Dieses Buch könnte ein wichtiger Beitrag zum politischen Diskurs sein: Es entlarvt die Schwächen der Idee vom “grünen Kapitalismus” (der immer noch viel zu viele Ressourcen verbrauchen würde) und zeigt eine Alternative auf, die sich von der heiligen Kuh des Wirtschaftswachstums befreit und auch traditionelle Konzepte integriert, die von einem Allgemeineigentum an grundsätzlichen Ressourcen ausgehen. Er nennt sein Konzept “Degrowth-Kommunismus”.
Das ist alles zwar ziemlich radikal (und ein wenig utopisch) – aber durchaus stichhaltig und überzeugend (wenn man die ökologische Krise unseres Planenten wirklich ernst nimmt). Sich mit Post-Wachstums-Modellen intensiver zu befassen, wäre also ein Gebot der Stunde.

Das Problem mit diesem Buch liegt woanders: Es wurde ganz offensichtlich für Menschen geschrieben, deren Weltbild auf dem Marxismus fußt. Das führt dazu, dass der japanische Philosoph SAITO einen großen Teil seiner Ausführungen auf den Nachweis verwendet, dass der “späte Marx” (nach Veröffentlichung des “Kapitals”) von einigen seiner Grundpositionen abgerückt sei und sich – tatsächlich auch aus ökologischen Erwägungen – eben einem Kommunismus ohne Orientierung an weiterem Wirtschaftswachstum zugewandt habe.

Umgekehrt bedeutet das leider: Für eine Leserschaft, denen der Grad der Vereinbarkeit von ökologischen Zukunftskonzepten mit dem Denken von Karl Marx völlig nebensächlich erscheint, wird das Lesen von SAITOs Buch über weite Strecken zu einer echten Zumutung.
Das ist auch deshalb so eindeutig, weil der – aufgrund der vielen gestelzten (neo-)marxistischen Begrifflichkeiten (“Produktivismus”, “Konsumismus”, usw.) – sowieso schon hölzern wirkende Schreibstil auch noch extreme Redundanzen aufweist.

Der “Systemsturz” ist mit Sicherheit für Marxismus-Seminare eine große Bereicherung und wird vermutlich auch deshalb in entsprechenden akademischen Kreisen weltweit Beachtung finden.
Wem es schlichtweg um die ökologische Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise geht, sollte sich mit einem kurzen Blick auf die Kernthesen begnügen bzw. die Post-Wachstums- und Gemeinwohl-Ideen aus anderen Quellen schöpfen.

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“Wir. Tagebuch des Untergangs” von Dmitry GLUKHOVSKY

Bewertung: 4 von 5.

Es ist ein umfangreiches politisches Tagebuch, das der russische Bestseller-Autor hier vorlegt. Aus den letzten ca. 10 Jahren stammen die Statements (Blogbeiträge, Essays), die sich jeweils auf aktuelle politische Ereignisse in Putins Russland beziehen.
Der Autor wertet die Original-Texte dadurch auf, dass er sowohl den zeitgeschichtlichen Kontext ausführlich erläutert, als auch eine Bewertung aus der aktuellen Perspektive (Sommer 2024) beifügt. So ist sichergestellt, dass alle Ausführungen auch ohne genaues historisches Detailwissen nachvollziehbar sind.

In diesem Buch geht es permanent zur Sache: Hier wird nicht über Bande kommuniziert, hier werden keine Gleichnisse aufgemacht oder Bilder benutzt. GLUKHOVSKY betätigt sich als politischer Kommentator, immer direkt am Thema, faktenbasiert, angriffslustig, parteilich.
Was seinen Beiträgen auszeichnet: Der Autor bringt seine – aus seinen literarischen Werken bekannte und geschätzte – Sprachkunst und Sprachgewalt unüberhörbar auch in diese Texte ein. Er formuliert eindeutig, intensiv, ohne Rücksicht auf irgendwelche diplomatischen oder taktischen Gepflogenheiten. er spricht von “Kleptokratie”, von “Gangsterbande”, von “faschistoiden Methoden”.

GLUKHOVSKY prangert auf der einen Seite Putin und seine Machtclique an, nimmt aber auch immer wieder sein Volk ins Visier: Er sieht zwar die Mechanismen der Propaganda, der Lügen und der systematischen Verdummung durch die Staatsmedien – gleichzeitig beklagt er aber auch die Gleichgültigkeit und die Verführbarkeit. Verständnis hat er für die Ängste: Es gibt schon lange keinen Spielraum mehr für abweichende Meinungen.

Das Buch endet mit dem Tod von Nawalny. Für den Autor ist dieser wohl bekannteste Oppositionelle der letzten Jahren ein Vorbild und ein Held – jemand, der Putin durch die Kraft seiner Persönlichkeit hätte gefährlich werden können.
GLUKHOVSKY selbst lebt im Exil. Seine öffentlichen Äußerungen machen ihn zu einem Outlaw, dieses Buch sicher noch stärker als jemals zuvor.

Wer eine starke, unverfälschte und kämpferische Stimme der russischen Opposition hören möchte, bekommt das in diesem Buch geliefert. Nicht erwarten kann man abwägende Differenzierungen: Die Gegner sind klar identifiziert; sie werden als menschenverachtend und kompromisslos machtgeil und korrupt vorgeführt.
Wer sich die Entwicklung der letzten 10 Jahre aus dieser Perspektive noch einmal vorführen lassen will, ist mit diesem Buch bestens bedient. Wer eine distanzierte journalistische Analyse sucht, sollte woanders zugreifen.

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“Vom Mythos des Normalen” von Dr. Gabor MATÉ

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buch hat nicht nur einen beträchtlichen Umfang (570 Textseiten), sondern bringt auch inhaltlich einiges auf die Waage.
Für die Besprechung und Bewertung ist dabei vor allem bedeutsam, dass der Text ein weites Spektrum an Perspektiven und Facetten beinhaltet, die durchaus unterschiedliche Reaktionen auslösen können. Genau das wird in dieser Rezension zum Thema werden.

In diesem persönlich und engagiert geschriebenen Sachbuch geht es um Zusammenhänge zwischen (meist frühen) Lebenserfahrungen (Traumatisierungen, Belastungen) und (überwiegend psychischen) Störungen bzw. Erkrankungen im Erwachsenenalter. Dabei werden solche Zusammenhänge nicht nur dargestellt und mit empirischen Belegen unterfüttert, sondern es werden zahlreiche erklärende Wirkmechanismen beschrieben, z.B. Einflüsse auf neuronale Stress-, Selbstregulations- und Belohnungssysteme, aber auch auf (chronifizierte) Entzündungszustände.

MATÉ bleibt aber nicht aus der individuellen Betrachtungsebene stehen, sondern fokussiert auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einerseits die spezifischen Risikofaktoren zulassen, andererseits eine – aus seiner Sicht – geradezu toxische kulturelle Umgebung schaffen. Die Beschreibung der Aspekte dieser entwicklungsfeindlichen Umwelt ist ein zweiter inhaltlicher Schwerpunkt dieser Publikation. Im Kern geht es um unsere auf Konkurrenz, Selbstbezogenheit und Konsum ausgerichtete Wirtschaftsordnung, in der die kindlichen bzw. menschlichen Grundbedürfnisse nicht die notwendige Berücksichtigung finden.

In seiner Argumentation bezieht sich der Autor auf ein grundlegendes Persönlichkeits- bzw. Gesundheitsmodell, in dem jedes (erzwungenes) Abweichen von einem – bei jedem Menschen angelegten – “authentischen Selbst” eine Gefährdung für das langfristige körperliche und psychische Wohl darstellt. Umgekehrt sieht MATÉ die größte Chance der Heilung weniger in symptombezogenen Maßnahmen (der er keineswegs prinzipiell in Frage stellt), sondern in der Bewusstwerdung der eigenen biografischen Verletzungen und in einer Abkehr von fremdgesteuerten Zielen und Konzepten – die sich z.B. in einer übertriebenen Anpassung an sozialen Erwartungen bzw. in der Unfähigkeit der Selbstfürsorge zeigt).

Im letzten Teil des Buches erweitert MATÉ den Rahmen seiner Betrachtungen um spirituelle Dimensionen und verlässt dabei die – bis dahin sorgsam gepflegte – empirische Grundierung. Hier geht es um die Zusammenarbeit mit Schamanen, indigenen Heilern und den Einsatz von psychedelischen Substanzen. Es wird deutlich, dass dem Autor die wissenschaftlich erfassbare Welt zu eng wird, um seine eigenen Erfahrungen und die Vorstellungen von einem ganzheitlichen menschlichen Sein dort unterzubringen.

Um es kurz zu sagen: Was als kenntnisreicher und faktenbasierter Überblick über die Auswirkungen früher Belastungen und gesellschaftlicher Risiken auf die psychische Gesundheit beginnt, mündet in einem spirituell-esoterischen Weltbild, das wohl von den sehr persönlichen – auch drogeninduzierten – Bewusstseinsreisen des Autors nicht mehr zu trennen ist.

Gehen wir zurück zum ersten Teil:
Der Autor löst folgenden Widerspruch nicht auf: Auf der einen Seite führt er überzeugende Befunde für die Bedeutung früher Prägungen für die basalen physiologischen und psychischen Strukturen an, spricht aber gleichzeitig permanent von einem “wahren Selbst”, zu dem man irgendwie wieder finden muss, um gesund zu werden. Wie entsteht denn bitte dieses wahre Selbst?
MATÉ ist überzeugt davon, dass es keine (psychischen) Krankheiten gibt, die nicht Ausdruck und Folge belastender Lebensereignisse sind. Er bestreitet dabei nicht, dass sich organische Korrelate im Gehirnstrukturen bzw. bei den beteiligten Neurotransmittern finden lassen; seine Kausalkette hat aber eine eindeutige Richtung: Das Leben macht das Gehirn “krank” – und nicht umgekehrt! Ob das wirklich ohne Ausnahme gilt, darf bezweifelt werden; jedenfalls dient es nicht der Glaubwürdigkeit, wenn etwas so unumstößlich formuliert wird.
Der Autor führt immer wieder beeindruckende Fallbespiele an, in denen eine innere Einsicht bzw. eine Neuausrichtung von Lebensprioritäten zu spektakulären Heilungserfolgen führte (mit und ohne begleitende schulmedizinische Maßnahmen). In diesem Übergangsbereich des Buches werden also keine kontrollierten Untersuchungen mehr angeführt (der Autor verweist in einigen Fällen auf geprüfte Krankenunterlagen).

Es besteht kein ernstzunehmender Zweifel daran, dass – z.B. durch Therapie angestoßene – psychische Prozesse (Einsicht, Aufgabe jahrzehntelanger Selbstverleugnung und Neuorientierung) eine enorme Selbstheilungswirkung (sogar auf Krebserkrankungen) entfalten können. Trotzdem ist natürlich der Erkenntnisgewinn anekdotischer Berichte immer begrenzt.
Auch ist glaubhaft (und inzwischen auch zuverlässig belegt), dass Erfahrungen die im Kontext von angeleiteten spirituellen Verfahren (mit oder ohne Drogenunterstützung) gemacht werden, bemerkenswerte Wirkungen auf sogar verfestigte Störungsbilder haben können.
Das alles ist spannend und einer näheren Betrachtung wert.

Überzogen erscheint allerdings der Anspruch des Autors, aus seinem persönlichen Entwicklungsweg (den er zwischendurch immer wieder mal thematisiert) ein umfassendes und allgemeingültiges Weltbild von Krankheit und Heilung abzuleiten.
Hier wird jemand, der als Wissenschaftler gestartet ist, zum esoterischen Heiler und Prediger.
Ganz offensichtlich kann sich MATÉ nicht vorstellen, dass ein erfülltes, sinnhaftes und sozial bzw. ökologisch verantwortungsvolles Leben auch innerhalb eines rational-empirischen Kontextes möglich sein könnte – ohne Bezug auf Kräfte oder Erfahrungen, die aus einer prinzipiell anderen Dimension stammen.
Das mag ja für viele Menschen so gelten; für andere bleibt dann der – wirklich sehr informative – erste Teil des Buches.

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