Corona-Impfung: Precht und Wagenknecht auf dem Holzweg?

Ich bin selbst überrascht, dass mich das Corona-Thema nochmal aufrüttelt. Aber ich ärgere mich gerade – über die aktuelle Impf-Diskussion und wie einige Menschen sie führen. Dabei geht es mir nicht um die Ignoranten und Spinner (da kann man sowieso nichts machen), nicht um einzelne Promi-Sportler (die interessieren mich persönlich nicht), sondern um öffentliche Personen, die durch ihr politisches oder intellektuelles Wirken eine gewisse öffentliche Orientierungs-Funktion gewonnen haben.
Grundlage für meine Ausführungen sind der Auftritt von Sarah Wagenknecht bei Anne Will (am 31.10.) und der Lanz/Precht-Podcast (vom 29.10.).

In beiden Auftritten wird ein “öffentlicher Druck” beklagt, der in steigendem Umfang auf Impf-Unwillige ausgeübt werde. Dies sei (hauptsächlich) aus folgenden Gründen inakzeptabel:
– es gäbe keine rechtliche Grundlage für eine Verurteilung dieser Menschen
– die Entscheidung betreffe nur das eigene Gesundheitsrisiko
– die Ungewissheit bzgl. der Langzeitfolgen neuer Impfmethoden sei nachvollziehbar

Der erste Punkt ist schnell abgearbeitet: Es gibt keine Impfpflicht; wer sich nicht impfen lassen möchte begeht keine Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Fertig.

Die zweite These kann so nicht stehen bleiben.
Einmal ist es erwiesen, dass eine geimpfte Person auch im Falle einer Infektion weniger ansteckend für andere ist. Damit ist der persönliche Schutz auch ein Akt der Solidarität.
Das Risiko einer eigenen Erkrankung nicht durch eine Impfung zu minimieren hat aber noch viel weitergehende gesellschaftliche Auswirkungen: Die Covid-Behandlungen verursachen täglich enorme Kosten (von denen kaum jemand spricht), belasten die Mitarbeiter/innen in den Krankenhäusern bis an die Schmerzgrenze und verhindern die angemessene und zeitnahe Behandlung andere Krankheitsfälle. All das wäre vermeidbar!
Sich dagegen zu sperren, stellt m.E. eine beklagenswerte Übersteigerung eines individuellen Freiheitsbegriff dar – der sich selbstverständlich darauf verlässt, dass andere (die Allgemeinheit) die Folgen tragen.
Es stimmt, wir lassen es auch zu, dass Menschen auf anderen Wegen ihre Gesundheit ruinieren und damit das Gesundheitssystem belasten. Aber es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen individuellem Fehlverhalten (beim Essen, Trinken und bei der Bewegung) und dem Verhalten in einer Pandemie: Der liegt in der klaren Abgrenzung zwischen ja und nein. Es geht nicht um die Komplexität einer individuellen Lebensführung, sondern um einen Piks.

Kommen wir zu den Langzeitfolgen.
Es ist erschreckend, dass ein Berufs-Logiker wie Precht auf einem Auge blind ist. Zwar führt er an, dass man ja kurz nach der Einführung einer neuen Impfstoff-Technik späte Schädigungen vom Prinzip her nicht ausschließen könne. Er tut aber so, als ob die Wissenschaft keine Ahnung davon hätte, was da alles durch die neue Methode im menschlichen Körper passiert bzw. passieren könne. Er hat offensichtlich nicht verstanden, dass der mRNA-Wirkstoff nur deshalb funktioniert, weil man dessen Funktionsweise eben ganz genau kennt – und eben auch dessen Verhalten und Auswirkungen nach der Impfung (der Stoff wird nämlich – genauso wie die natürlich vorkommende RNA – kurzfristig abgebaut). Das, was da mit dem Virus passiert, weiß man, plant man, sieht man.
Es erscheint wie ein magisches Denken, eine Art grundsätzliche Wissenschaftsskepsis zu sein, alles was irgendwie “genetisch” ist, mit einem Misstrauen zu versehen. Wenn aufgrund der (gründlich) erforschten und verstandenen Prozesse klar ist, dass die Erbinformationen auf der DNA nicht verändert werden (können) – warum sollte man das mehr bezweifeln als alle anderen High-Tech-Medizin (der man sich bei Bedarf gerne anvertraut)?
Precht sagt (mehrfach), dass er Kinder nicht impfen lassen würde, weil deren Immunsystem ja noch “im Aufbau” wäre. Hat er sich wirklich damit befasst, was ein mRNA-Wirkstoff mit der generellen Entwicklung eines Immunsystems zu tun hat? Ich bezweifle das sehr.

Kurz gesagt: Mich ärgert, wenn Menschen mit einem öffentlichen Renommee sich anmaßen, ihre persönliche Meinung mit einer (zweifelhaften) medizinischen Argumentationen zu vermischen und zu begründen. Auch die bekundete relative Gewichtung von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Solidarität/Verantwortung finde ich bedenklich.
All das ist natürlich erlaubt – so wie fast alle Meinungsäußerungen. Aber es ist für mich enttäuschend.

“Diebe des Lichts” von Philipp BLOM

Bewertung: 4 von 5.

Der Historiker Philipp BLOM ist auch ein guter Geschichtenerzähler. Das beweist er in seinen lebendig geschriebenen historischen Sachbüchern, aber auch in Prosa-Texten, in denen Geschichte sich als an Einzelpersonen gebundener Handlungsfaden manifestiert.
Für sein neues Buch hat sich BLOM den Übergang vom 16. zum 17. Jahrhundert und als Schauplatz hauptsächlich das durch den Katholizismus geprägte Italien ausgesucht.
Inhaltlich steht neben den – von Machtgier und Menschenverachtung geprägten – Repräsentanten der Staatskirche – vor allem die Kunst der Malerei und das Leben der einfachen Menschen im Mittelpunkt der Betrachtung. Insgesamt entsteht so ein Bild von einer Welt voller Willkür und Gewalt, in der Schicksale einzelner Menschen kaum einen Wert haben.

Erzählt wird das Leben des “Blumenmalers” Sander, der als Kind in seiner holländischen Heimat durch einen brutalen Überfall Spanischer Besatzer traumatisiert wird. Zusammen mit seinem Bruder (der durch diesen Vorfall seine Sprache verliert), schlägt sich Sander auf abenteuerliche und beschwerliche Weise quer durch Europa und entwickelt dabei seine Malkunst bis zu einem professionellen Niveau.
In Rom gerät er als Mitarbeiter eines renommierten Künstlers schließlich in die (alles andere als brüderliche) innerkirchlichen Konflikte zwischen den verschiedenen Machtzentren. Seine Aufträge – halb Kunst, halb Intrigen – führen ihn nach Neapel und Palermo.
In Neapel begleiten wir Sander bei dem Versuch, sich unter den schwierigsten Bedingungen so etwas wie ein privates Glück aufzubauen. Doch dagegen stehen nicht nur die armseligen und oft menschenunwürdigen Lebensumstände, sondern auch mächtige Gegner mit ihren Interessen.

Insgesamt ist es ein buntes und facettenreiches Bild, das uns BLOM in diesem Roman zeichnet. Das sehr wortgewaltig ausgemalte “pralle Leben” ist – sicherlich historisch korrekt – für die allermeisten Menschen in erster Linie von Gewalt, Unterdrückung und Armut geprägt. Dies spürbar zu machen, war ganz sicher das Anliegen des Autors; ohne Zweifel ist ihm das gelungen.
Vermittelt wird die zentrale Machtstellung der Kirche, deren Vertreter sich von der ursprünglichen christlichen Botschaft Lichtjahre entfernt haben. Man bekommt ein Gefühl dafür, wie unauflösbar eng die Verbindung von Kunst und Religion in dieser Zeit war; ebenso wie menschenverachtend mit dem vermeintlichen Schutz der Kirche vor Zweifel und Ketzern letztlich persönliche Macht und Privilegien verteidigt wurden.
Ein Gemälde der Sittenlosigkeit.

Die erzählte Lebensgeschichte enthält ausreichend Spannung und Dynamik, um auch die Leser/innen bei der Stange zu halten, deren Hauptmotivation in dem Verfolgen eines Einzelschicksals liegt. Es schadet dem Genuss an diesem Buch sicherlich nicht, wenn man sich für Malerei dieser Epoche interessiert; BLOM lässt einige Stars des Kulturlebens als Nebenfiguren auftreten.

Insgesamt bietet BLOM keinen Ausnahmeroman, schenkt aber einen vielschichtigen Einblick in eine Epoche, in der man sein persönliches Leben sicher nicht hätte verbringen wollen.
Zivilisatorischer Fortschritt ist eben doch eine gute Sache; wir müssten “nur noch” dafür sorgen, dass er bei allen Erdenbewohnern ankommt und uns auch zukünftig erhalten bleiben kann.

Der neuer Bundestag – nur ein formales Theater?

Mich erfreut die insgesamt frische und zukunftsgewandte Stimmung, die von dem sich neu konstituierenden Bundestag ausgeht. Es entsteht der Eindruck, dass ein bisschen mehr Realität, Bürgernähe und Vielfalt in das “hohe Haus” eingezogen ist.
Es gibt erstaunlich viel neue und relativ junge Abgeordnete – unter ihnen sicher sehr viele Menschen, auf die die oft pauschalen Zuschreibungen – sie gehörten einer Art bürgerfernen privilegierten Kaste an – mit Sicherheit nicht passen.
Eine Chance für die Demokratie – insbesondere für die Einbindung der jüngeren Generationen.

Ein bisschen scheinen wir als Wahlbürger Glück gehabt zu haben. Außer bzgl. der Abwahl der CDU/CSU waren die Wahlergebnisse schließlich gar nicht so außergewöhnlich. Es war letztlich ein Verdienst der Parteien selbst, dass so vielen jungen Leuten der Einstieg in die Bundespolitik ermöglicht wurde. So kriegen wir als Bürger/innen mehr Erneuerung geschenkt, als wir uns selbst “verdient” haben.
Keine schlechte Bilanz für die so oft kritisierte Parteien-Demokratie.

Seien wir also heute ruhig mal ein bisschen stolz auf unser Gemeinwesen; auch wenn niemand so naiv sein wird, die weiter bestehenden Probleme und Risiken zu verleugnen.
Dort in Berlin sitzen eine Menge Menschen zusammen, die sich für unser Land ernsthaft engagieren. Es wirkt auch sympathisch, wenn man – so wie heute – beobachten konnte, wie oft auch sehr herzliche Glückwünsche über Parteigrenzen hinweg ausgetauscht wurden.
Es gibt nicht so fürchterlich viele Parlamente auf diesem Planeten, von denen man sich besser vertreten fühlen könnte.

Sondierungs-Ergebnisse

Man hat es ja geahnt: Natürlich würde es die FDP schaffen, den Fahrplan der Ampel am stärksten zu prägen.

Lindner war klug: Er hat sich sehr früh im Wahlkampf auf seine Essentials festgelegt (keine Schulden, keine Steuererhöhungen) und hat so zu einem Zeitpunkt “Rote Linien” definiert, der noch nicht in direktem Bezug zu Verhandlungen über eine Koalition standen. Von dieser sicheren Basis aus konnte er dann die Flexibilität der anderen Parteien einfordern. Tricky!

Dazu kommt offensichtlich ein besonderer Bonus, weil sich die FDP sozusagen am stärksten auf fremdes Terrain begeben hat. Das führt dann paradoxer Weise dazu, dass ihr fast eine Heimspiel-Situation geboten wird. Man staunt!

Für die GRÜNEN ist die Situation ziemlich schwierig. Sie stehen für den Klimaschutz – was dazu führt, dass auch alle die Beschlüsse, die ihre Partner auch von alleine hätten treffen müssen, auf das Konto der GRÜNEN gebucht werden. Sie müssen jetzt also “dankbar” für den Teil der Vereinbarungen sein, die ja weitgehend längst beschlossen sind (bzw. sich aus der allgemeinen Situation von selbst ergeben hätten).
Damit sind sie weitgehend abgespeist – und müssen den anderen Parteien andere Politik-Bereich überlassen.
(Erstaunlich ist es allerdings, dass die FDP scheinbar ihr gesamtes Wirtschaftsprogramm durchsetzen konnte, den GRÜNEN aber in ihrem Bereich noch nicht einmal das Tempolimit zugestanden wurde).

Über all das könnte man sich ärgern – bringt nur nichts.
Es gibt keine sinnvolle Alternative zu dieser Koalition. Es ist zu hoffen, dass in den Ausgestaltungen des Koalitions-Vertrages noch ein paar positive Überraschungen stecken.
Ansonsten bleibt die Hoffnung, dass sich insgesamt eine andere politische Stimmung im Land ausbreitet, die auch eine gewisse Eigendynamik erzeugt.
Außerdem muss man realistischer Weise davon ausgehen, dass nur die GRÜNE Regierungsbeteiligung garantieren kann, dass vereinbarte Ziele auch in konkrete Schritte umgesetzt werden. Deshalb lohnt sich das Ganze auf jeden Fall.
Bin nur gespannt, ob Kritik, Widerstand und problematische Folgen der neuen Klimapolitik dann auch gemeinsam getragen werden – und eben nicht bei den GRÜNEN abgeladen werden.

Darf es auch für Baerbock Konsequenzen geben?

Im Netz tobt eine Debatte, ob man (Mann) so mit einer – doch ziemlich gescheiterten – Kandidatin umgehen darf.
Für mich stellt sich eher die Frage: Warum lässt Annalena ihren Robert so im Regen stehen?

Es gab offenbar eine Absprache zum Thema: “Wie geht es nach einem nur mäßigen Erfolg weiter?” Die Kandidatin hatte ihre Chance, konnte sich auf die weitgehende Loyalität ihres Co-Vorsitzenden verlassen. Er ging mit ihr durch dick und dünn.
Der Deal war scheinbar: “Wenn es nicht gut läuft, dann kommt der andere zum Zuge.” Also wird Vizekanzler.

Wenn das so stimmt: Warum steht dann heute nicht Baerbock vor den Kameras, entschuldigt sich für den ungünstigen Zeitpunkt dieser Diskussion und erklärt, dass diese Entscheidung auch von ihr getragen wird?
Stattdessen lässt sie offenbar zu, dass sich der alte Geschlechterkampf an diesem Punkt festbeißt und die – an sich logische Entscheidung – zu einem Ausdruck männlicher Dominanz umgedeutet wird.

Ich hoffe sehr, dass sie hier nicht noch einmal die “Frauenkarte” spielt und über feministischen Druck Habeck zum Rückzug zwingt. Das wäre echt schofel…

Rock vom Rollstuhl?

In der aktuellen GENESIS-Tour sitzt ein gebrechlich wirkender Phil Collins auf der Bühne und singt – mit deutlich geschwächter Stimme – die alten Hits.
Die Mitstreiter stehen, die Lightshow blinkt, die Technik funktioniert.

Was bleibt, ist ein schales Gefühl.
Muss der Rock-Circus wirklich so weit gehen?
Ist das eine Form von Inklusion, ein Kampf gegen Altersdiskriminierung?
Oder wird hier nicht eher ein tragisches Schauspiel geboten: Ein Business ohne natürliche Grenzen, ein Altern ohne Würde?

Von mir aus sollen Mick Jagger und Keith Richards, Pete Townshend und Roger Daltrey, Paul McCartney und Ringo Starr – und auch Udo Lindenberg gerne noch mit 80 auf der Bühne stehen.
Aber sie sollten noch stehen können – sonst wird es irgendwie peinlich und unwürdig.
Eine Legende wie Phil Collins solle so nicht enden müssen…

Straßenwahlkampf 2021: Impressionen eines “GREEN-Horns”

Warum entschließt sich ein Mensch im (vorgerückten) letzten Drittel seines Lebens, doch noch aktiv zu werden und einige Stunden Prospekte verteilend an Wahlkampfständen zu stehen? Jugendlicher Weltverbesserungsdrang kann es schon mal nicht sein.
Und was erlebt man da?

Für mich war die Zeit gekommen, meine politischen Vorstellungen und Wünsche noch eine kleine Stufe aktiver zu vertreten, als das in persönlichen Gesprächen oder innerhalb der begrenzten Reichweite meines Blogs bisher möglich war.
Das Angebot von Robert Habeck und Annalena Baerbock, die GRÜNEN zum Mittelpunkt eines breiten gesellschaftlichen Aufbruchs mit dem Schwerpunkt “Klimapolitik/Nachhaltigkeit” zu machen, hatte mich weitgehend überzeugt.
Wann – wenn nicht jetzt – dazu etwas beitragen?

Würde es möglich sein – so fragte ich mich – innerhalb weniger Monate vom unerfahrenen Neumitglied zum aktiven Wahlkämpfer zu mutieren?
Dass einer solchen “Karriere” keine Hindernisse im Weg stehen, das erwies sich schnell in der zuständigen Bezirksgruppe.

Und die Vorbereitung?
Natürlich studierte ich das Wahlprogramm. Die Berichterstattung in den Medien verfolge ich sowieso; es entging mir im Jahr 2021 wohl kaum eine Talkshow mit GRÜNEN-Beteiligung.
Ich nahm an einem Online-Seminar teil, an dem ich u.a. ermahnt wurde, mich nicht auf allzu lange Diskussionen mit den Bürgern einzulassen (“Schade”, dachte ich; ich wollte doch so gerne diskutieren und überzeugen…).
Ansonsten verließ ich mich auf mein solides politisches Grundwissen und auf eine beruflich und privat gereifte kommunikative Kompetenz.

Zuerst nahm ich eine Erleichterung wahr: Die meisten angesprochenen Menschen, reagieren auf das Angebot von Info-Material freundlich oder neutral. Die meisten Passanten bedanken sich – auch wenn sie nicht zugreifen. Aggressiv-ablehnende Reaktionen sind eine Seltenheit; pöbelnde oder bedrohende Reaktionen bleiben ganz aus.
Das ist doch schonmal toll!

Viele Menschen begründen kurz, warum sie das Material nicht nehmen wollen: Sie haben sich schon entschieden, haben schon gewählt oder stehen den GRÜNEN distanziert gegenüber.
Häufig ist die “Ablehnung” sogar mit einem Zuspruch verbunden: “Ich wähl euch sowieso”, “meine Stimme habt ihr schon”. Gelegentlich – und das ist wirklich eine schönes Gefühl – bedankt sich sogar jemand für den Einsatz als Wahlkämpfer.

Wann immer ich die Möglichkeit spürte, versuchte ich, ins Gespräch zu kommen: “Haben Sie vielleicht eine Frage zu unserem Programm?” “Gibt es noch Unsicherheit in Ihrer Entscheidung?”
Immer wieder gelingt das, und so entstehen kurze Gespräche, die Spaß machen und die sonst in meinem Alltag nicht stattfinden würden.
Das Beste dabei: Oft gelingt eine Kontaktaufnahme mit Personen, die in meinem privaten Vorhersage-Algorithmus eigentlich durchfallen würden (weil sie vielleicht besonders alt sind oder abweisend bzw. bedrückt aussehen). Da entstehen auf einmal überraschend intensive Gespräche mit Ü-70-Damen, die sogar zu dem Gefühl führen können, gerade eine echte “Stimme” gewonnen zu haben.

Ein Höhepunkt war das aktive Angesprochenwerden:
– “Erklären Sie mir doch mal, warum ich eher die GRÜNEN als die Linken wählen sollte.”
– “Müsste man nicht taktisch wählen, damit Scholz vor Laschet liegt?”
– “Warum habt ihr nur die falsche Kandidatin genommen?”
– “Macht das mit den Elektro-Autos wirklich Sinn?”
– “Mir hat die GRÜNE Bildungspolitik in NRW nicht gefallen – ist das jetzt besser geworden?”

Ja, es gab sie auch – die Besserwisser, die nur ihren Frust abladen wollten. Aber es waren wenige. Gelegentlich eine Impfgegnerin. Ab und zu ein dummer Spruch.
Alles nicht so schlimm…

Zwischen den verschiedenen Wahlkampf-Trupps der Parteien gab es durchaus freundliche Kontakte: so eine Art demokratische Grundsolidarität (mit gegenseitigem Fotoshooting).

Das Resümee:
Man kann ja doch diskutieren – wenigstens ein paar mal pro Einsatz.
Es macht Spaß, sich auf ganz unterschiedliche Leute und Themen flexibel einzulassen – vor allen Dingen, wenn man sonst eher in einer abgeschlossenen Blase lebt.
Und ein Eindruck überstrahlt alles andere: Die Menschen, die sich als Wähler und Unterstützer der GRÜNEN geoutet haben, waren ausschließlich sympathische Zeitgenossen (männlich/weiblich und überhaupt) mit einer positiven Ausstrahlung.
Ehrlich!



Düsseldorf zwei Tage vor der Wahl: Grün und Future

Die volle Dröhnung für die Freunde des gemäßigten Klimas: Die Abschluss-Kundgebung von Habeck und Baerbock geht praktisch übergangslos in die Demo zum internationalen Klima-Streik über.
Da lohnt sich die Anreise: Zwei Groß-Events auf einen Streich!
Der Platz war voll, der Demo-Zug unüberschaubar.

Es ist – wenig überraschend – überwiegend seine Standard-Rede, mit der Habeck das Finale eröffnet. Wie soll man sich und seine Botschaft auch nach zig Auftritten noch neu erfinden?
Das Publikum ist interessiert und wohlwollend. Die solidarische Stimmung wird nur durch eine kleine Gruppe von Störern angekratzt: Es sind wirklich seltsame Leute, die sich da mit Tröte und Trillerpfeifen bemerkbar machen.

Nach einem musikalischen Zwischenspiel erscheint Annalena Baerbock. Unabhängig von persönlichen Vorlieben ist sie heute unangefochten die Hauptperson. Der Auftritt gelingt! Annalena ist energiegeladen, kämpferisch und klar. Ihr Wahlkampf-Stil passt heute in diese Situation: Es geht um Mobilisierung! Schließlich wird die Kundgebung in die ganze Republik gestreamt…

Die Störer werden kurzfristig lauter. Sie haben inhaltlich nichts zu sagen; keine ihrer Parolen haben irgendeinen Bezug zum Gesagten. Die Polizei ist nah dran und verhindert, dass es zu irgendeinem Gerangel kommt.

Natürlich ist die nachfolgende Klima-Demo keine Veranstaltung der GRÜNEN.
Aber es wird schnell deutlich, dass die Schnittmengen zwischen dem Publikum von Habeck und Baerbock und den Teilnehmern des Demo-Zuges sehr groß ist.
Und trotzdem überwältigt der Eindruck, wie lang die Demo schon ist, bevor die sich die Gruppen mischen.
Der Klima-Streik in Düsseldorf ist ganz offensichtlich ein großer Erfolg.
(Ob die vielen im Stau stehenden Autofahrer/innen aus lauter Frust jetzt etwas Doofes wählen – darüber denkt man am besten nicht nach).

Der Kontrast zur anderen – der weitgehend klima-ignoranten Konsumwelt – ist natürlich auf der Düsseldorfer Kö unmittelbar spürbar. Lastenfahrräder und Protz-Karossen symbolisieren zwei Lebens- und Zukunftsentwürfe, die es in den nächsten Jahren irgendwie zusammenzuführen gilt.
Egal wie die Wahl ausgeht: Diese Aufgabe kommt auf jede Regierung zu.
Wer heute hier in Düsseldorf dabei war, wird sich nicht ernsthaft eine nächste Ministerriege ohne grüne Beteiligung vorstellen können.


Robert Habeck in Essen

Fünf Tage vor der Wahl, Kennedy-Platz in Essen-Mitte.
Keine Riesen-Menschenmenge, aber eine würdige Kulisse für die Abschluss-Veranstaltung der GRÜNEN in Essen.

Robert kommt – ganz anders als vor einigen Wochen Annalena in Bochum – auf leisen Sohlen.

Keine sichtbare Security, kein Begleit-Tross. Habeck mischt sich wie ein ganz normaler Besucher unter das wartende Publikum. Er ist ansprechbar, sucht aber nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine ganze Weile steht er alleine und hört brav der Vorstellung und den Reden der drei örtlichen Kandidaten zu.
Die Botschaft (ob gewollt oder ungewollt): Ich bin einer von euch, ganz normal…

Der Status-Unterschied zu einer offiziellen Kanzler-Kandidatin ist nicht zu übersehen: Er steht nicht so stark als Person im Rampenlicht; er steht nicht in Konkurrenz zu Laschet und Scholz; er hat sicher nicht die höchste BKA-Sicherungsstufe.

Seine Rede unterscheidet sich deutlich von dem Auftritt Baerbocks (vor einigen Wochen):
Er spricht mehr aus dem Moment heraus, entwickelt längere und komplexere Argumentations-Bögen, entwickelt die Gedanken wohl jedesmal ein wenig anders und neu.
Während Baerbock sich eher Punkt für Punkt durch ihr Programm gearbeitet hat und ihre Thesen sehr komprimiert und formelhaft präsentierte, sieht man Habeck eher beim Spinnen der Gedankenfäden zu. Seine Sätze sind komplexer und länger; die Stelle, an der man Klatschen kann, ist nicht so eindeutig vorgegeben wie bei den etwas schablonenhaften Standard-Statements von Annalena.
Habeck ist der Typ für die etwas längere Aufmerksamkeitsspanne. Aus der Rede von Habeck lassen sich deutlich schwerer die berühmten 15-Sekunden-Sprüche für die Tagesschau herausschneiden.

Es ist wohl schwierig, diesen Menschen nicht irgendwie sympathisch zu finden. Das ist kein aufgeblasener Politikertyp alter Schule; gleichzeitig hat er nichts modern-aufgestyltes wie ein Lindner. Man kann sich gut vorstellen, wie er als Minister zwischen sehr verschiedenen Milieus vermitteln konnte.
Tatsächlich freue ich mich darauf, ihn bald in einem neuen Kabinett zu haben. Diesem Persönlichkeits- und Politikertyp vertraue ich gerne meine Stimme und mein Mandat an.
Sollte es dazu nicht kommen, wäre meine Enttäuschung groß…

Was kann man noch tun?

Im Moment geht in der veröffentlichten Meinung noch kaum jemand von einer Kanzlermehrheit für Annalena Baerbock aus. Scholz liegt knapp vorne; es mehren sich die Hinweise, dass Laschet aufholen könnte.
Die Gründe dafür:
– Die Leute sehen bei den vermehrten öffentlichen Auftritten, dass Laschet nicht so “unmöglich” ist, wie es zwischenzeitlich erschien.
– Die Union spielt das Angst-Thema “Linksruck” ungebremst aus; benutzt dabei ungehemmt polemische Zuspitzungen, die mit der Realität kaum etwas zu tun haben.
– Union und FDP wiederholen gebetsmühlenartig die (eindeutig falschen) Vorwürfe an die GRÜNEN, diese wünschten sich eine Gesellschaft voller Verbote und Einschränkungen und sähen nicht die Chancen innovativer Technologien.
– Die Union kündigt wohlklingende Maßnahmen an, die den Eindruck erwecken sollen, dass eine (von Steuern und Vorschriften) “entfesselte” Wirtschaft einen solchen Wachstumsschub erzeuge, dass sich alle gesellschaftlichen Aufgaben ohne Umsteuerung finanzieren ließen.

Dem allen etwas entgegenzusetzen, erfordert eine differenzierte Argumentation. Es ist naturgemäß einfacher, pauschale Vorwürfe zu verbreiten (“wirtschaftsfeindliche Verbotspolitik”; “Bevormundung der Bürger”; “leistungsfeindliche Umverteilung”), als diese auf Basis des konkreten Programms zu entkräften.
Tatsächlich bleibt den Menschen, die unentschlossene Wähler noch erreichen wollen, kaum etwas anderes übrig, als inhaltlich einzusteigen.

Es gibt dafür gute Quellen:
– Einen guten Zugang bietet die Themenseite “A – Z” an: Hier bekommt man zu 45 Stichpunkten eine schnelle Orientierung zu GRÜNEN Positionen und Forderungen.
– Etwas komprimierter geht es auf der Einstiegsseite zum Programm zu.
– Natürlich kann man sich das Wahlprogramm auch in voller Länge (Achtung: sehr ausführlich) oder in Kurzform herunterladen.

Wozu die Anstrengung, wenn es doch (vermutlich) keine GRÜNE Kanzlerschaft geben wird? Nun, es kommt für die Koalitionsverhandlungen ganz entscheidend auf die relative Stärke der Parteien an. Vielleicht kann man gerade jetzt (wo eine Kanzlerschaft von Bearbock nicht mehr “droht”), Bekannte oder Verwandte davon überzeugen, dass sie mit ihrer Stimme etwas für die Gewichtung GRÜNER Positionen tun.
Eine aktive Gestaltungskraft ist nur zu erwarten, wenn die GRÜNEN mit ihrem Ergebnis wirklich in Augenhöhe mit den anderen beiden abschneiden.

Also: Führt einfach noch das ein oder andere Gespräch mit Menschen, die man für die GRÜNE Sache gewinnen könnte.

(Natürlich kann ich gut verstehen, wenn überzeugte Sozialdemokraten sich am Erfolg von Scholz erfreuen).