“Viel Lärm um Achtsamkeit” von Jacob SCHMIDT

Bewertung: 3.5 von 5.

Viel Text (über 200 S.) über eine Erfahrung, die sich eigentlich typischerweise im Stillen, im Nonverbalen abspielt. Macht das Sinn?
Das kommt darauf an…

Zunächst eine Klarstellung: In diesem Buch lernt man keine Achtsamkeit, erhält keine Anweisungen für die Meditationspraxis, wird nicht dazu angehalten, eine neue Einstellung zu sich, dem Leben oder gar dem Universum zu finden.
SCHMIDT legt eine Analyse, also eine Betrachtung auf Meta-Ebene vor: Das Phänomen Achtsamkeit ist der Gegenstand, die Methode besteht aus Faktensammlung, Reflexion, Einordnung, Bewertung. Das ist auch deshalb so eindeutig, weil hier kein Therapeut, Coach oder Psychologe schreibt, sondern ein Soziologe. Ein größerer Spannungsbogen ist kaum denkbar, als der zwischen der Innerlichkeit von Achtsamkeitserfahrungen und der gesellschaftlichen Außenperspektive.
Da der Autor eigene Achtsamkeits- bzw. Meditationserfahrung einbringt, trägt er diesen Spannungsbogen in sich selbst. Und das ist auch gut so: Denn ohne diesen persönlichen Zugang wäre dieser Blick auf ein Zeitgeist-Phänomen eine bloße intellektuelle Spielerei.

Das Buch hat verschiedene Facetten:
– SCHMIDT berichtet von eigenen Erlebnissen im Kontext von Achtsamkeit,
– er betrachtet systematisch (kulturhistorisch) die verschiedenen Stränge und inhaltlichen Ausgestaltung der Einflüsse, die sich in der aktuellen Achtsamkeits-Welle spiegeln,
– er ordnet den Hype um die Achtsamkeit in den zeitgeschichtlichen und politischen Kontext unserer Beschleunigungs-Gesellschaft ein,
– er betrachtet die Chancen und Hoffnungen, mit Hilfe der Achtsamkeit ein irgendwie “erfüllteres” Leben zu gestalten,
– er analysiert die Gefahren, die in einem Rückzug auf Privatheit und Innerlichkeit verbunden sein könnten und
– schlägt schließlich einen Kompromiss vor, in dem die Achtsamkeit einen klar begrenzten, aber doch respektablen Platz einnehmen könnte.

Schon im Vorwort von Hartmut ROSA (eine passende Wahl!) wird die grundlegende Frage angedeutet, die auch SCHMIDT umtreibt: Im welchem Umfang kann die Suche nach dem inneren Selbst, nach der Unmittelbarkeit von Sinneserfahrungen, nach Stille und Entschleunigung missbraucht werden? Wann schlägt die Sehnsucht nach der inneren Ruhe in eine stumpfe Privatheit bzw. in eine ausbeuterische, rein funktionale Selbstoptimierung um?

Das alles geht ziemlich stark ins Detail und hat zwischendurch eher wissenschaftlichen als journalistischen Charakter.
Beispielsweise nennt SCHMIDT bei den Darstellungen der asiatischen Wurzeln immer wieder auch die ursprünglichen Begrifflichkeiten. Er nimmt seine anfängliche Systematik von drei Hauptrichtungen der Achtsamkeitsbewegung ernst und bezieht sich – wie in einem guten Fachbuch üblich – im späteren Text immer wieder darauf.
Insgesamt entsteht so eine Informations- und Reflexionsdichte, die in einem gewissen Widerspruch zu dem Gegenstand und den damit verbundenen Erwartungen der Leserschaft stehen könnte. Das gilt übrigens auch für den großen Raum, den gesellschaftliche und politische Überlegungen in dem Text einnehmen. Gewisse Redundanzen waren dabei offenbar nicht zu vermeiden…

Es kommt also darauf an, was man will und sucht: Wer Achtsamkeit einfach “nur” verstehen, lernen und leben möchte, findet jede Menge geeignetere Quellen. Wenn jemand mal einen ersten distanziert-kritischen Blick auf das Phänomen werfen möchte, könnte er/sie durch die Gründlichkeit und Detailliertheit der Betrachtungen ein wenig frustriert werden. Wer sich allerdings bewusst der soziologischen Perspektive zuwenden möchte oder sich selbst schon länger die Frage stellt, ob dieser Weg in die “Innerlichkeit” vielleicht mit problematischen Nebenwirkungen erkauft werden muss, findet hier einen sorgfältig und kenntnisreich vorbereiteten Boden.

Du möchtest das Buch kaufen?
Mach Amazon nicht noch reicher und probiere mal den sozialen Buchhandel, der aus jeder Bestellung eine kleine gemeinnützige Spende macht.
Der Preis für dich ändert sich dadurch nicht; die Lieferung erfolgt prompt. Klicke einfach auf das Logo.
Oder unterstütze einen kleinen Buchladen vor Ort.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert