“Wissenschaft und Willensfreiheit” von Stephan SCHLEIM

Bewertung: 3.5 von 5.

Der Neurophilosoph und Kognitionswissenschaftler SCHLEIM setzt sich in dieser 2023 erschienenen Publikation mit einem wahrlich anspruchsvollen Dauerbrenner der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte auseinander.
Mit der Frage nach dem “Freien Willen” lädt man sich eine ganze Reihe von Grundsatzthemen auf: Determinismus, Dualismus, Reduktionismus, Naturalismus, Bewusstsein, Unbewusstes, Verantwortung, Schuld, Strafrecht, …
Wie soll man das alles bewältigen?

Der Autor lässt sich nicht bange machen und geht die Sache mit vielversprechender Systematik an. Sein didaktisches Konzept zielt auf eine populärwissenschaftlich interessierte Zielgruppe, die einen lebendig verfassten Text, aber auch einen gewissen argumentativen Tiefgang zu schätzen weiß.

SCHLEIM startet in den ersten (theoretischen) Teil mit grundsätzlichen Vorüberlegungen zum Spannungsfeld zwischen zwei Menschenbildern: Sind wir (eher) Natur- oder Kulturwesen? Seine Betrachtung beginnen bei Sokrates Entscheidung für den Giftbecher und führen sehr schnell zu der Schlussfolgerung, dass zur Erklärung ein rein physikalisch-deterministischer Blick auf die Welt wohl nicht ausreichen würde.
SCHLEIMs umfassende Systematik lässt weder die Begriffsanalyse, noch die philosophische Geschichte der Willensfreiheits-Idee aus, wobei die unterschiedlichen Kombinationen zwischen Determinismus und Willensfreiheit zur Sprache kommen.
Später erfolgt eine differenzierte Betrachtung des Verhältnisses von Kausalität, Determiniertheit und Vorhersagbarkeit.
Immer wieder lässt der Autor (dezent) durchblicken, dass er von einer “kausalen Geschlossenheit” der Welt und einem grundsätzlichen Zweifel an dem Freiheitskonzept nicht viel hält.

Der auf dem Cover des Buches abgebildete berühmte Physiker Max PLANCK spielt für den Autor eine besondere Rolle, da er sich mit den Kern-Ambivalenzen der Thematik ausführlich befasst hat – und er als leidenschaftlicher Naturwissenschaftler einer rein spekulativen Haltung unverdächtig ist. PLANCK spricht sich zwar für eine kausale Determiniertheit von Willensentscheidungen aus – die aber nur in der Außenbetrachtung bzw. im Rückblick funktioniere (zusätzlich führt er noch einen ethischen Faktor ein, den der Mensch als Orientierungshilfe brauche).

SCHLEIM setzt sich auch mit verschiedenen Positionen moderner Wissenschaftler/innen auseinander und argumentiert insbesondere gegen die radikal-deterministische Sichtweise der bekannten Physikerin HOSSENFELDER. Der Autor führt dabei wiederholt ins Feld, dass sich in der realen und konkreten Welt die Absolutheit der Naturgesetzlichkeiten kaum finden ließen.

Einen weiteren Schwerpunkt des Buches bildet die Auseinandersetzung mit biologischen und neurowissenschaftlichen Forschungen bzw. Konzepten. Ausgehend von den berühmten Experimenten von Benjamin LIBET (die von einigen als Nachweis der unbewussten Determiniertheit angesehen wurden) stellt der Autor ausführlich sein Kritik an den einseitigen und “überzogenen” Schlussfolgerungen dar und positioniert sich eindeutig gegen den Anspruch der Gehirnforscher, sowohl Willensakte, als auch alle anderen Bewusstseinsinhalte letztendlich biologisch erklärbar machen zu können.

Im zweiten Teil des Buches geht es um die “Praktische Freiheit”, also um die Manifestationen der Freiheitsfrage im gesellschaftlichen Zusammenleben. Hier spielen dann “Verantwortung”, “Schuld” und “Strafe” die Hauptrolle.
Noch stärker als im ersten Teil bezieht der Autor hier eigene Positionen und verteidigt traditionelle Sichtweisen und Regelungen gegen Anfechtungen von Wissenschaftlern, die auf die Bedeutung von neurologischen oder psychologischen Prägungen und Freiheitseinschränkungen hinweisen. Indem er feststellt, dass Kriterien für Verantwortung und Schuld “normativ” (und nicht biologisch) begründet sein müssten, geht es letztlich nicht mehr um eine wissenschaftliche Diskussion.
Die Frage, in welchem Umfang die Kontrolle über das eigene Verhalten besteht, wird so zuletzt gar nicht mehr ernsthaft diskutiert.

In den weiteren Kapiteln verabschiedet sich SCHLEIM weiter von einer eher neutralen Betrachtung des Gegenstandes und konzentriert sich auf die subjektiven und biografischen Hintergründe für “neurologische Fehlschlüsse”. Er zeichnet ein Bild, in dem sich naturwissenschaftlich-deterministische Sichtweisen letztlich in persönliche oder statusbezogene Fehlinterpretationen auflösen.
Das Schlusskapitel befasst sich dann mit der Beeinflussung durch Werbung und Umgebungsmanagement und den Möglichkeiten, durch Information, Bewusstwerdung und Achtsamkeit bestimmten Manipulationen eine gesteigerte Autonomie entgegenzusetzen.

Erstaunlich – und angesichts der Breite des Themenansatzes auch kritikwürdig – ist die weitgehende Ignoranz des Autors gegenüber einem Faktor, den man “psychologische Determiniertheit” nennen könnte. An keiner Stelle wird angemessen abgewogen, in welchem Umfang frühe biologische bzw. psychologische Entwicklungseinflüsse die Grundlagen der Persönlichkeit in einem solchen Maße festlegen, dass schon aus dieser Perspektive eine Entscheidungsfreiheit angezweifelt werden könnte.
Sich hier allein auf die traditionelle anerkannten psychischen Erkrankungen zurückzuziehen, wird der Bedeutung von z.B. frühen Traumatisierungen oder Störungen in Erregungs- und Impulssteuerungssystemen nicht gerecht.

Etwas pointiert könnte man zusammenfassend sagen: Ein vielversprechendes – weil breit angelegtes, kenntnisreiches und gut verständliches – Buchprojekt hat sich immer stärker in Richtung eines Generalangriffs auf eine vermeintlich übergriffige und angeblich in weiten Teilen unseriöse Neurowissenschaft entwickelt. Das ist in dieser Einseitigkeit bedauerlich – angesichts der Tatsache, dass der Autor ganz zweifellos über profunde Sachkenntnis in diesem Themenbereich verfügt.
Als ein meinungsstarker Beitrag zu einer kontroversen Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Aussagemöglichkeiten der Wissenschaft zur Willensfreiheit kann das Buch aber sicherlich bestehen – wenn es auch am Ende ein wenig thematisch ausfranst.

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