“Der neue Wohlstand” von Ezra KLEIN und Derek THOMPSON

Bewertung: 4 von 5.

Dieses amerikanischer Buch könnte so etwas wie die Betriebsanleitung für eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der “vernünftigen Mitte” sein. Hier wird eine Perspektive vorgestellt, die von den realpolitischen GRÜNEN bis in die – noch von Populismus freien – Teile der UNION reichen könnte: pragmatisch, anschlussfähig, nachhaltig, zukunftsfähig, weitgehend unideologisch.
Das Ganze erinnert ein wenig an die positiven Visionen in der Startphase der Ampelkoalition: an den Versuch, Aufbruchstimmung und (digitale, mentale und ökologische) Transformation mit wirtschaftlicher Effizienz und Wohlstandsversprechen zu verbinden.

Das Autorenpaar nimmt in seiner Betrachtung nach und nach die Faktoren unter die Lupe, die – ihrer gut begründeten Einschätzung nach – für Fehlentwicklungen bzw. für die Verhinderung dringend notwendiger Veränderungsschritte verantwortlich sind:
– Selbst geschaffte Knappheiten (u.a. durch zu viel Regulierungen und Konzentration auf Verteilung, statt auf Erhöhung des Outputs)
– Trägheit von Systemen und Prozessen
– mangelnde Prioritätensetzung und Schwächen bei der Umsetzung von Projekten (bürokratischer Perfektionismus statt pragmatischer Kompromisse)
– ineffiziente Zuständigkeiten und fragmentierte Entscheidungsprozesse
– Selbstbeschränkung aus Angst vor Kritik und Widerständen
– ideologisch motivierte Ablehnung einer staatlich gelenkten zukunftsbezogenen Forschungs- und Innovationspolitik
– Leugnung und Bagatellisierung der objektiven Veränderungsnotwendigkeiten (insbesondere bzgl. Klimawandel)

Was schnell deutlich wird: Die Autoren halten nichts von einer Abkehr von der Wachstumslogik! Sie wollen intelligenten, effizienten Wohlstand für möglichst alle; aber unter stärkerer Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Notwendigkeiten.
Auf Deutschland übertragen: Sie nehmen beiden politischen Lagern etwas weg!
Den ökologischen Aktivisten entreißen sie alle Gedanken an “Degrowth”, also an die Abkehr vom Wachstum (“unrealistisch, nicht durchsetzbar”); ebenso den Anspruch, auch die letzte Kröte noch vor Infrastrukturprojekten zu retten. Den neoliberalen Marktfetischisten schlagen KLEIN und THOMPSON alle Argumente aus der Hand, die gegen eine politische Steuerung in Richtung notwendiger Innovationen ins Feld geführt werden: Der Markt alleine kann und wird es nicht richten!

Klingt alles irgendwie ausgewogen und vernünftig. Man könnte es sich sogar als deutsche Realpolitik vorstellen (wenn zufällig die GRÜNEN statt der CSU in der Regierungskoalition gelandet wären). Es bleibt aber die grundsätzliche Frage offen, ob nicht auch ein solches GRÜNES Wachstum eine Mogelpackung mit begrenzter Laufzeit ist.
Die Autoren haben im Grundsatz ein zwar aufgeklärtes und modernes, aber letztlich doch technokratisch-optimistisches Weltbild. Echte planetarische Grenzen (z.B. bei Ressourcen) kommen nicht vor, prinzipielle Veränderungen im menschlichen Mindset sind nicht vorgesehen – weil sie nicht notwendig und/oder unrealistisch erscheinen. Weder ein wirklich alternatives Wohlstandskonzept, noch grundlegende Gerechtigkeits- bzw. Gemeinwohlperspektiven bekommen einen angemessenen Raum.

Der Entwurf von KLEIN und THOMPSON stellt ohne Zweifel einen Fortschritt gegenüber der momentan festgefahrenen Situation dar und würde u.a. den erschreckenden Rückschritt in der Klima- und Umweltpolitik überwinden helfen.
Der Text hat stellenweise recht enge Bezüge zur amerikanischen (politischen und ökonomischen) Situation, sind seine Schlussfolgerungen und Anregungen aber durchweg auch für europäische Verhältnisse relevant.
Auch wenn die Schlussfolgerungen aus ökologischer Sicht in wesentlichen Punkten nicht mutig und konsequent genug ausfallen, wäre es ein Gewinn, wenn alle Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sich wenigstens schonmal auf diese Basis einigen könnten.
Eine kluge und anregende Diskussionsgrundlage bietet das Buch allemal.

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“Umlaufbahnen” von Samantha HARVEY

Bewertung: 4 von 5.

Ein bemerkenswertes Buch, das auf einer sehr kreativen und emotional anschlussfähigen Grundidee fußt: Eine Gruppe von Astronauten (beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft) umrundet in der internationalen Raumstation viele Male unseren Planeten auf jeweils leicht verschobenen Bahnen.
Geschildert wird – dicht verwoben in einem Erzählteppich – sowohl der soziale und wissenschaftliche Alltag der Crew, als auch persönliche Reflexionen der Beteiligten. Diese Betrachtungen aus der Innenwelt beziehen sich wiederum einerseits auf die Wahrnehmung und das Erleben der spektakulären Aussicht auf die wechselvollen Tag- und Nachtperspektiven. Darüber hinaus entstehen aus den jeweiligen geografischen Verortungen der Beteiligten Einblicke in die individuellen Lebenssituationen – auch hinsichtlich der biografischen Wurzeln und bedeutsamer Angehöriger, die dort “unten” warten, lieben oder sterben.

Die Umlaufbahnen strukturieren nicht nur das Leben und Arbeiten der Astronauten, sondern auch den inneren Rhythmus dieses Textes. Alles ist eingebettet in und wird getragen von den Bahnen, die – aufgrund der Eigengeschwindigkeit des künstlichen Trabanten – in dem künstlich beibehaltenen 24-Stunden-Ablauf insgesamt 16 Wechsel zwischen Tag und Nacht umfassen.
Dieses beeindruckende Schauspiel wird immer wieder sprachgewaltig beschrieben, in immer wieder neuen Facetten und Nuancen. Gelegentlich spürt man die Grenze zur Redundanz – das bleiben aber kurze Momente. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch ein mächtiger Sturm, der aus der Außen- und Innenperspektive beschrieben wird.

Die studierte englische Philosophin hat einen tiefgründiger Text verfasst, voller menschlicher Perspektiven und emotionaler Intensitäten. Es sind keine programmierten Automaten, sondern fühlende Wesen, die dort auf engstem Raum in einem Gemisch aus individueller und gemeinschaftlicher Identität ihren extrem ungewöhnlichen Alltag teilen. Sie sind sich einerseits ihrem Ausnahmestatus bewusst und müssen doch auch die banalsten Routinen bewältigen. Sie befinden sich in einer extremen Außenposition und fühlen sich doch aufs Intensivste mit der biologischen und sozialen Heimat verbunden – vielleicht mehr als jemals zuvor. Gleichzeitig sind sie damit konfrontiert, dass eine parallele Mondmission ihre so besondere Situation zu relativieren droht.
HARVEY hat aus dieser einzigartigen Konstellation ein einfühlsames und anrührendes Leseerlebnis gebastelt – Umlaufbahn für Umlaufbahn…

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“Origin” von Dan BROWN

Bewertung: 3.5 von 5.

Vorweg eine wichtige Information: Das Buch stammt aus dem Jahre 2017, diese Rezension aus 2025. Das ist deshalb so bedeutsam, weil eines der beiden thematischen Schwerpunkte des Romans sich um die Möglichkeiten eines futuristischen KI-Systems – heute würde man es Chat-Bot nennen – dreht. Da es wohl kaum in einem anderen Bereich in den letzten Jahren vergleichbare Innovationssprünge gegeben hat, stellt sich die utopische Perspektive von “damals” jetzt eher als weitsichtige und ziemlich realistische Vorhersage dar: So schnell können sich Zeiten ändern…
Doch es es geht daneben auch um ein wahrlich zeitloses Thema – nämlich um die Frage, ob die wissenschaftlichen Erkenntnisse und das darauf fußende rationale Weltbild inzwischen die Kraft entfalten, traditionelle religiöse Glaubensvorstellungen endgültig zu verdrängen.
Dan BROWN leidet also ganz offensichtlich nicht unter ausgeprägter Bescheidenheit: Die ganz großen Fragen sind für ihn gerade richtig!

Der Plot spielt in Spanien – insbesondere an zwei besonders spektakulären Orten: im Guggenheim-Museum von Bilbao und in der Sagrada Familia in Barcelona. Es geht aber auch um das spanische Königshaus und eine fundamental-katholische Gruppierung.
Getragen wird die Handlung von zwei Hauptpersonen, dem Geschichtsprofessor Robert Langdon und der Leiterin des Guggenheim-Museums (die passender Weise gleichzeitig mit dem Thronfolger des schwerkranken spanischen Monarchen verlobt ist). Langdon ist mit dem schwerreichen Zukunftsforscher Edmond Kirsch befreundet, den die Mission antreibt, die Menschheit aus den Fesseln des religiösen (Aber-)Glaubens zu befreien.
Eine weitergehende Schilderung der Handlung verbietet sich aus naheliebenden Gründen…

Man bekommt eine Menge Stoff geboten, auf diesen (ursprünglich) 670 Seiten: spanische Geschichte, das künstlerische Schaffen von Gaudi, innerkatholische Machtspiele, die Grundlagen des modernen, wissenschaftlich begründeten Atheismus, ein Ausblick auf (inzwischen weitgehend erfüllte) KI-Visionen und Computer-Technologie.
Natürlich gibt es auch jede Menge menschliche Konflikte und Intrigen, aus denen sich dann die bekannten Spannungsbogen basteln lassen. Dan BROWN weiß bekanntlich, wie so etwas funktioniert.

Je nach persönlichem Wertesystem der Leserschaft wartet am Ende des Romans eine beruhigende oder enttäuschende Überraschung: Während der Autor nämlich über weite Strecken der Handlung den Eindruck entstehen lässt, dass er der ausführlich geschilderten (und gut begründeten) rational-empirischen Weltsicht nahesteht, verlässt ihn am Ende wohl der Mut. Besonders stichhaltig erscheint das nicht – vermutlich wollte sich BROWN sich nicht zu weit vom gemäßigten Mainstream entfernen. Schade!

Wer sich gerne durch die skizzierten Themenbereiche in Form einer – nicht ganz Klischee-freien – Thrillerhandlung (zum Glück ohne massive Brutalität) führen lassen möchte, kann hier ohne Bedenken zugreifen. BROWN liefert auf jeden Fall mehr als belanglose Krimi-Unterhaltung.

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“The Secret of Secrets” von Dan BROWN

Bewertung: 3.5 von 5.

Wenn einer der weltweit erfolgreichsten Thriller-Autoren auf das Geheimnis aller Geheimnisse stößt, dann muss es schon um etwas Fundamentales gehen.
Das menschliche Bewusstsein, seine Beschaffenheit, seine Grenzen und seine – eventuelle – Beständigkeit bietet sich da ohne Zweifel an.

Der Autor schickt seine bewährte Zentralfigur (den Symbolforscher Robert Langdon) zusammen mit der aktuellen Protagonistin (der Neurowissenschaftlerin Katherine Solomon) auf einen irrwitzige 24-stündigen Parforceritt durch das geschichtsträchtige Prag der Gegenwart. Der extreme Kontrast zwischen den historischen Schauplätzen und Mythen auf der einen – und modernster Bewusstseinsforschung auf der anderen Seite -schafft eine der Grundlagen für die Dynamik des Plots.

Es geht vordergründig um ein Buch-Manuskript, für das sich auch die CIA interessiert. Der Grund dafür tritt ausgerechnet in dem Moment an die Oberfläche, an dem sich die Autorin an dem Ort eines geheimen und problematischen Forschungsprojektes aufhält.
In die sich überstürzenden Ereignisse sind auch die US-Botschafterin und einige ihrer Mitarbeiter verwickelt. Auch die Opfer einiger Experimente lernen wir kennen, ebenso den örtlich zuständigen Geheimdienst.
Man kann sich bei Thriller-Profi BROWN darauf verlassen, dass die diversen Handlungsstränge kunstvoll miteinander verwoben werden…

Kommen wir also zum Geheimnis selbst: Letztlich stellt der Roman die sehr grundlegende Frage, ob es ausreichende Anhaltspunkte dafür geben könnte, die bisherigen neurowissenschaftlichen Konzepte und Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen unseren Gehirnfunktionen und unserem Ich-Bewusstsein in Frage zu stellen.
Katherine, die ihr Forschungsinteresse zunehmend den Randphänomenen (Nahtoderfahrungen, Parapsychologie, Präkognitionen, Dissoziationsstörungen, usw.) gewidmet hat, zieht sehr weitgehende Schlussfolgerungen, die den wissenschaftlichen Mainstream weit hinter sich lassen (so vermutet sie den Sitz des Bewusstseins außerhalb unserer Gehirne).

Dan BROWN nimmt auch in diesem Roman für sich in Anspruch, sich mit seiner Story dicht an der realen Faktenlage (dem aktuellen Forschungsstand) entlang zu hangeln. Das lässt sich über weite Strecken auch nachvollziehen.
Und doch ist eine Parteinahme für die spekulativen, letztlich auch mystisch-esoterischen Hypothesen deutlich spürbar: Sie zeigt sich in der zunehmenden Überzeugung des zunächst skeptischen Robert, dass Katherine mit ihrer alternativen Weltsicht auf der richtigen Spur ist.

So stellt sich in der Gesamtbewertung die Frage, was bei einem auf spannende Unterhaltung angelegten Roman in das Urteil einfließen sollte.
Wenn ein Sachthema eine so zentrale Rolle spielt wie in diesem Roman und die etablierte Wissenschaft in der Darstellung immer stärker ins Hintertreffen gerät, kann das m.E. nicht übergangen werden. Tatsächlich wird in diesem Buch der Eindruck erweckt, als ob die etablierte Neurowissenschaft – trotz massiver gegenteiliger Belege – mehr oder weniger krampfhaft an Konzepten festhalten würde, die schon längst widerlegt worden wären.
Dabei werden reale neurophysiologische Erkenntnisse (z.B. über die Wirkung bestimmter Botenstoffe) so raffiniert mit extrem spekulativen Konzepten vermischt, dass eine fachlich unkundige Leserschaft keine Chance hat, den Übergang zu erkennen.
Hier könnte man mit gutem Grund die Grenze zur Manipulation als überschritten sehen.

Der Erfolg dieses Romans ist gesichert – die Qualitäten des Autors als Erzähler historisch eingebetteter Spannungsgeschichten steht ja außer Zweifel. Wie man hört, sind die Filmrechte schon vergeben.
Es erscheint daher um so bedauerlicher, dass sich BROWN in einer so grundlegenden Frage eher wissenschafts-skeptisch positioniert und die Nähe zu esoterischen Weltsichten in kauf nimmt.

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“Wie wir werden, wer wir sind” von Joachim BAUER

Bewertung: 3.5 von 5.

Das Buch hat bei mir widersprüchliche Reaktionen ausgelöst. Das liegt daran, dass es gleichzeitig informativ und wichtig ist, auf der anderen Seite aber auch etwas irritiert.

Die Zielsetzung des Autors ist nicht nur lohnenswert, sondern wird mit diesem Schachbuch auch tatsächlich auch eingelöst: Dem Mediziner, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut BAUER, der sowohl praktisch als auch in der Lehre in prägenden Funktionen tätig war, gelingt es ohne Zweifel hervorragend, einem interessierten Laienpublikum die existentielle Bedeutung sozialer Interaktion als Grundlage für die menschliche Selbst-Entwicklung zu vermitteln.
Er tut dies in einer gut verständlichen Sprache, in der gleichzeitig detaillierte Information und die Botschaft des Autors Raum finden. BAUER hat ein Buch verfasst, das sich an ein breiteres Sachbuchpublikum wendet, ohne sich aber eines typisch wissenschaftsjournalistischen Schreibstils zu bedienen.

BAUER analysiert und schildert die die Prozesse von Spiegelung, Resonanz, feinfühliger Begleitung und externer Regulation von Erregung und Emotion auf der einen Seite mit einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Akribie. Er zeigt sich dabei aber keineswegs als neutraler Beobachter bzw. Protokollant der komplexen Interaktion zwischen Säugling/Kelinkind und seinen Bezugspersonen. Vielmehr wird – gefühlt – in jedem zweiten Satz deutlich, welche Bedeutung dieses Geschehen für den Autor auch ganz persönlich hat: Er scheint geradezu erfüllt zu sein von diesem Geschehen; man spürt das die Vermittlung seiner Erkenntnisse für ihn den Charakter einer Mission hat.
Die grundlegenden Prozesse werden dabei – durchaus wortgewandt und plastisch – so häufig dargestellt, dass sich alsbald eine gewisse Redundanz einstellt.

Eine Spur “Überengagement” wird auch in der Tendenz zu gefühlsgeladenen Formulierungen deutlich. Die Abgrenzung zu theoretischen oder therapeutischen Ansätzen, die der Autor als nicht kindzentriert genug beurteilt, fällt extrem harsch aus.
(So wird dem – eindeutig humanistisch orientierten – Evolutionsforscher DAWKINS gleich eine Neigung zur schwarzen Pädagogik unterstellt, nur weil dieser von “egoistischen” Motiven bei kleinen Kindern spricht).

Problematischer ist jedoch ein anderer Punkt: Während die von BAUER benutzte zentrale Begrifflichkeit von dem “Selbst” bzw. dem “Selbstsystem” zunächst als hilfreich für das Verständnis erlebt werden kann, bekommt diese Bezeichnung im Laufe des Textes ein deutlich überzogenes Eigenleben. BAUER formuliert immer wieder so, als ob dieses “Selbst” eine irgendwie selbständige Instanz wäre, die mit anderen Bereichen des Körpers und des Gehirns in einem Austausch stände. Diese Sichtweise erinnert ein wenig an die psychoanalytischen Konzepte vom ES oder ÜBER-ICH, bei denen oft vergessen wurde, dass es sich nicht um reale Entitäten, sondern um sprachliche Konzepte bzw. Metaphern handelte. Vermutlich ist es in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass BAUER tatsächlich auch psychodynamisch ausgebildet ist.

So ergibt sich insgesamt ein etwas zwiespältiges Bild: Da ist auf der einen Seite ein überzeugendes Buch, das auf der Basis zahlreicher wissenschaftlicher Belege und mit großem und authentischen Engagement dafür wirbt, Kindern in den ersten Lebensjahren genau die intensiven und feinfühligen sozialen Erfahrungen zu ermöglichen, die diese für die Entwicklung einer gesunden, gemeinschaftsfähigen und selbstbewussten Persönlichkeit existenziell benötigen.
Und da gibt es die Stellen, in der der Autor über das Ziel hinausschießt und Gegner dort sieht, wo es vielleicht nur um ergänzende Perspektiven geht. Und BAUER ist so identifiziert mit seiner sozialen Selbst-Theorie, dass er letztlich sein neurowissenschaftliches Basiswissen aus den Augen verliert: Das Selbst ist nämlich kein eigenständiger Akteur, der irgendwie mit eigener Motivation auf das Gehirn einwirken könnte. Das Selbst ist ein unscharfer Begriff für bestimmte Funktionen und Prozesse, die durch die kombinierte Aktivierung bestimmter neuronaler Netzwerke in bestimmten Hirnarealen gebildet wird.
Man kann das natürlich sprachlich vereinfachen, und muss das vermutlich auch. Nur sollte man zumindest einmal auf diesen Umstand hinweisen.

Unabhängig von dieser kleinen Einschränkung: Die Botschaft des Buches ist wichtig – und sie kommt an!

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“Deutschland misshandelt seine Kinder” von Michael TSOKOS und Saskia GUDDAT

Bewertung: 4.5 von 5.

Zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat dieses Buch nichts an Relevanz verloren – im Gegenteil. Was 2014 in Fachkreisen für Aufsehen sorgte, ist inzwischen ein Standardwerk im Bereich des Kinderschutzes geworden. Und es lohnt sich, den Text erneut zur Hand zu nehmen – gerade vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über Kindeswohl und institutionelles Versagen.

Die Autoren – beide erfahrene Rechtsmediziner – schildern eindringlich, wie klar und eindeutig sich Misshandlungsfälle aus rechtsmedizinischer Sicht meist bewerten lassen. Die Analyse körperlicher Verletzungen erlaubt eindeutige Rückschlüsse auf die Ursachen – deutlich objektiver als jede Einschätzung psychischer oder emotionaler Schädigungen. TSOKOS und GUDDAT liefern dazu zahlreiche Fallbeispiele, die erschüttern. Die Autoren ersparen dabei ihrer Leserschaft auch drastische Einzelheiten nicht.

Doch das Buch ist weit mehr als ein rechtsmedizinisches Fachprotokoll. Es ist eine schonungslose Systemanalyse – und eine Anklage. Die Autoren zeichnen das Bild eines Kinderschutzes, der an seinen eigenen Strukturen scheitert: Elternrechte werden häufig höher gewichtet als Kindeswohl, überforderte Jugendämter delegieren Verantwortung an freie Träger, deren wirtschaftliches Überleben von Wohlwollen und Auftragsvergabe derselben Behörden abhängt. Oft besonders jungen und unerfahrenen Familienhelfer unterliegen ihrerseits dem (inneren und äußerem) Druck, die eigene Arbeit als sinnvoll und erfolgreich zu bewerten. Es entsteht eine problematische Gemengelage gegenseitiger Beschönigung und Rücksichtnahme, in der gefährdete Kinder allzu oft durch das Raster fallen – mit teilweise tödlichen Folgen.

Besonders kritisch fällt das Urteil über die juristische Praxis aus: Familienrichter urteilen regelmäßig ohne spezialisierte Fortbildung zum Thema Kindeswohlgefährdung. Die Expertise von Rechtsmedizinern wird dabei mitunter weniger ernst genommen als die Beteuerungen der beschuldigten Eltern. Strafrechtlich enden viele Verfahren mit Freisprüchen, weil sich keine eindeutige Täterschaft nachweisen lässt – auch dann, wenn feststeht, dass ein Kind durch eines der Elternteile massiver Gewalt ausgesetzt war.

Der Vorwurf, das Buch arbeite mit extremen Einzelfällen, wird von den Autoren nicht nur thematisiert, sondern mit klaren Zahlen und Quellen gekontert. Die Dunkelziffer der betroffenen Kinder sei hoch – deutlich höher, als Öffentlichkeit und Politik wahrhaben wollen. TSOKOS und GUDDAT fordern daher eine konsequente Parteinahme für die Kinder: nicht durch Dämonisierung der Täter, sondern durch eine klare Priorisierung von Kinderrechten vor Elternrechten. Dazu gehört auch, dass Misshandlungsopfer nicht gegen ihren Willen erneut Kontakt zu ihren Peinigern aufnehmen müssen.

Was bleibt, ist ein leidenschaftlicher Appell an Politik, Justiz und Praxis: Kinderschutz braucht verbindliche Standards, mehr Qualifikation, angemessene Bezahlung, bessere rechtliche Rahmenbedingungen – und eine Haltung, die sich traut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Dabei müssten auch die kinderärztlichen Praxen eine deutlich konsequentere Rolle spielen. Die Vermittlung von rechtsmedizinischem Basiswissen fordern die Autoren für alle relevanten Berufsgruppen.

In einem Punkt unterschätzen die Autoren vermutlich sogar die Schwächen des Kinderschutzsystems: Oft sind es die internen Strukturen innerhalb der Jugendhilfe, durch die aus finanziellem Druck letztlich die Maßnahmen verhindert werden, die von den fallverantwortlichen Fachkräften “eigentlich” für notwendig erachtet werden.

Das Buch sollte eine Pflichtlektüre für alle sein, die im sozialen, medizinischen oder juristischen Bereich mit Familien arbeiten – unbequem, erschütternd und ganz sicher immer noch notwendig.
Dass die ein oder andere Formulierung – für sich betrachtet – auch als überzogen dramatisch bewertet werden könnte, sollte dem bewundernswerten Engagement der Autoren zugerechnet werden.

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“Unser soziales Gehirn” von Nicole STRÜBER

Bewertung: 4.5 von 5.

Wieviel zwischenmenschliches Miteinander braucht der Mensch?
Dieser Frage widmet sich Nicole STRÜBER in ihrem Buch Unser soziales Gehirn aus einer explizit neurowissenschaftlichen Perspektive. Die Autorin, Neurobiologin und (frühere) Psychologieprofessorin, spannt dabei einen Bogen über alle Lebensphasen hinweg: von der Geburt, über frühkindlichen Bindung, Jugend, Partnerschaft, Berufsleben – bis zum sozialen Miteinander im Pflegeheim. Ihr Anliegen: aufzuzeigen, welche biologischen Mechanismen die sozialen Prozesse im Gehirn steuern – und welche Folgen es hat, wenn diese Systeme dauerhaft vernachlässigt werden.

Im Mittelpunkt steht das Hormon Oxytocin, das in der populären Wahrnehmung oft als „Kuschelhormon“ bezeichnet wird. STRÜBER zeigt eindrucksvoll, dass es dabei keineswegs nur um Wohlfühlchemie geht. Oxytocin beeinflusst zentrale Bereiche des sozialen Verhaltens: Vertrauen, Empathie, Bindung, Mitgefühl. Es wirkt beruhigend auf das Stresssystem, fördert die emotionale Resonanz und kann – im besten Fall – ein Verstärker für kooperatives und prosoziales Handeln sein. Auswirkungen sind inzwischen auch für die körperliche und psychische Gesundheit nachgewiesen – sogar für die Demenz-Prophylaxe.

Die Autorin bezieht sich auf eine große Bandbreite empirischer Studien, in denen etwa hormonelle Reaktionen auf soziale Nähe, Blickkontakt, gemeinsames Tanzen oder körperliche Berührung gemessen wurden. Dabei beschreibt sie nicht nur die Befunde, sondern häufig auch die Versuchsaufbauten – ein Ansatz, der das Buch an vielen Stellen den Charakter eines populärwissenschaftliches Fachbuch verleiht. Gleichzeitig bleibt der Stil durchgehend lesbar: dem wissenschaftlichen Anspruch (durch zahlreiche Literaturverweise) steht als Gegengewicht ein lockerer, journalistisch-persönlicher Schreibstil gegenüber.

Besonders engagiert wirkt STRÜBERs kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen: Sie diagnostiziert eine wachsende Entfremdung im Sozialen, bedingt durch digitale Kommunikationsformen, chronische Reizüberflutung und insbesondere durch die Versuchungen der Social-Media-Welt. Ihr wissenschaftlich fundierter Appell lautet: Unmittelbare, körperlich-sinnliche soziale Begegnung ist keine freiwillige Kür, sondern biologisch notwendig.

Dass die Autorin inhaltlich in die Tiefe gehen kann, zeigen exemplarisch ihre Ausführungen zu den „Schattenseiten“ des Oxytocins (das auch für die Ausgrenzung von Menschen verantwortlich ist, die nicht der eigenen Bezugsgruppe angehören), ihre kritische Stellungnahme zu der Tabuisierung von Körperkontakt in Pädagogik und Jugendhilfe (aus Gründen einer überzogenen Missbrauchsprophylaxe) und ihre Auseinandersetzung mit den Befunden über die (nachgewiesene) Wirkung von elektronischen Pflege- und Betreuungsapparaten (die ebenfalls eine Oxytocin-Ausschüttung bewirken können).

Nicht ganz frei von Schwächen bleibt das Buch dennoch: Der immer wieder bemühte Begriff der „Engelskreise“ als positiver Gegenentwurf zu „Teufelskreisen“ wirkt stilistisch unglücklich (infantil-verkitscht) und passt nicht zu einem sachlich-wissenschaftlichen Anspruch. Auch der emotionale Appellcharakter mancher Passagen (insbesondere des Schlussteils) könnte bei kritischeren bzw. rationaleren Lesern doch als ein wenig zu missionarisch empfunden werden.

Trotzdem: Unser soziales Gehirn ist ein gehaltvolles und gut lesbares Sachbuch, das sowohl informiert als auch Denk- und Handlungsimpulse liefert. Es gelingt STRÜBER, den Wert sozialer Verbundenheit auf eine fundierte biologische Grundlage zu stellen – und damit eine wichtige Perspektive in einer Zeit zu liefern, in der zwischenmenschliche Nähe längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

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“Der Pinguin, der fliegen lernte” von Eckart von HIRSCHHAUSEN

Bewertung: 3.5 von 5.

Wie wird man einem Buch gerecht, das so charmant daherkommt, dass man es beinahe kritiklos mögen muss – und das gleichzeitig auf so wohlvertrauten und ziemlich breitgetretenen Pfaden wandelt? Eckart von HIRSCHHAUSEN hat mit „Der Pinguin, der fliegen lernte“ erneut ein Werk vorgelegt, das seiner Leserschaft mit einer Mischung aus Humor, lebensnahen Anekdoten und psychologischer Selbsthilfe anspricht – durchaus unterhaltsam, im besten Sinne menschenfreundlich und sicher für viele auf der Suche nach Orientierung hilfreich.

Zentrales Motiv ist, wie der Titel verrät, ein Tier: der Pinguin. Was zunächst nach einer Kindergeschichte klingt, entpuppt sich als Symbol für das menschliche Bedürfnis nach dem „richtigen Platz im Leben“. Der scheinbar unbeholfene Vogel, an Land zum Scheitern verurteilt, zeigt im Wasser, was in ihm steckt – ein Bild, das HIRSCHHAUSEN als Metapher für persönliche Potenzialentfaltung ins Zentrum stellt. Dass es nicht darum geht, „fliegen zu lernen“, sondern das passende Element zu finden, zieht sich als roter Faden durch alle sieben Kapitel.
Nachdem der Ausganspunkt geklärt ist, werden weitere Fragen gestellt: „Was macht dir Freude?“, „Wer ist dir wichtig?“ oder „Traust du dich ins kalte Wassen?“

Der Autor bleibt sich treu: In gewohnt lockerer Weise verbindet er unterhaltsame Geschichten mit psychologischen Erkenntnissen. Immer wieder streut er kluge, teils witzige Formulierungen ein, die im Gedächtnis bleiben. Inhaltlich bewegt sich das Ganze allerdings überwiegend im Bereich dessen, was man aus früheren Veröffentlichungen von Hirschhausen (und von vielen anderen Ratgebern) bereits kennt – wer also seine bisherigen Bücher gelesen hat, wird hier wenig wirklich Neues entdecken.
Der Autor lässt dabei von den Pinguin-Analogien nicht ab: Mit einiger Kreativität schafft er immer wieder Bezüge zum Verhalten dieser putzigen und sehr sozialen Tiere.

Ein echtes Highlight ist die visuelle Gestaltung. Die Pinguin-Fotografien – eingefangen vom renommierten Tierfotografen Stefan Christmann – verleihen dem Buch einen besonderen Charme. Die Bilder sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern verstärken die emotionale Botschaft und laden zum Blättern und Verweilen ein.

Unterm Strich ist „Der Pinguin, der fliegen lernte“ ein freundlich-optimistischer Impulsgeber – gut geeignet als Geschenk für Menschen, die sich nochmal auf einen Weg machen wollen – oder denen man einen solchen Move zumindest wünschen würde. Ob man das Buch als substanzielle Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung sieht oder eher als sympathisch verpackte Sammlung altbekannter Lebensweisheiten, hängt wohl vom jeweiligen Bedarf und den Vorerfahrungen ab. Überfordert wird wohl durch diese Lektüre sicher niemand: Nebenwirkungen sind bei dieser gut verträglichen Dosis Selbstreflexion nicht zu befürchten.

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“Seelenzauber” von Steve AYAN

Bewertung: 3.5 von 5.

Schon der poetisch aufgeladene Titel dieses Buches macht deutlich, dass es sich um eine besondere Form der Geschichtsschreibung handelt – nicht um nüchterne Wissenschaftshistorie, sondern um eine eher an Stimmungen und Personen gebundene Erzählung über ein Jahrhundert Psychotherapie. Tatsächlich nimmt uns Steve Ayan mit auf eine Zeitreise, die sich in weiten Teilen wie ein biografisches Gesellschaftspanorama liest – mit dem Zentrum im berühmten Wiener Salon Sigmund Freuds. Dass das Buch im Untertitel von einer „Bilanz des Jahrhunderts der Psychologie“ spricht, wirkt dabei fast schon wie eine bewusste Irreführung: Im Kern geht es nicht um die Psychologie als Ganzes, sondern um die Entwicklung und innere Dynamik der Psychotherapie, genauer gesagt – um die Psychoanalyse und ihre Verästelungen.

Ayan folgt der Entstehung und Differenzierung der psychoanalytischen Bewegung mit großer Detailverliebtheit. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf Theorien und kulturellen Einbettungen, sondern vor allem auf den Persönlichkeiten: Freud, Jung, Adler, Reich, Rank – sie alle treten in ihren Eigenheiten, Eitelkeiten, Neurosen und Konflikten auf die Bühne. Das macht den Text lebendig, bisweilen fast romanhaft – und doch bleibt man als Leser irgendwann erstaunt zurück: Wo bleibt der Rest der Psychotherapie?

Erst spät und eher zögerlich widmet sich Ayan den anderen großen Schulen: dem amerikanischen Behaviorismus, der Gesprächs-, Gestalt- oder der Verhaltenstherapie.
Und selbst dort schlägt immer wieder der Bezug zur Analyse durch. Kaum glaubt man, der Blick wende sich nun gleichberechtigt anderen Richtungen zu, ruft Ayan doch wieder die alten psychoanalytischen Grabenkämpfe auf – oft mit einer fast klatschhaften Freude an persönlichen Dramen. Dass er dabei keineswegs als unkritischer Bewunderer Freuds auftritt, macht die Lektüre nicht weniger widersprüchlich. Im Gegenteil: Ayan formuliert sehr klar alle bekannten Schwächen der Psychoanalyse – ihre wissenschaftliche Unschärfe, die unzureichende empirische Evidenz, ihre teils sektiererischen Züge. Warum dann immer wieder diese Rückkehr zu genau dieser Welt?

Ein möglicher Grund liegt auf der Hand: Die Protagonisten der Psychoanalyse liefern mit ihren exzentrischen, oft toxischen Persönlichkeitszügen das dramatischere Material. Das verführt – aber es verzerrt auch.
An einigen Stellen gerät AYANs Auswahl der behandelten Figuren ins Groteske: Dass etwa Rudolf Steiners esoterische Denkgebäude ausführlich dargestellt werden, lässt einen am thematischen Fokus des Buches zweifeln. Fragwürdiger wird es auch, wenn zum Abschluss marxistisch inspirierte Therapiekonzepte angerissen werden – ohne echten Erkenntnisgewinn.

Doch dann kommt das Schlusskapitel – und es versöhnt. Hier gelingt AYAN ein stimmiges Resümee: Der weite Weg von Freuds Sofa bis zur modernen, pragmatischen Dienstleistungspsychotherapie wird in klarer Sprache mit einem kompetenten Blick für die großen Entwicklungslinien zusammengefasst. Trotz seiner Schlagseite bleibt Seelenzauber ein lesenswertes Buch – vor allem für Leserinnen und Leser, die ein starkes Interesse an der psychoanalytischen Welt und ihren historischen Verwicklungen mitbringen. Wer sich weniger für Persönlichkeitsgeschichten und innerprofessionelle Eitelkeiten begeistert, wird zumindest eine unterhaltsame Geschichtsstunde erleben.

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“See der Schöpfung” von Rachel KUSHNER

Bewertung: 3 von 5.

Es gibt Bücher, bei denen man sich nach der Lektüre beinahe schuldig fühlt, weil man den allgemeinen Begeisterungssturm nicht teilen kann. Wenn ein Werk von der Literaturkritik mit Lob überhäuft und für namhafte Preise nominiert wird, wächst der Druck, sich diesem Urteil anzuschließen. Und das eigene abweichende Urteil löst Zweifel aus: Hat man etwas übersehen? Oder ist man einfach nicht empfänglich für den besonderen Ton, den diese Literatur anschlägt?

Im Zentrum dieses Romans steht eine Ich-Erzählerin, die im Auftrag einer privaten Organisation eine Gruppe französischer Umweltaktivisten infiltriert. Die 34-jährige Sadie hat ihr Handwerk einst beim FBI gelernt. Ihre Tarnungen sind perfekt, ihre Loyalität gilt einzig dem Auftraggeber (und ihrem Honorar) – moralische Bedenken oder gar Skrupel kennt sie nicht. Diese Konstellation eröffnet eine reizvolle Prämisse: eine Agentin ohne ethischen Kompass, die sich auch persönlichste Beziehungen strategisch zunutze macht, um ihre Ziele zu erreichen.

Bemerkenswert ist, mit welcher Detailtreue und psychologischen Tiefe einige Mitglieder der Aktivistengruppe beschrieben werden – besonders eine Figur sticht durch ihre radikale Entwicklung hervor. Der Text erlaubt Einblicke in extreme Rückzugs- und Fantasiewelten, die weit über das hinausgehen, was man als bloße politische Radikalisierung verstehen würde. Eine zusätzliche Ebene bringt die spekulative Idee ins Spiel, die Welt hätte sich womöglich ganz anders entwickelt, wenn sich nicht der Homo sapiens, sondern der Neandertaler durchgesetzt hätte. Alte Mythen des Landstrichs, in dem die Handlung spielt, dienen als Projektionsfläche für diese evolutionäre Alternativgeschichte.

Auch sprachlich hebt sich der Roman zweifellos vom Mittelmaß der Unterhaltungsliteratur ab. Der Stil ist anspruchsvoll, pointiert, gelegentlich philosophisch grundiert.
Und doch bleibt der Gesamteindruck zwiespältig. Die einzelnen inhaltlichen Ebenen – politische Milieustudie, persönliche Tragödien, anthropologische Spekulation – greifen zwar textlich ineinander, ergeben aber letztlich kein überzeugendes kohärentes Ganzes.
Die Protagonistin bleibt durch ihr berechnendes, empathieloses Verhalten schwer zugänglich, fast schon abstoßend. Die Darstellung der Aussteiger-Szene changiert zwischen Romantisierung und Kritik, findet jedoch keinen klaren Standpunkt. Der Einfluss gescheiterter Lebenswege, Alkohol- und Drogenmissbrauchs wird nicht verschwiegen; gemischt werden diese Aspekte in einer wenig überzeugenden Weise mit einem stabilen antikapitalistischen gesellschaftliche Gegenentwurf.

So bleibt ein Buch, das sich bewusst vom literarischen Mainstream absetzt, aber in seiner etwas zerrissen wirkenden Komplexität nicht restlos überzeugt. Thematisch und sprachlich anspruchsvoll, ja – aber nicht in dem Maße bemerkenswert, wie es der Konsens der literarischen Kritikerszene vermuten lässt.

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