“Zusammen” von Ronja von WURMB-SEIBEL

Bewertung: 3.5 von 5.

Das Problem “Einsamkeit” ist seit einiger Zeit in aller Munde – und das sicherlich nicht ohne Grund.
Die Autorin dieses Buches hat sich entschlossen, sich dem Thema mit einer Genre-Mischung zu widmen: Sie mixt persönliche Erfahrungen mit Forschungsbefunden bzw. Zitaten aus zahlreichen einschlägigen Veröffentlichungen. Aus diesen beiden Quellen ensteht ein eher ruhig und gleichmäßig plätschernder Fluss, der ohne Stromschnellen daherkommt.
Die Kapitelgrenzen stellen eher grobe Orientierungen dar, das Verbindende überwiegt und wird durch die anschauliche Schilderung eigener Erlebnisse und Erfahrungen geschaffen.

Es geht um den Unterschied zwischen “allein” und “einsam” sein; um die Offenheit für neue Menschen (auch im fortgeschrittenen Alter); um die Notwendigkeit, eigene Ziele mit Hilfe von Verbündeten zu erreichen und um Strategien für den Aufbau von “Communities” im privaten und gesellschaftlichen Umfeld.
Am Schluss eines jeden Kapitels erweitert sich der Text in Richtung Lebens- bzw. Selbsthilfe: Unter dem Titel “Experimente für den Alltag” werden nicht nur eine kurze Zusammenfassung des Inhalts geboten, sondern auch einige entsprechende Anregungen für persönliche Reflexionen und konkrete Handlungsschritte gemacht.

Das Buch wendet sich ganz eindeutig nicht an ein wissenschaftlich orientiertes Publikum. Die angesprochenen Leser/innen finden sich wohl am ehesten in einem leicht alternativ-progressiven Milieu (z.B. bei Kulturschaffenden oder in der psychosozialen bzw. politischen Szene). Das Interesse an Gemeinschaft, Solidarität und gesellschaftlichen Engagement wird weitgehend vorausgesetzt.

Der sehr persönliche Stil erleichtert sicher den Zugang zu dem Text und schafft dadurch einen niederschwelligen Zugang zu der Thematik. Für ein Publikum mit höheren Erwartungen an Fachlichkeit und Strukturierung könnte immer mal wieder die Grenze zur Plauderei überschritten werden.
Insgesamt überwiegt der Eindruck, dass hier ein alltagsnahes Buch vor allem für die eigene “Blase” geschrieben wurde. Das muss kein Nachteil sein; man sollte es nur wissen.

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“Die nächste Stufe der Evolution” – von Ray KURZWEIL

Bewertung: 4 von 5.

(Dieses Buch wird am 28.11.24 in Deutschland erscheinen; die Rezension bezieht sich auf die amerikanische Originalausgabe “The Singularity is Nearer”).

Wenn man ein Gegenstück zu dem mahnenden und warnenden HARARI-Buch “Nexus” suchen würde: Hier ist es! Der amerikanische Erfinder, Futurist und Autor gehört zu den bekanntesten und einflussreichsten Digital-Gurus, die das angebrochene Zeitalter der Künstlichen Intelligenz als spannenden Weg in eine verheißungsvolle Zukunft betrachten.
Dabei traut sich KURZWEIL seit Jahrzehnten weiter aus der Deckung als die meisten seiner technikbegeisterten Mitstreiter, lag mit seinen Prognosen aber tatsächlich schon einige Male genau richtig.

Auch in seinem aktuellen Buch – eine Art Fortsetzung des 2005 erschienenen “The Singularity ist Near” – kratzt der Autor an den Grenzen, den Grenzen des Machbaren und des Vorstellbaren. Sein Markenzeichen ist dabei, dass er die Schilderung scheinbar abwegiger Zukunftsszenarien mit harten Fakten und Berechnungen unterfüttert, so dass seine Prognosen etwas geradezu Unvermeidliches bekommen.
Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang der – seit Jahrzehnten stabile – Trend, dass digitale Rechenleistung in einem atemberaubenden Tempo sowohl exponentiell größer und schneller, als auch immer (relativ) billiger wird. KURZWEIL führt uns vor Augen, dass dies nicht nur die Grundlage für den aktuellen Siegeszug von ChatGPT und Konsorten darstellt, sondern in den nächsten beiden Dekaden zu – je nach Einstellung – faszinierenden bzw. verstörenden Entwicklungen führen wird.

Spektakulär sind vor allem die – ausführlich geschilderten – Szenarien, in denen nicht nur die direkte Verbindung zwischen unserem Gehirn und digitalen Geräten bzw. der Cloud eine geradezu unendliche Erweiterung unserer kognitiven Fähigkeiten schaffen, sondern mithilfe von Nano-Bio-Computern unser Gehirn nach Bedarf repariert oder ausgelesen und in digitale Umgebungen übertragen werden kann.
Entsprechend futuristische Ankündigungen betreffen auch die Medizin allgemein; natürlich speziell den Aspekt der Lebensverlängerung. Eines der krassesten Beispiele: KURZWEIL geht davon aus, dass der erste Mensch, der sein 1000. Lebensjahr erreicht, bereits geboren wurde. Da zögert man kurz. Der Autor verweist dann darauf, dass es schon in zwei bis drei Jahrzehnten möglich sein wird, alle Körperprozesse durch Nanotechnologie lückenlos zu überwachen und jede Funktionsstörung oder Alterung durch Reparatur oder Ersatzprodukte zu beseitigen.
Um es zu wiederholen: All das spinnt sich der Autor nicht im Sinne einer Science-Fiction aus, sondern leitete es lückenlos aus bereits vorhandenen Ansätzen und stabilen Trends ab.

Und die Gefahren?
KURZWEIL ist ein notorischer Optimist. Er verwendet viele (vielleicht zu viele) Seite seines Buches auf die Beweisführung, dass der menschliche Fortschritt letztlich unaufhaltsam voranschreitet. Dabei greift er auch auf statistisches Material von PINKER (“Aufklärung jetzt“) zurück.
Er ist recht sicher, dass die Menschheit auch in der Lage sein wird, die – nicht geleugneten – Risiken der KI-Revolution zu bewältigen.
In Bezug auf die wirtschaftlichen Umbrüche zeichnet der Autor ein sehr abgewogenes Bild: Es sei letztlich eine gesellschaftliche Aufgabe, die schwierige Übergangszeit bis zu einer “Überflussgesellschaft für alle” so zu managen, dass nicht einzelne Gruppen den Preis dafür zahlen müssen (z.B. durch Arbeitslosigkeit). Willkommen in der Sozialen Marktwirtschaft!

Natürlich bleiben bei einem so weiten und ungehemmten Blick in die Zukunft einige Fragen offen. KURZWEIL selbst thematisiert die Frage, ob wohl eine fehlende gesellschaftliche Akzeptanz oder andere politische Widerstände dazu führen könnten, dass technologisch mögliche Entwicklungen verzögert werden. Er lässt durchblicken, dass er das bedauerlich fände.
An einem anderen Punkt wird deutlich, dass der Autor zwar ein begabter Techniker und mutiger Visionär ist, aber ganz sicher kein Psychologe. Wenn er darüber schwärmt, wie sich unsere Gehirnkapazität vervielfachen könnte und uns so bisher ungeahnte Abstraktionsebenen, z.B. das Denken in 11 Dimensionen, zugänglich werden könnte, so bleibt der Aspekt der psychischen bzw. emotionalen Bewältigung solcher Erfahrungen völlig außen vor. Wie müsste unser psychischer Apparat aussehen, wenn wir permanent mit allen verfügbaren Wissensbeständen der Menschheit verbunden wären und selbst so etwas wie eine KI in uns tragen würden? Müssten dann die Nano-Maschinen in unserem Körper unsere Emotionsregulation so konstruieren, dass sie zu unseren unbegrenzten kognitiven Fähigkeiten kompatibel wären? Wer testet das wie aus? Gibt es darauf dann Patente und monatliche Updates?

Aber trotzdem: Der Wert dieses Buches wird mit solchen Überlegungen keineswegs in Frage gestellt. Hier ist Transhumanismus keine philosophische Denkrichtung, sondern eine konkrete technologische Prognose. Wer wissen möchte, wie weit man dabei im Moment fakten- und datenbasiert gehen kann, findet hier faszinierende bzw. erschreckende Antworten auf Expertenniveau.
Eine öffentliche Diskussion zwischen KURZWEIL und HARARI über die KI-Zukunft wäre sicher ein extrem spannendes Event. Bis dahin bleibt die Möglichkeit, beide Stimmen zu hören (lesen).

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22.09.2024 Nach den Landtagswahlen

Nach den heutigen Ergebnissen und auf der Basis einiger erster Stellungnahmen wage ich mal eine Prognose:
Die FDP wird die Ampel-Koalition noch in diesem Herbst bzw. in diesem Jahr platzen lassen. Es wird Neuwahlen Anfang des Jahres 2025 geben. Das Ergebnis wird eine Koalition von CDU/SPD/FDP sein. Der Vizekanzler wird Boris Pistorius heißen; vermutlich wird er Verteidigungsminister bleiben. Die FDP wird das Wirtschaftsministerium bekommen.

Ich gehe davon aus, dass die FDP sich einen Belohnungs-Bonus dafür ausrechnet, dass sie die ungeliebte Ampel früher beendet; sie wird sich damit deutlich über die 5% bringen.

Es wird 4 Jahre lang nur noch über Wirtschaft und Migration geredet werden; die Klima-Politik wird in einen Koma-Zustand versetzt. Deutschland wird sich in die Staaten einreihen, die immer mehr nationale statt europäische Entscheidungen anstreben.

Vermutlich wird in diesen Jahren in den USA eine fortschrittlichere und weitsichtigere Politik gemacht werden als hier bei uns. China wird uns bei der Transformation in eine CO2-freie Wirtschaft abhängen. Dafür bleiben wir “technologieoffen” bis zur Selbstzerstörung!

Alle Quatsch!?
Wir werden sehen. Ich werde diesen Post jedenfalls nicht rausnehmen – egal was passiert.

“Views” von Marc-Uwe KLING

Bewertung: 4.5 von 5.

Es erscheint geradezu unmöglich zu sein, über diesen Roman eine Rezension zu schreiben, ohne zu viel zu verraten, also zu spoilern. Der Grund: Der inhaltliche Handlungsplot ist so unlösbar mit dem Charakter, dem Ziel und der Botschaft dieses Buches verbunden, dass man sich ins Formale flüchten muss.
Gerecht wird man diesem Text damit sicher nicht – aber man kann ihn noch ohne Einbußen an Spannung lesen; und es ist keine schlechte Idee, genau das zu tun (hören geht übrigens auch).

Der Autor ist in einem anderen Genre bekannt geworden und hat sich – insbesondere mit seinen Känguru-Erzählungen – eine große Fangemeinde erschrieben. Hier haben wir es mit einer Art Krimi zu tun: Ein Mädchen verschwindet; ein Video von ihrer Vergewaltigung taucht auf, das auf migrantische Täter hinweist; im Netz entsteht eine Empörungswelle; eine farbige BKA-Fahnderin (die selbst eine Tochter hat) ermittelt.

Die Zeitstruktur ist angenehm einfach und linear; es wird aus Sicht der Protagonistin erzählt. Man lernt ihr Team und ihren Chef kennen, ihre Tochter und noch ein paar wenige Nebenfiguren. Es fällt leicht, sich mit dieser Ermittlerin zu identifizieren. Man bewegt sich in einem aufgeklärten, gemäßigt progressiven Milieu; die Gegner stehen rechts.
Der Gegenwartsbezug der Geschichte ist an jeder Ecke spürbar: Sie spielt in einer Welt von Social-Media, Shitstorms, Medienhypes, Influencern, Darknet und Bewegungsprofilen; auch die KI lugt schon um die Ecke.
Wie nicht anders zu erwarten ist der Stil des Autors frisch, modern und schnörkellos. Er wird – wie immer – seine Zielgruppe im links-grün-liberalen Bürgertum erreichen. Auf schwereren ideologischen Ballast verzichtet KLING dabei – er ist anschlussfähig bis weit in den Mainstream hinein (wobei das womöglich nicht mehr lange so gilt – wenn der Mainstream sich immer weiter nach rechts verschieben sollte).

KLING erzählt nicht nur eine geschickt konstruierte Story mit überraschenden Wendungen – ein Unterhaltungs-Handwerk, das er ohne Zweifel beherrscht. Dem Autor geht es mindestens im gleichen Maße um Aufklärung und Warnung vor bestimmten Entwicklungen, deren Risiken sich inzwischen schon deutlich abzeichnen.
Zwar verbieten sich hier inhaltliche Aussagen; aber man kann doch festhalten, dass in “Views” die Verbindung von Handlung und Botschaft außerordentlich gut gelungen ist.

Es ist weit und breit kein Grund in Sicht, dieses Buch nicht zu empfehlen: Es bietet einen anregenden, spannenden, informativen und aufklärerischen Zugang zu einem brandaktuellen Thema. Kurz gesagt: intelligente Unterhaltung at its best!

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“Nexus” von Yuval Noah HARARI

Bewertung: 4 von 5.

Seit seinem Welterfolg “Sapiens” (2013) ist jede Buchveröffentlichung des israelischen Historikers HARARI ein weltweit beachtetes Ereignis: intellektuell, literarisch, medial, politisch. Der Autor ist so etwas wie ein Global-Intellektueller geworden, der nicht nur auf YouTube mit Hunderten Interviews und Vorträgen präsent ist, sondern dem auch die mächtigsten Entscheider in Wirtschaft und Politik ihre kostbare Aufmerksamkeit schenken.

Schon in seinem Buch “Homo Deus” (2016) hat sich HARARI mit der technologischen Zukunft und ihren möglichen Auswirkungen befasst. Seine Prognosen über die Weiterentwicklung des Menschen durch biotechnische und digitale Hilfsmittel und Eingriffe hat viele Menschen so aufgeschreckt, dass sie den Überbringer der Botschaft mit den Inhalten verwechselt haben: Bestimmte Kreise unterstellten dem Autor, er sei ein unkritischer oder gar enthusiastischer Befürworter all dieser Zukunftsszenarien.
Wenn auch diese Interpretation schon damals abwegig war (was man dem Text unschwer entnehmen konnte), so ist dieses Missverständnis im “Nexus” ausgeschlossen: Dieses Buch ist eine einzige Warnung.

Man ahnte es natürlich schon: Wenn sich jemand wie HARARI mit einem neuen Buch in den aktuellen Diskurs einschaltet, kann es nur um ein, um DAS Thema der Stunde gehen: die Künstliche Intelligenz (KI). Der Autor tut es auf seine Weise, er tut es als Historiker. Bei ihm geht es nicht um die technischen Aspekte der KI-Revolution; er setzt diese Zeitenwende in den vergleichenden Kontext früherer Informationsnetzwerke: der mündlichen Überlieferung, der Schrift, des Buchdrucks, der Massenmedien (Radio und TV) und des Internets. Es geht ihm um das Verständnis der Gegenwart mithilfe der Analyse der Vergangenheit, es geht – wiederum – um die ganz weite Perspektive, um den großen Wurf.
Dabei nimmt HARARI die Rolle ein, die ihm so gut steht: die des Welterklärers.

Am Anfang und im Zentrum seines Geschichtsbildes steht der Mensch als soziales Wesen, der aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten zur Kooperation in großen Gruppen die Macht über unseren Planeten übernommen hat. Er arbeitet heraus, dass die entscheidende Variable dabei schon immer aus “Information” bestand; sie war und ist die Grundsubstanz in Mythen, Religionen, Wissenschaft, Wirtschaft und Machtsystemen.
Dabei begrenzen Struktur und Leistungsfähigkeit der Wege (Netzwerke), durch die Information verbreitet wurde und wird, deren Möglichkeiten: So setzt die Verwaltung eines mittelalterlichen Imperiums oder die moderne Totalüberwachung einer Bevölkerung jeweils bestimmte (technische) Hilfsmittel voraus, also eine gewisse Qualität des eingesetzten Informationsnetzwerkes.

Nach der historischen Analyse des ersten Buchteiles, konzentriert sich HARARI im zweiten Teil darauf die Besonderheiten der digitalen, auf Computer basierten Informationsnetzwerke. Dabei sieht er nochmals einen qualitativen Sprung zwischen zwischen den – schon extrem folgenreichen und gefährlichen – Algorithmen der Social-Media-Welt und den letztlich unbegrenzten Kapazitäten der KI, die dem Menschen auch noch die Schöpfung neuer Ideen und das autonome Entscheiden abzunehmen droht.
In aller Ausführlichkeit stellt HARARI die Risiken einer unkontrollierten und unregulierten Übertragung von Kontrolle und Macht an KI-basierte Informationsnetzwerke dar. Dabei geht es ihm nicht um spektakuläre Science-Fiction-Szenarien mit waffenstarrenden Kampfrobotern, sondern um den schrittweisen Rückzug des Menschen aus der Verantwortung für weitreichende soziale, ökonomische und militärische Entscheidungen.

HARARI hat eine eindringliche Sprache und eine wirksame Didaktik, deren Wirkung man sich nur schwer entziehen kann. Seine Thesen formuliert er sehr prägnant und verständlich, lässt ihnen dann ein paar sehr gut nachzuvollziehende Beispiele folgen und wiederholt dann die – jetzt plausibel untermauerte – Aussage. Da ist ohne Zweifel fast immer überaus überzeugend.
Da der Autor sich als Historiker in der Grauzone zwischen Fakten und Interpretationen bewegt, wird nicht immer ganz deutlich, ob man sich gerade einer wissenschaftlichen Tatsache oder einer Meinung anschließt. Nur wenn man selbst in einem Punkt eine sehr klare Überzeugung hat, fällt auf, dass man diese spezielle Sache ja tatsächlich auch anders sehen könnte: So könnte man z.B. durchaus der Meinung sein, dass die Bekämpfung des Klimawandels nicht zu den Punkten gehören, die dem demokratischen Spiel der Kräfte überlassen werden sollte/müsste. (Natürlich ist HARARI kein Klimawandel-Leugner; er verteidigt nur sehr vehement die Demokratie).

Der Autor begründet seine doch sehr einseitige Konzentration auf die Risiken der KI-Revolution in der Regel damit, dass die andere Seite (die Vorzüge und Chancen) schon genug Fürsprecher hätten – insbesondere durch die Menschen und Institutionen mit wirtschaftlichen Interessen. Es ist fraglich, ob HARARI damit sich und diesem Buch wirklich einen Gefallen tut.
Einer so grundsätzlichen und gründlichem Analyse, die in der nächsten Zeit den internationalen Diskurs prägen wird, hätte es sicher gutgetan, wenn auch den Potentialen der KI etwas mehr Beachtung geschenkt worden wäre – über ein paar Alibi-Bemerkungen hinaus. HARARI wird ja nicht müde, auf die großen, ungelösten Menschheitsprobleme hinzuweisen. Statt die KI einseitig in die Liste der apokalyptischen Bedrohungen mit aufzunehmen, hätte auch die These Aufmerksamkeit verdient, dass KI den vielleicht einzig realistischen Lösungsansatz für genau diese Herausforderungen zu bieten haben könnte. Auch dafür haben schlaue Leute schon gute Argumente geliefert. Gut: HARARI erwähnt das, beschäftigt sich aber damit nicht wirklich. Schade!

Ein wenig problematisch erscheint auch, dass der Autor bei der Diskussion einzelner KI-Risiken die Ebenen nicht immer ganz sauber auseinander hält. So schreibt er es immer wieder mal der KI auf die Fehlerliste, wenn sie aufgrund mangelhafter Ausgangsdaten oder einer unüberlegter Zieldefinition problematische Ergebnisse produziert. In gewisser Weise wird in solchen Beispielen der KI vorgeworfen, dass sie tut, was sie tun soll. Wenn z.B. die KI aus den Personal-Daten bisher erfolgreicher Bewerber herausliest, dass das männliche Geschlecht offenbar ein bedeutsamer Faktor darstellt, kann man das nicht ernsthaft der KI vorwerfen. Soll sie Muster übersehen, die sie in den Daten findet? Wenn sie das soll, dann muss man ihr das eben mit auf den Weg geben – statt über ihre Voreingenommenheit zu klagen.
Natürlich hat HARARI Recht, wenn er auf das Prinzip der menschlichen Kontrolle und Verantwortung hinweist; wenn er die Probleme beschreibt, die sich daraus ergeben, dass die Entscheidungsalgorithmen sich einer menschlichen Nachvollziehbarkeit immer mehr entziehen. Doch zum Gesamtbild gehört ja auch, dass es ja gerade die Stärke der KI ausmacht, dass sie Muster erkennt und berücksichtigt, die für menschlichen Logiken nicht erreichbar sind.

“Nexus” wird mit Sicherheit ein weltweiter Mega-Bestseller – in großem Umfang sicher auch zu recht. Vermutlich wird er aber weniger unwidersprochen bleiben, als HARARIs frühere Bücher. KI ist das Thema der Stunde, der nächsten Jahre und Jahrzehnte. Die Stimme des bekannten und geschätzten Autors wird gehört werden, aber sicher weniger exklusiv.
Er hat eine Facette kompetent und erhellend beleuchtet: die historische Einbettung. Für die Fragen von Chancen und Risiken der KI wird er eine Stimme von vielen bleiben.

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“Eine Art Familie” von Jo LENDLE

Bewertung: 3.5 von 5.

Begeisterung für ein Buch macht neugierig auf den Autor und frühere Werke. So war es mit Jo LENDLE (Die Himmelsrichtungen). “Eine Art Familie” ist ein deutlich sperrigerer Text.
Der Autor taucht tief in die Geschichte seiner Familie ein und rekonstruiert die Lebensläufe einiger Personen rund um seinen Großonkel Ludwig quer durchs 20. Jahrhundert. Basis dafür sind akribische Tagebuchaufzeichnungen, die Ludwig eigentlich zur Vernichtung bestimmt hatte.

Natürlich spiegeln sich die großen Jahrhundert-Themen in den privaten und beruflichen Begebenheiten der Protagonisten: der Lebensgemeinschaft von Ludwig mit seinem nur wenig jüngeren Patenkind Alma und einer treuen Haushälterin; daneben noch dem eher fremden Bruder Wilhelm und seiner Familie.
Es geht um die beiden Kriege, die Narben des ersten Weltkriegs, die Haltung zu und die Verstrickungen mit der NS-Diktatur, um das widersprüchliche Leben in der jungen DDR, um die Erfolge der Wissenschaft, um Ruhm und Karrieren.

Aber das ist nicht der eigentliche Gegenstand dieses insgesamt leisen und sehr persönlichen biografischen Romans. In oft mikroskopischer Feinarbeit werden die eigenwilligen Persönlichkeiten der drei Hauptfiguren ausgeleuchtet; dabei halten diese keineswegs spektakuläre oder grandiose Fähigkeiten bzw. Charaktereigenschaften bereit. Eher im Gegenteil: Die so detailverliebt beschriebenen Personen sind eigentümlich unfertig, in sich zerrissen, die meiste Zeit ein wenig schräg und verschroben. Sie eignen sich nicht als Helden oder Identifikationsfiguren, ihre Menschlichkeit ist meist allzu menschlich.
Immer wieder hat man das Gefühl, dass insbesondere Ludwig und Alma irgendwie an ihrem Leben und auch an der Gestaltung ihrer Beziehung vorbeileben. Trotz räumlicher Nähe und selbstverständlicher Loyalität, findet Intimität und Kommunikation nur indirekt statt.

Auch in der äußeren Welt, in der Ludwig als Professor für Pharmakologie durchaus Erfolge hat, steht er sich doch immer wieder auch selbst im Wege, hadert und zögert, findet nicht wirklich zu sich selbst. Die Verstrickungen seiner Forschungen über Narkosemittel und giftige Gase mit dem Vernichtungskrieg der Nazis treiben ihn um; seine Wege sind nicht ohne Schleifen und Ambivalenzen. Sein Leben lang wollte er das Geheimnis des Schlafes entschlüsseln, am Ende sinniert er über den Zusammenhang zwischen Schlaf, Narkose und Tod.

Doch kann man den Charakter und die Qualität dieses Buch nur dann wirklich erfassen, indem man seine Sprachkunst thematisiert. Es gelingt LENDLE nicht nur, seine Figuren sensibel und facettenreich zu zeichnen, sondern er kreiert immer wieder Formulierungen, die man sich auch eingerahmt an der Wand vorstellen könnte. Die Sprachbilder die er dabei benutzt sind so perfekt auf den zeitlichen und emotionalen Kontext abgestimmt, dass es einem kurzfristig die Sprache geradezu verschlägt.

Trotzdem: Das Lesen dieses Buches geht nicht von selbst; die Intensität und Tiefe der Betrachtungen hat auch ihren Preis und bereitet stellenweise auch mal etwas Mühe. Ohne die Bereitschaft, sich auf die Protagonisten mit all ihren Macken, Ecken und Kanten einzulassen, könnte die Lesemotivation zwischenzeitlich auch mal zur Neige gehen.
Das Buch ist etwas für Leser/innen, die weniger auf der Spur nach bestimmten Ergebnissen sind, sondern eher den Prozess des ruhigen Einlassens auf eine unbekannte Szenerie zu schätzen wissen.

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“Partikel” von Wolf HARLANDER

Bewertung: 2.5 von 5.

Warum nicht mal Mikroplastik zum Thema eines Ökokrimis machen? Thematisch liefert das ökologische Risiko jedenfalls ausreichend Stoff.

Wir begleiten in dem umfangreichen Roman eine Reihe von Protagonisten: ein an Krebs erkranktes Kleinkind mit seinem alleinerziehenden Vater, seine als Journalistin arbeitende Schwester, ein Ermittler-Paar des BND, ein vermeintlich selbstloser Öko-Unternehmer, einige Aktivisten. Drumherum noch ein paar Nebenfiguren.

Wie es sich in diesem Genre gehört, erfährt die Leserschaft eine Menge über das Ausmaß, in dem wir alle Geisel des Plastik-Tsunamis sind: Plastik ist überall, nicht nur in den Weltmeeren und in den Mägen zahlreicher Tiere, sondern – in mikroskopischer Form – auch in Lebensmitteln, Getränken und oft auch schon in unserem Blut.
Der Kampf gegen die Verseuchung unseres Planeten durch diese “Errungenschaft” des Menschen scheint aussichtslos zu sein – angesichts der unvorstellbaren Größenordnung und Hartnäckigkeit des Problems.

Dieses Buch konzentriert sich auf eine “innovative” Bio-Technologie, in der speziell gezüchtete Algen dem Mikroplastik an den Kragen gehen sollen.
Das Ganze spielt in Düsseldorf, allerdings sind auch ein amerikanischer Firmenchef und eine amerikanische Spezialklinik involviert.
Der Spannungsbogen entfaltet sich einerseits rund um das Wohlergehen der zweijährigen Zoe; zum anderen findet ein Wettlauf zwischen den beiden BND-Fahndern und einigen Bösewichtern statt. Wie man es erwarten kann, ist nicht zu jeder Zeit so ganz klar, wer auf welcher Seite steht.

Ohne Zweifel hat sich der Autor um die Konstruktion einer insgesamt ausreichend komplexen Geschichte bemüht. Schon allein die Anzahl der Figuren schafft eine gewisse Dynamik und Abwechslung. Typische Spannungshänger sind ebenfalls eingebaut: Wer will, kann so eine kleine Weile bangen, bis sich die Situation dann etwas später auflöst.
Der aufklärerischen Aufgabe eines Öko-Thrillers ist HARLANDER sicher auch gerecht geworden: Nach dem Lesen dieses Buches wird wohl niemand mehr das Plastik-Problem unterschätzen.

Aber der Plot hat auch Schwächen: So wirken die Aktionen des BND-Paares seltsam unprofessionell und isoliert; man kann sich kaum vorstellen, dass solche Aktionen nicht stärker in eine Teamarbeit integriert wären. Ob die schillernde Hauptfigur des reichen Öko-Konzern-Chefs psychologisch glaubwürdig rüberkommt, darf zumindest stark bezweifelt werden.
Und: 600 Seiten wollen gefüllt werden! Um es kurz zu sagen: Das Buch hat Längen! Nicht jede Nebenhandlung (z.B. rund um die Großeltern von Zoe) trägt zum Handlungsverlauf bzw. zum Lesegenuss bei. Ein Geheimnis bleibt auch, warum um die (verstorbenen) Eltern des männlichen BND-Agenten eine Nebenstory aufgebaut wird, die zu keinem echten Ergebnis führt. Eine Vermutung bleibt: Hier könnte sich ein Nachfolgeband anschließen…

So bietet HARLANDER letztlich nicht mehr als Durchschnittsware – wenn auch im XXL-Format. Für jemanden, der/die auch gerne Zeit mit einem Buch verbringt und für gewisse Schwächen Toleranz aufbringt, kann das ja durchaus passen.

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“Die Himmelsrichtungen” von Jo LENDLE

Bewertung: 4.5 von 5.

Dieses Buch über eine junge, mutige, emanzipierte Frau wurde von einem Mann geschrieben und wird hier von einem alten weißen Mann rezensiert. Kann das gutgehen?

Dieses Buch handelt deshalb vom Fliegen, weil sich die Protagonistin – eine reale Person namens Amelia Earhart, als Weg zu ihrer Selbstfindung, zu ihrem Ausbruch aus Rollenklischees und zum Ausleben ihres unbändigen Freiheitsbedürfnisses spektakuläre Grenzerfahrungen am Steuerknüppel von Flugzeugen gewählt hat. Wäre sie durch ihre Energie, ihre Abenteuerlust und Tollkühnheit in eine andere Richtung getrieben worden, wäre möglicherweise ein Buch über eine Artistin oder Bergsteigerin entstanden.
Obwohl es also vermeintlich thematisch um den Menschheitstraum “Fliegen” geht, handelt das Buch im Kern von einer sehr besonderen Frau und ihrer faszinierenden Biografie.

Wie man dem Cover des Buches entnehmen kann, befinden wir uns nicht im Zeitalter der großen Passagier-Jets, sondern in der Anfangsphase der Fliegerei, in der die Maschinen noch winzig, extrem unkomfortabel und in einem kaum mehr vorstellbaren Maße den Kräften der Natur ausgeliefert waren.
Natürlich war die abenteuerliche und extrem gefährliche Sache damals (in den 20iger Jahren) zunächst eine reine Männerdomäne. So gab es wohl kaum einen anderen Bereich, in dem die ersten weiblichen Akteure mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnten.
Amelia war die erste Frau, die bei einer Atlantik-Überquerung mitflog; einige Jahre später (1932) überquerte sie den Ozean im Alleinflug.

Das Buch selbst beginnt allerdings mit dem letzten ultimativen Abenteuer: dem 1937 gestarteten Versuch, den gesamten Erdball in Äquatornähe zu umfliegen. Von seinem offenen Ende aus verfolgen wir die entscheidenden Stationen dieser faszinierenden Frauen-Biografie entgegen der Chronologie, rollen also die Entwicklung dieser Ausnahme-Persönlichkeit von hinten auf.
Dabei lernen wir eine Frau kennen, die nicht nur an technischen und körperlichen Grenzen rüttelt, Rollenerwartungen auf den Kopf stellt und so zu einem weltweiten Vorbild für die Idee der Emanzipation wird. Experimentierfreudig und kompromisslos lebt sie auch ihre Vorstellungen von Beziehung, Lust und Liebe aus – einschließlich eines sehr persönlichen Kontaktes zur Präsidenten-Gattin Eleanor Roosevelt.

Grundlage für dieses packende und lebendige Buch bilden persönliche Aufzeichnungen der Protagonistin. Fairerweise macht der Autor selbst darauf aufmerksam, dass somit in großen Teilen Amelia Earhart dieses Buch selbst verfasst habe.
Trotzdem gebührt dem Schriftsteller und Verleger LENDLE die Anerkennung für die Ausgestaltung dieses berührenden biografischen Romans. Allein die ungewohnte Zeitperspektive ermöglicht eine erhellende Betrachtung der inneren Logik der jeweiligen Entwicklungsschritte. Von dem (bekannten) Ergebnis her, gewinnen sich die vorausgegangenen Episoden eine raffinierte Zwangsläufigkeit.

Das Lesen dieses Buches bereitet auf mehreren Ebenen Vergnügen: Es liefert auf unterhaltsame Art zeitgeschichtliches Wissen, feiert mir psychologischem Feingefühl eine wahrhaft starke Frauen-Persönlichkeit, lässt aber auch einen Blick auf die Abgründe einer schier grenzenlosen Risikobereitschaft zu.
Es erscheint nur schwer vorstellbar, dass jemand das Lesen dieses Buches ernsthaft bereuen könnte. Das gilt keineswegs nur für Frauen – Autor und Rezensent bürgen dafür.

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“Krise” von Ulrich SCHNEIDER

Bewertung: 4 von 5.

In seinem aktuellen Buch liefert der langjährige Verbandsvorsitzende SCHNEIDER (Paritätischer Wohlfahrtverband) eine umfassende Analyse der Sozialpolitik der letzten ca. 5 Jahre.
Er begründet mit dieser Bilanz seine Überzeugung, dass die „Krise“ unserer Gesellschaft nicht nur das (unvermeidbare) Ergebnis externer Herausforderungen ist, sondern auch eine Folge einer verfehlten Sozial- und Wirtschaftspolitik. Diese habe nämlich mit unzureichenden bzw. falsch adressierten Maßnahmen reagiert und so die soziale Spaltung unserer Gesellschaft noch verschärft und neue Gräben aufgerissen. Seine Kernthese lautet dabei: Es mangelte an Gerechtigkeit und Solidarität gegenüber den wirklich Bedürftigen, den Armen.

Zunächst erfolgt eine kritische Betrachtung der Einzelentscheidungen, die seit Beginn der Corona-Pandemie umgesetzt wurden. Gestützt auf umfangreiches Zahlenmaterial entwickelt SCHNEIDER seine Argumentationslinie: In einer Vielzahl von Ausgleichs- und Unterstützungsprogrammen seien – zunächst noch von der Merkel-Regierung – riesige Summen eingesetzt worden, insbesondere um die Wirtschaft zu stabilisieren und Kurzarbeit zu finanzieren. Es werden dann auch alle weiteren Maßnahmen und Hilfsprogramme der Ampel-Regierung im Kontext von Pandemie, Energiepreisentwicklung und Inflation daraufhin überprüft, in welchem Umfang und in welcher Reihenfolge sie jeweils welche Zielgruppen erreicht haben. Auch diese Bilanz – so ist SCHNEIDER ganz sicher – fällt durchweg zuungunsten der Menschen in prekären Lebensverhältnissen aus.

Auf welchem politischen Hintergrund ist das zu erklären?
Hier kommt die Erfahrung des langjährigen Sozialfunktionärs zum Tragen: SCHNEIDER klärt seine Leserschaft ausführlich über die Interessens-, Abhängigkeits- und Machtkonstellationen der Parteien, Verbände und sonstigen Akteure auf, die für die Ausgestaltung der Sozialpolitik in unserer Republik Bedeutung haben. Auch dabei fokussiert er auf die jeweiligen Prioritäten und kommt zu dem Schluss, dass zwar die Arbeitnehmer eine starke Lobby an ihrer Seite haben, die Interessen der auf Transferleistungen angewiesenen Menschen aber oft hintenangestellt werden.
Dabei vergisst er nicht, auf die – seiner Überzeugung nach – skandalösen Versuche hinzuweisen, mit denen wirtschaftsnahe konservative und neoliberale Kreise die Bedürftigkeit mit Begriffen wie „Faulheit“ und „Betrug“ in Verbindung bringen. Dabei ist auch die (erste Phase) der Auseinandersetzung um das Bürgergeld schon Thema.
Auch eine Analyse der – weitgehend erfolglosen – überparteilichen, zivilgesellschaftlichen Initiativen im Bereich der Armutsbekämpfung gehört zu dem von SCHNEIDER gelieferten Gesamtüberblick. Er thematisiert ebenso sein vorübergehendes parteipolitisches Engagement (bei den LINKEN); auch dies liest sich nicht wie eine Erfolgsstory.

Man merkt dem Autor seine Enttäuschung über die ausbleibenden Fortschritte bei der Armutsbekämpfung an; gelegentlich schimmert vielleicht sogar eine Spur Resignation um die Ecke…
Aber SCHNEIDER wäre nicht SCHNEIDER, wenn er an Aufgeben denken könnte. Im Gegenteil: Im Schlussteil seines Buches ruft er alle potentiellen Bündnispartner zum Weiterkämpfen auf und erstellt dafür einen umfangreichen Forderungs- bzw. Maßnahmenkatalog.

Der größte Verdienst dieses faktenreichen und meinungsstarken Buches liegt darin, das ganz grundsätzliche Versagen der wirtschaftlichen und politischen Eliten dieses Landes zu thematisieren. Wie kann es sein, so fragten sich in den letzten Krisenjahren viele und so fragt sich auch SCHNEIDER, dass es keinen ersthaften Versuch gab, den wahrhaft historischen Herausforderungen durch Pandemie, Krieg und Klimawandel mit einem nennenswerten solidarischen Beitrag der Vermögenden und Reichen zu begegnen? Wie kann es sein, dass noch nicht einmal krisenbedingte Sondergewinne zumindest anteilmäßig zur Finanzierung der Bewältigung herangezogen wurden? Wie kann es sein, dass Zahl und Vermögen der Milliardäre in der Krisenzeit noch deutlich zugenommen haben, während die Ärmsten eher mit Almosen abgespeist wurden?
Warum scheint der Gedanke so abwegig zu sein, dass es für diejenigen, die von dem Funktionieren unseres Gemeinwesens mehr als alle anderen profitiert haben, eine Ehre und eine moralische Pflicht darstellen könnte, in solchen Krisen einen Sonderbeitrag zur Bewältigung der Gemeinschaftsaufgaben zu leisten. Warum traut sich (fast) niemand, das einzufordern? Warum gilt es in den einschlägigen Kreisen nicht als „hipp“ und „trendy“, in gesellschaftlichen Notlagen Verantwortung zu übernehmen? Worum denken auch Sie beim Lesen dieser Zeilen zuerst daran, wie blauäugig und naiv solche Gedanken sind? Sind solidarische Gesellschaften bloße Utopie?

Inzwischen ist wohl klargeworden: Dieser Text wurde nicht aus wissenschaftlicher oder journalistischer Perspektive geschrieben. Hier äußert sich einer der wenigen wirklich lautstarken und unermüdlichen Armuts-Lobbyisten, der sich nicht durch parteipolitische Abhängigkeiten die Eindeutigkeit seiner Kritik und seiner Forderungen nehmen lässt. Seine Parteilichkeit steht in keinem Moment in Zweifel, die angeführten Zahlen und Fakten dienen durchweg der Untermauerung seiner Argumentation.
Das ist selbstverständlich legitim und angesichts der geradezu überwältigenden politischen und medialen Schlagkraft der neoliberalen Weltsicht wohl auch mehr als verständlich. Allerdings hat die Eindeutigkeit seiner Position auch einen Preis: Man wird SCHNEIDER kaum zugutehalten können, dass er auch nur einzelne Aspekte einer alternativen Sichtweise zu berücksichtigen oder gar integrieren versucht: Sein Weltbild zeigt keine Risse!

Man hätte sich z.B. in einem Buch, in dem es ganz zentral um Armutsbekämpfung geht, zumindest eine kurze Auseinandersetzung mit verschiedenen Armutsdefinitionen gewünscht, über die im politischen Raum ja durchaus gestritten wird. So wird z.B. immer wieder bezweifelt, ob das (in der Regel zugrunde gelegte) Konzept der „relativen“ Armut wirklich dazu geeignet sei, prekäre Lebenssituationen angemessen zu erfassen.
Der Ansatz, gesellschaftliche Armut über öffentliche Infrastruktur zu bekämpfen, wird zwar kurz genannt, spielt aber in dem Text insgesamt leider kaum eine Rolle. In einer Gesellschaft, die Wohnen, Arbeiten, Bildung, Kultur, Teilhabe und Mobilität anders, also gerechter und für alle gleichermaßen zugänglich organisieren würde, müsste sich die soziale Frage nicht so ausschließlich um die Höhe von Transferleistungen drehen. Wenn alle gesellschaftlichen Gruppen von einem solchen öffentlichen Wohlstand profitieren könnten, würden Einkommensunterschiede zwar nicht verschwinden, deren Bedeutung für die individuelle Lebensqualität aber deutlich abnehmen. Natürlich wäre dies alles auch von einer gerechten und solidarischen Verteilung des insgesamt gesellschaftlich generierten Reichtums abhängig. In der politischen Diskussion würde es aber sicherlich einen großen Unterschied machen, ob es um eine Umverteilung von einem Portmonee ins andere oder um die Gestaltung einer gemeinschaftlichen Daseinsgrundlage ginge.

Vermissen könnte man in diesem Text auch Überlegungen, die über die Logik der bestehenden Sozialsysteme hinausweisen. Zwar wird die Auseinandersetzung über die Transaktionssteuer exemplarisch erwähnt, aber die sich schon abzeichnenden Folgen der durch die KI- und Robotik-Revolution weiter beschleunigten technologische Transformation werden nicht thematisiert. Wer sollte angesichts dieser Dynamik heute noch seriös prognostizieren, wie lange soziale Sicherung noch an individuellen Arbeitsbiografien ausgerichtet werden kann. Es wird notwendigerweise völlig andere Wege geben müssen, gesellschaftlich generierten Reichtum so zu verteilen, dass für alle ein menschenwürdiges Dasein gesichert wird – unabhängig vom jeweiligen Bedarf an menschlichen Arbeitskräften. Eine zukunftsweisende Sozialpolitik müsste hier baldmöglichst Visionen entwickeln, die verhindern, dass sich die Gewinne bis zur Unendlichkeit in den Taschen einer Klasse von Superreichen bzw. den Eignern der Tech-Konzerne sammeln.

So ist das Buch von SCHNEIDER zweifellos eine faktenreiche und extrem informative Bilanz eines erfahrenen und engagierten Insiders. Ein Plädoyer für konsequente Armutsbekämpfung und gerechte Lastenverteilung könnte kaum klarer ausfallen.
Dass in keiner der sozialpolitisch umstrittenen Fragen Spuren von Ambivalenzen oder Zweifel auftauchen, wird vermutlich nur einen kleinen Teil der Leserschaft enttäuschen.
Ein etwas weiterer Blick in die Herausforderungen einer weiter digitalisierten Zukunft wäre sicher eine lohnende Abrundung gewesen.

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23.08.2024 Die amerikanische Woche

Was für eine Dröhnung!
Der Krönungs-Parteitag der Demokraten hat ein Amerika zelebriert, das an Intensität, Emotionalität und Selbstvergewisserung kaum noch zu übertreffen ist.

Ja, ich habe tatsächlich alle relevanten Reden in voller Länge gesehen. Es waren mindestens zehn perfekt inszenierte Auftritte vor einer zuverlässig euphorischen Menschenmenge – ausgestattet mit einem Meer an jeweils passenden Schildern.
Warum? Ich konnte mich dem Zauber dieser einladenden Botschaften und der darin enthaltenen positiven, zukunftsbezogenen und menschenfreundlichen Grundeinstellungen einfach nicht entziehen. Ehrlich gesagt: Ich konnte nicht genug davon bekommen!

Wie kann es sein, dass ein durchaus amerikakritischer Mensch, der üblicherweise auf den typischen Überschwang-Patriotismus der Amis eher mit Skepsis und Kopfschütteln reagiert, sich so weitgehend einer professionell choreografierten Polit-Show ausliefert?

Nun: Ein Grund war wohl dieser so total wohltuende Kontrast zu den toxischen Anfeindungen eines Donald Trump. Es ist wirklich gut gelungen, dem Lügen- und Hassbaron ein positives und solidarisches Welt- und Menschenbild entgegenzusetzen.
Ja, es war alles ziemlich dick aufgetragen, mit einer ordentlichen Schicht Kitsch obendrauf: die Liebe zur besten aller Nationen, die selbstlose Bereitschaft, dem Land und allen Menschen zu dienen, die Glorifizierung von Familie, Nachbarschaft und Armee. Kein Platz für Selbstzweifel oder Selbstkritik.
Aber die Themen und Werte waren ja trotzdem sympathisch und humanistisch: Es ging viel um Würde, um Charakter, um Respekt, um Empathie und Gemeinschaft. Daran ist erstmal nichts verkehrt!

Doch die emotionale Wirkung dieser extremen Wohlfühl-Dosis lässt sich wohl nur erklären, wenn man den Kontrast der bundesrepublikanischen Wirklichkeit des Sommers 2024 dagegenhält: Was würde man darum geben, wenn nur ein Bruchteil dieser optimistischen und energiegeladenen Aufbruchstimmung in unserem Lande zu spüren wäre! Wie erholsam und hoffnungsvoll wäre es, wenn es eine vergleichbar große Bewegung mit einem zukunftsbezogenen Ziel gäbe?
Ich habe einen Impuls gespürt, doch am liebsten jetzt in den enthusiastischen Wahlkampf der USA einzusteigen – statt darauf hier in Deutschland sorgenvoll darauf zu hoffen, dass uns das Schlimmste irgendwie erspart bleibt.

Es ist ein Trauerspiel, dass wir die positiven Visionen so ziemlich verloren haben. Und es ist nur schwer auszuhalten, dass dafür in erster Linie die kleinste (aber durchsetzungsfähigste) Ampelpartei die Verantwortung trägt.
Vielleicht schwappen ja – ausgelöst durch einen möglichst klaren Sieg über Trump -ermutigende Vibrations über den Atlantik und erreichen sogar unser frustriertes und demotiviertes Land.
Meine Zuversicht zielt jedenfalls im Moment eher auf die Entwicklungen in Amerika als auf ein Wunder bei uns.