
(Vorbemerkung: Ich vergebe in dieser Rezension keine Sterne-Bewertung. Das wäre in sofern unfair, als dass ich hier eine wissenschaftliche Publikation (Dissertation) mit den (unpassenden) Maßstäben eines populärwissenschaftlichen Sachbuchlesers betrachte.
Meine Ausführungen zu dieses Buch sind daher in keiner Weise als Kommentierung der wissenschaftlichen Qualität zu verstehen.)
In dem spannenden Forschungsfeld zwischen Philosophie, Psychologie und Biologie gibt es kaum eine vergleichbar faszinierende Disziplin wie die Neurowissenschaft. In den letzten 20 – 30 Jahren hat sie auch in der Öffentlichkeit ein großes Interesse auf sich gezogen; dabei sind gelegentlich auch Kontroversen um die Deutungshoheit in grundsätzlichen Fragestellungen bekannt geworden.
Die Psychologin WENGEMUTH hat sich die Aufgabe gestellt, die Kritik an den so populären Neurowissenschaften in systematisch-wissenschaftlicher Form zu untersuchen. Dafür nimmt sie zunächst eine Literaturanalyse vor, die sie nach den von HOLZKAMP (1983) im Rahmen seiner “Kritischen Psychologie” konzipierten Kategorien gliedert.
Sie führt dann Experteninterviews mit 13 Neurowissenschaftlern (davon vier Frauen) aus Deutschland (10) und England (3) durch, die sie entsprechend ihrer Fragestellung und der gewählten Methodik auswertet. In diesen Befragungen will die Autorin erkunden, welchen Stellenwert die gesammelten Kritikpunkte im Forschungs- bzw. Arbeitsalltag der Wissenschaftler haben.
Die Bereiche der Kritik wurden wie folgt unterschieden:
– philosophische Aspekte (unklare Beziehung bzw. Kausalitäten zwischen mentalen und neurologischen Prozessen, widersprüchliche Dualismus-Konzepte, ungeklärte Rolle der Willensfreiheit)
– gesellschaftstheoretische Fragen (implizite Verstärkung von Machtverhältnissen und Ungleichheit; einseitig naturalistische Konzepte, Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs)
– Ebene der Konzepte und Begriffe (sprachliche und inhaltliche Unklarheit; mangelnde Güte der Operationalisierungen, salopper Umgang mit Metaphern)
– einzeltheoretische Punkte (insbesondere Methodenkritik)
Die einzelnen Themenbereiche werden von der Autorin mit einer bemerkenswerten Tiefe und Differenziertheit untersucht, die in dieser Genauigkeit von keinem “normalen” Sachbuch zu erwarten wäre. In dieser analytischen Aufarbeitung liegt ganz eindeutig die Stärke dieser Arbeit; sie lässt sich gut als Grundlage für zukünftige Diskussionen nutzen.
Es stellt sich insgesamt heraus, dass es keine einheitliche Haltung der Praktiker/innen zu den verschiedenen Kritikbereichen gibt. Je nach eigenem Wissenschaftsverständnis werden den Themen eine unterschiedliche Relevanz für den Arbeitsalltag zugeschrieben.
Wenn auch die Kritikpunkte von der Autorin sehr sorgfältig und mit Bezug zu vielen Einzelquellen herausgearbeitet werden, ruft die Publikation doch eine zentrale Enttäuschung hervor: Es findet keine eigene inhaltlich bewertende Auseinandersetzung mit den Vorwürfen an die Neurowissenschaften statt!
Wer also als Leser/in erwartet, dass die Kritik ihrerseits einer kritischen Bewertung unterzogen wird und sich aus dem Wechselspiel der Argumente eine eigene Meinungsbildung auf einem höheren Erkenntnisniveau ergeben könnte, bleibt ein wenig frustriert zurück.
Die interviewten Experten können dieses Manko nicht ausgleichen, da sie ja nicht vorbereitet in die Konfrontation mit den Kritikpunkten gehen. So wird den sorgsam formulierten und begründeten Thesen letztlich Spontanmeinungen entgegengesetzt – die dann wiederum von WENGEMUTH sortiert und eingeordnet werden.
So hat das Team “Neurowissenschaften” keine angemessene Chance auf Relativierung und Erwiderung und spielt in einer ganz anderen Liga als die “Kritik-Profis”.
Sprachlich bzw. stilistisch bewegt sich WENGMUTH ganz im Bereich der wissenschaftlichen Anforderungen. Daher kann man an diesen Text (natürlich) nicht mit den üblichen Ansprüchen eines gefälligen Sachbuch-Journalismus herangehen. Die vorgegebene strenge Gliederungsstruktur sorgt u.a. dafür, dass es zu einer gewissen Redundanz der inhaltlichen Aussagen kommt.
Die Arbeit von WENGEMUTH hat ihren Wert vorwiegend in der wissenschaftsinternen Analyse: Es wird exemplarisch gezeigt, welche Kritikpunkte an der eigenen Wissenschaft den Praktikern bekannt sind und wie sie dazu stehen. Zusätzlich wird durch weitere Erkundungen deutlich, wie sie die Rahmenbedingungen ihres Arbeitsfeldes wahrnehmen und bewerten.
Was leider nicht geboten wird, ist eine qualitativ ausgeglichene Auseinandersetzung über die so umfassend dargelegte Kritik. Dazu hätte die Autorin letztlich die Positionen derjenigen ins Feld führen müssen, die ihrerseits das ursprünglich Ziel der Kritik waren.
Das entsprach jedoch nicht ihrem Konzept und der Zielsetzung – und kann daher kein Grund für eine negative Bewertung sein.
(Nachbemerkung: Ich werde bei nächsten mal etwas sorgfältiger prüfen, ob eine wissenschaftliche Arbeit meine Erwartungen an ein informatives Sachbuch überhaupt erfüllen kann).