“Die Stimme der Kraken” von Ray NAYLER

Bewertung: 4.5 von 5.

Kraken (oder Oktopoden) sind extrem spannende Wesen. Schon seit längerem ist bekannt, dass sie zu den intelligentesten Lebewesen auf diesem Planeten gehören. Für viele Menschen ist es irritierend, dass ausgerechnet ein Tier, dass uns auf allen Ebenen so fern zu sein scheint, bemerkenswerte kognitive Leistungen vollbringen kann.
Für die Biologie und die Neurowissenschaften bieten Kraken insbesondere auch deshalb ein faszinierendes Forschungsfeld, weil ihr Nervensystem so grundsätzlich anders (dezentral) strukturiert ist, als das bei Säugetieren der Fall ist.
Darüber zu spekulieren, ob und wie es zwischen diesen so unterschiedlichen Geschöpfen eine Form von Kommunikation entstehen könnte, wäre somit sicher eine anregende Herausforderung.
NAYLER nimmt diese Challenge an und konstruiert rund um dieses Thema eine Handlung, die Anteile von Science-Fiction, Thriller, Öko-Aktivismus, Gesellschaftskritik und Wissenschafts-Sachbuch in sich vereinigt. Um es vorweg zu sagen: Diese Mischung ist ihm exzellent gelungen!

Der dominante Handlungsfaden findet auf einem abgeschiedenen Archipel statt, das einem großen Tech-Konzern gehört. Dieser ist – natürlich – im Bereich der Künstlichen Intelligenz tätig und erforscht in diesem Zusammenhang auch die besonderen Gaben der Oktopoden. Zusammen mit einer auf diesem Gebiet erfahrenen Wissenschaftlerin und einer technisch hochgerüsteten Sicherheitsbeauftragten befindet sich dort der am weitesten entwickelte Androide, ein bereits sehr menschenähnlicher Roboter. Später kommt die Leiterin des Projektes dazu, eine bekannte Forscherin und Autorin.
Der Roman beschreibt die allmähliche und von zahlreichen Erschwernissen begleitete Kontaktaufnahme zu der örtlichen Krakenpopulation.
Ein zweiter wesentlicher Schauplatz ist ein illegaler Fischtrailer, auf dem sich hochdramatische Dinge abspielen, die in der meisten Zeit keinen unmittelbaren Bezug zur Haupthandlung haben.

Bei Romanen, die sowohl einen bedeutsamen Inhaltskern haben, als auch einen spannenden Handlungsbogen bieten, stellt sich die Frage, welcher Aspekt im Vordergrund steht. In diesem Fall gewinnt ziemlich eindeutig der Inhalt. Zwar gibt es eine ganze Reihe von Zutaten, die sich dem Plot einen gewissen thrillerhaften Drive geben (dazu gehören durchaus auch Episoden mit recht gewaltvollen Schilderungen und einige überraschende Wendungen), doch spürt man als Leser/in schnell, wofür das Herz des Autors wirklich schlägt:
Es geht NAYLER um das zugleich kreativ-spielerische und tiefgründige Ausloten der Frage, welche Formen von Bewusstsein, Kommunikationsfähigkeit und Begegnung es in dem Dreieck von Mensch, KI-System und intelligentem Tier geben kann bzw. könnte. Der Autor umspielt diese spannende und existentiell bedeutsame Thematik parallel auf zwei Ebenen: Einmal durch eine fantasievolle Ausgestaltung der Romanhandlung, zum anderen – auf der Theorieebene – durch die reflektierenden Dialoge der beteiligten Figuren.

Wenn diese Betrachtungen auch hoch abstrakt und abgehoben erscheinen mögen: Die Rahmenbedingungen in der realen Welt werden von NAYLER keineswegs außer Acht gelassen; im Gegenteil! Der Autor beschreibt nicht nur die rücksichtlosen wirtschaftlichen Ausbeutungsstrukturen, in denen finanzielle Verwertungsinteressen ohne jede ökologische Verantwortung walten. Er macht auch auf die Gefahr aufmerksam, dass die Gier nach medialen Sensationen und wissenschaftlichen Durchbrüchen genau diese bisher verborgenen Schätze gefährden bzw. zerstören könnten. Und es wird ein zukunftsweisender Blick darauf geworfen, welche ethischen Fragen uns bei der Entwicklung menschenähnlicher Maschinen vermutlich bevorstehen.

So ist dieser bemerkenswerte Roman schließlich ein extrem anregender, anrührender und anklagender Apell, der uns am Beispiel der Bewusstseinsforschung bei Tieren und KI-Robotern unseren Umgang mit der uns umgebenden und von uns geschaffenen Welt widerspiegelt.
Dass diese Story auch noch unterhaltsam und spannend ist und einige Überraschungen bereithält, macht dieses Buch zu einer absoluten Empfehlung für alle, die anspruchsvolles Infotainment suchen und dabei auch die Geduld mitbringen, sich auf spekulative Details einzulassen.
Zum Vergleich: Zwischen diesem Buch und der Oktopus-Reihe von Dirk ROSSMANN tun sich literarische Welten auf.

(Für Hörbuch-Freunde steht übrigens ein zusätzlicher Genuss bereit: Der begnadete Sprecher David NATHAN liest vor!)

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