“Von der Pflicht” von Richard David PRECHT

Bewertung: 4.5 von 5.

Es gibt mit Sicherheit reißerische Titel für ein Buch über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen; es ist geradezu provozierend “altmodisch” gewählt. Gerade deshalb bietet er eine gute Entscheidungsgrundlage hinsichtlich der Beschäftigung mit diesem Buch.
Wie seit vielen Jahren gewohnt darf sich der Medien-Star unter deutschen Philosophen auch bei diesem Statement der Aufmerksamkeit und des Verkaufserfolges sicher sein. Er braucht daher weder hinsichtlich der Vermarktung noch in Bezug auf den Inhalt große Kompromisse einzugehen. Genau das strahlt diese Publikation auch aus.

Die Covid-Pandemie ist der zentrale Ausgangspunkt für die Betrachtungen über das Verhältnis von Rechten und Pflichten zwischen den beiden “Vertragspartnern” Bürger und Staat. PRECHT analysiert mit scharfem Blick die Gemengelage zwischen staatlicher Vorsorge und Diktatur-Panik. Vieles davon wurde im Laufe des letzten Jahres schon geschrieben und gesagt, doch der Autor fokussiert auf diesen einen Aspekt: Was darf oder muss der Staat tun und was kann oder muss der Einzelne erwarten, erdulden bzw. beitragen.

Leicht fällt PRECHT dann der Übergang von dem konkreten Pandemie-Geschehen zu einer umfassenden Analyse der zeitgeschichtlichen Trends, die – so einer seiner Grundthesen – aus dem autoritätshörigen Untertan eine Art “Kunden” gemacht hat, der den Staat als einen Dienstleister betrachtet, dem gegenüber er keinerlei Verpflichtungen spürt bzw. akzeptiert.

PRECHT wäre nicht PRECHT, wenn seine Durchdringung der Thematik nicht eine Zusammenschau von historischen, wirtschaftlichen, juristischen und philosophischen Aspekten böte. Dabei bleibt er durchaus nicht auf der gefälligen und leicht verdaulichen Oberfläche; er mutet seinen Leser/innen vielmehr einigen Tiefgang zu.
Immer wieder lauern in dem Text pointierte Formulierungen, denen Gewicht und Erkenntnisinhalt man sich erst durch kurzes Innehalten bewusst machen muss; bei einem kurzen Querlesen (oder -hören) würde solche Köstlichkeiten verloren gehen.

Die meisten Käufer/innen dieses Buches werden soweit vorinformiert sein, dass Sie schon vorher wissen, was PRECHT am Ende vorschlägt. Seine Idee, durch zwei “Pflichtjahre” (nach Ausbildung bzw. beim Renteneintritt) das Verhältnis von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten wieder auf eine gedeihlichere Grundlage zu stellen, trägt er nicht zum ersten Mal vor.
Aber er legt nach: Nicht nur durch die vorangehende Analyse der Ausgangslage (s.o.), sondern auch durch eine konkretere Ausgestaltung dieses “Dienstes am Gemeinwohl” und eine ausführliche Auseinandersetzung mit möglichen Kritikpunkten bzw. Einwänden.
Er argumentiert dabei weder besserwisserisch noch ideologisch – und lädt die Gegner seines Modells ausdrücklich ein, sich Gedanken über eine “bessere” Alternative zu machen.

Wer sollte dieses Buch lesen (hören) und wem reicht vielleicht die Quintessenz aus Rezensionen, YouTube-Beiträgen und Talkshow-Auftritten?
Ich schlage zwei Kriterien vor: Wie groß ist das Interesse an einer vertiefenden und eingebetteten Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen? Welches Vergnügen empfindet man dabei, knackige und originelle Formulierungen serviert zu bekommen – selbst wenn die Inhalte nicht völlig neu sein sollten?

Das Hörbuch wird vom Autor selbst vorgelesen. Das ist angenehm und hat keinen Nachteil gegenüber einer Produktion mit einem professionellen Sprecher. Da PRECHT seinen Text – vielleicht weil er ihn so gut kennt – recht schnell liest, empfehle ich eine leichte Reduzierung der Wiedergabegeschwindigkeit (auf ca. 80-95%). Das hat dann auch den Vorteil, dass man nicht schon nach 03:06 Stunden durch ist…

Gendersprache und Diskriminierung

Die aktuell diskutierte und bereits stattfindende Veränderung unserer Sprache betrifft uns alle: als Lesende, als Schreibende, als TV-Konsumenten, usw.
Viele lassen es einfach geschehen und warten ab – so wie man es ja auch mit anderen zeitgeschichtlichen Phänomenen letztlich gewohnt ist.
Manche regt es aber auch sehr auf: weil sie die Schönheit oder die Verständlichkeit der Sprache bedroht sehen, weil Sie sich nicht das “richtige” Schreiben bzw. Sprechen vorschreiben lassen wollen oder weil ihnen die ganze Richtung nicht passt (mit all den Diskussionen um Diskriminierung, political correctness und Diversitäten).
Kenn ich eigentlich meinen eigenen Standpunkt? Könnte ich ihn formulieren?
Nachdem ZEIT und SPIEGEL durch sind, wird es Zeit für einen Post.

Natürlich will ich hier nicht die ganze Breite der Diskussion aufspannen. Das können andere besser. Mir geht es um die Sprache, um die Verabsolutierung der Geschlechtszugehörigkeit und um das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten.
Mir geht es ganz sicher nicht darum, traditionelle Machtpositionen von Männern zu verteidigen oder einen allgemeinen konservativen Rollback zu befördern.

Zur Sprache
Ich schreibe gerne und viel. Ich mag es, wenn Texte gut lesbar, leicht verständlich und so unkompliziert wie möglich (und damit auch irgendwie “elegant”) sind. Als Schreibender hätte ich gerne relativ große Freiheiten, um mich und meinen Stil ausleben zu können. Gerne unterwerfe ich mich dabei orthografischen und grammatikalischen Konventionen. Diese zu beherrschen, ist ein Teil von Schreibkompetenz.
Was ich nicht möchte, sind Vorgaben, die mir aus (meinetwegen gut gemeinten) ideologischen Motiven und als Ergebnis einer gesellschaftlichen Lobbyarbeit vorgegeben werden. Auch wenn man nicht gezwungen wird: Ab sofort ist mit Art und Umfang des sprachlichen Genderns ein weltanschauliche Selbstoffenbarung verbunden.
Ich will aber einfach bestimmte Veränderungen vermeiden, die ich als Beschädigung der Sprache erlebe; ich will nicht gleichzeitig eine Botschaft vermitteln, dass ich offenbar AFD-affin wäre.
Übrigens: Einen nachträglichen Eingriff in frühere oder gar historische Texte aus Gründen von Gender- oder sonstigen Gerechtigkeiten halte ich für völlig unakzeptabel.

Zur Geschlechtszugehörigkeit
Mich sprechen Stellungnahmen von Frauen an, die es als Zumutung erleben, dass durch das exzessive Gendern nicht die (gesellschaftliche) Gleichheit der Geschlechter befördert würde, sondern – ganz im Gegenteil – das Frau- oder Mannsein (und alle möglichen Zwischenformen) immer und überall mitgedacht und betont würde.
Warum muss dieses eine Merkmal unaufhörlich markiert werden? Wem nützt das eigentlich? Muss man Geschlechterzugehörigkeit (mit sprachlicher Hilfe) zu der zentralen Frage machen, mit dem Ziel sie – eigentlich – bedeutungslos werden zu lassen?
Ja, ich kenne all die Argumente über den Zusammenhang von Sprache und Machtverteilung in einer Gesellschaft. Ich glaube nur, dass die reale Macht der wichtigere Punkt ist und dass Sprache dann ganz von alleine hinterherkommt.

Sprachliche Diskriminierung von Minderheiten
Jetzt wird es noch schwieriger – ich bewege mich in vermintem Gelände. Man macht sich nicht nur Freunde, wenn man Meinungen kundtut. Zum Glück mögen meine Leser/innen (auch hässlich; am liebsten hätte ich “Leser” geschrieben) auch offenen und kontroversen Austausch.
Ich finde, dass jede Minderheit, die Recht und Freiheit der Mehrheit nicht einschränkt, Anspruch darauf hat, nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe benachteiligt zu werden.
Was ich nicht finde: dass jede Minderheit den Anspruch darauf hat, dass die Mehrheit ihre Traditionen, Gewohnheiten und alltäglichen Abläufe auf die jeweiligen Bedürfnisse und Wünsche ausrichtet. Ich halte es beispielsweise nicht für notwendig, dass in jedem Text, der sich an Mädchen oder Jungen wendet, der Hinweis enthalten sein müsste, dass man sich ja vielleicht durch beide Begriffe nicht angesprochen fühlen könnte (vor einigen Tagen selbst gelesen!).
Es ist sicherlich gut gemeint, wenn Sprache das Selbsterleben von Minderheiten berücksichtigen will. Aber: Gibt es nicht auch sowas wie das Selbsterleben von vielleicht 99 Prozent der Gesellschaft? (Wikipedia schätzt den Anteil von “intergeschlechtlichen” Personen auf 0,2% der Bevölkerung). Ist es wirklich sinnvoll, wenn 99,8% der jungen Menschen, die sich gerade mühsam in ihre Identität als Mädchen oder Junge hineinarbeiten, permanent darauf gestoßen werden, dass es ja auch viel komplizierter sein könnte? Was ist an diesem Punkt mit der “Macht der Sprache”? Hat da schon jemand drüber nachgedacht?

Resümee
Sprache entwickelt sich weiter. Das kann man als Einzelner nicht aufhalten.
Vermutlich werde auch ich in drei oder fünf Jahren ganz selbstverständlich sprachlich gendern – weil es einfach zum neuen Regelkanon gehören wird (wie die Rechtschreibung).
Ich wollte nur mal meine Meinung vom März 2021 sagen. Und ich weiß, dass das Ganze komplexer ist, als meine paar Anmerkungen hier. Auch ich habe einige Sympathien für die andere Seite.
Freue mich über Zustimmung und Widerspruch.

Trumps Begnadigungs-Orgie

Frage:
Was unterscheidet die völlig ausufernde Welle von Begnadigungen rechtmäßig verurteilter Straftäter durch einen scheidenden Präsidenten (143 allein in den letzten Stunden) von der Gepflogenheit eines Mafia-Bosses, die in seinem Auftrag tätigen Gangster möglichst zeitnah aus dem Gefängnis zu befreien?

Antwort:
Ich weiß keine

In beiden Fällen wird letztlich ein gesetzloser Raum geschaffen, in dem die (zukünftigen) Täter schon vor ihrer Tat wissen, dass sie letztlich einer Strafverfolgung – zumindest überwiegend – entgehen können.
Der Mächtige kann sich also Loyalitäten schaffen, die weit über das normale Maß hinausgehen, weil begrenzende oder hemmende Mechanismen außer Kraft gesetzt werden.

Vielleicht gab oder gibt es ja einen sinnvollen Grund für solche Regelungen.
Aber in den Händen eines trumpartigen Charakters wirkt das Ganze desaströs.

Jetzt zurückhaltend regieren?

Seit einigen Minuten ist es amtlich: Der nächste Präsident heißt Biden.

Ich will hier und heute kein einziges Wort über die Vorgänge des letzten Tages verlieren. Ich werde auch nicht über Trump schimpfen und darauf herumreiten, dass doch jede/r wissen konnte, um welche Sorte von Person es sich handelt.

Was mich antreibt sind die ersten Kommentare und Ratschläge in deutschen Medien, die davor warnen, dass die neue Regierung von ihrer Macht zu stark gebrauch machen könnte.

Mir verschlägt es die Sprache!

Wir hatten mit Obama einen Präsidenten, der acht Jahre lang versucht hat, die Spaltung des Landes zu überwinden. Er hat – insbesondere in der ersten Amtszeit – auf die Durchsetzung von Zielen seiner Partei verzichtet, um eine größtmögliche Kooperationsbasis zu schaffen. Er hat eher gemäßigte und konservative Leute in seinen Stab geholt, um den Republikanern die Zusammenarbeit zu erleichtern.
Das Ergebnis: Eine Radikalisierung dieser Partei, der es durchweg nicht mehr um inhaltliche Ziele, sondern um ein Scheitern dieses zutiefst abgelehnten Präsidenten ging.

Jetzt stehen wir am Ende von vier Jahren, in denen Polarisierung um jeden Preis zur offiziellen Regierungspolitik wurde und wir im Moment gerade froh sind, wenn ein gewählter Präsident ohne Bürgerkrieg ins Amt gelangen kann.

Und jetzt sollen die Demokraten darauf verzichten, demokratische Politik zu machen, um das Land wieder zu einen?!
Wie lange soll man denn “mehr desselben” tun? Wie lange soll noch die eine Hälfte der anderen hinterher rennen, die gleichzeitig immer weiter in die Extreme läuft?
Selbst wenn man so edel und moralisch wäre, die Kompromissbereitschaft immer nur von der einen Seite her anzubieten: Es hilft ja nicht!!!

Ich würde es für richtig halten, einem alternativen Politik- und Gesellschaftsmodell endlich auch Raum zu geben, es sichtbar werden zu lassen. Dass das ausgerechnet in den USA zu radikal werden könnte, ist doch ein völlig absurder Gedanke. Gerne kann man dabei auf Triumphgeheul und Provokationen verzichten.
Aber es kann doch nicht angehen, dass der Trumpismus jetzt weitere vier Jahre in abgeschwächter Form weitergeführt wird, wegen des – zum Scheitern verurteilten – Versuchs, seine Wähler rücksichtsvoll und sanft einzupflegen, sie nur nicht aufzuregen.
Viele dieser Menschen wird man nicht einfangen können. Man kann Ihnen nur dadurch den Einfluss nehmen, dass neben Ihnen eine andere Gesellschaft mit anderen Werten entsteht und funktioniert.
Und dazu muss dann auch die vorhandene Macht eingesetzt werden.

“McCartney III” von Paul McCartney

Bewertung: 4 von 5.

Wenn ein Ex-Beatle im Corona-Jahr 2020 sein drittes Solo-Album veröffentlicht (nach 1970 und 1980), dann ist das ein wohlwollend-nostalgischen Reinhören wert – so dachte ich.
Schließlich ist der Typ 78 Jahre alt – und damit nicht nur ein persönlicher Lebensbegleiter (ich sang als 9-jähriger mit meiner Schwester 1964 die deutsche Version von “She Loves You”), sondern auch eines der erfolgreichsten Modelle der “ewigen Jugend” in der Rockgeschichte (neben z.B. den Stones und den WHO).

Paul (in der Rock-Generation duzt man sich) hatte sich das Jahr 2020 anders vorgestellt; er begann an einem Film-Projekt zu arbeiten. Dann kam der Lockdown und der Multi-Instrumentalist konnte eine Menge Zeit in seinem privaten Home-Studio verbringen. Er spielte sogar die Drums selbst ein (natürlich auch Gitarren, Bass, Synth, Harmonium).
(Einen Antrag auf Kurzarbeiter-Geld oder Verdienstausfall hat er vermutlich nicht gestellt.)

Am Ende des Jahres (seit 18.12.) liegt nun ein musikalischen Werk vor, das aufhorchen lässt: Das ist ja gar keine seichte Durchschnittsware! Keine gefällige Mitsumm-Reminiszenz! Keine Fahrstuhl-Hintergrundmusik für immer und überall!
Wow!

Paul hat ein ausgereiftes, abwechslungsreiches – z.T. sogar eigenwilliges und experimentelles Gesamtkunstwerk abgeliefert. Sehr facetttenreich – so dass jede/r etwas zum Staunen und zum Augenverdrehen finden wird.
Trotz einiger typsicher Balladen ist der Gesamtdrive rockiger als erwartet.
Die Texte drehen sich (immer noch) um die Liebe, aber auch um alterstypische Einsichten und Ratschläge über das Leben. Wäre ja auch ein Wunder, wenn ein Mensch mit so einer Biografie gar nichts zu sagen hätte. Paul ist dabei nicht missionarisch oder gar politisch. Diese Rolle hatte schon früher John Lennon inne; er konnte sie leider nur bis 1980 spielen. Paul guckt eher nach innen, drückt seine privaten Gefühle aus.

Egal was ein PaulMcCartney jemals produziert: Es wird immer den Vergleich mit den Beatles geben. Das ist vielleicht Segen und Fluch zugleich – aber es gibt wohl schlimmere Hypotheken als den Bezug zu einem zeitgeschichtlich-kulturellen Phänomen, das wohl auf Ewig mit dem letzten Jahrhundert verbunden bleiben wird.
Ja, das Album erinnert durchaus an die Zeiten der späteren Beatles. Es gibt einfache und komplexere Kompositionen, es gibt Soundeffekte und Überraschungen. Es klingt sowohl spielerisch als auch ernsthaft. Es schmeichelt dem Ohr und fordert auch mal heraus.
Es ist echte intelligente Rock/Pop-Musik! Mainstream-tauglich, aber nicht auf Massen-Geschmack getrimmt.

McCartney III ist ganz sicher nicht das schlechteste Ergebnis des Corona-Jahres!

Wie weit kommt man mit Naturwissenschaft?

Das ist ein ungewöhnlicher Titel für einen Blogbeitrag.
Es passiert auch nicht häufig, dass ich – statt selbst meine Meinung hinauszuposaunen – auf einen externen Beitrag verweise.
Ich will kurz erläutern, warum ich das heute tue.

Das Anschauen der hier empfohlenen TV-Konserve (SRF Sternstunde Philosophie) hat in der letzten Stunde intensive Emotionen bei mir ausgelöst. Ich hatte das Gefühl, dass kaum ein anderer medialer Beitrag jemals bestimmte für mich bedeutsame Unterschiede zwischen gegensätzlichen Weltbildern so klar auf den Punkt gebracht hat.
Ich habe geradezu mitgefiebert, wie der eingeladener Astro-Physiker MOORE mit den immer neuen Versuchen der Interviewerin umgeht: Mit Hilfe von drängenden Fragen und Apellen will sie nämlich unbedingt erreichen, dass MOORE (endlich) die Notwendigkeit einräumt, seine naturwissenschaftlichen Weltsicht um eine andere (religiöse, transzendente, spirituelle) Dimension erweitern zu müssen.

Für mich war es ein absolutes Vergnügen, dabei zuzuschauen, wie unglaublich gelassen und wohlwollend – und gleichzeitig so völlig eindeutig und unmissverständlich – der Wissenschaftler reagiert.
Man erlebt so geradezu ein herausragendes Modell für eine deeskalierende Diskussion – die genauso gut in einem aggressiven oder arroganten Schlagabtausch hätte enden können.
Wirklich – auch auf dieser Ebene – absolut sehenswert!

Selten habe ich mich in meinem Denken so verstanden gefühlt (bzw. wiedergefunden) wie in den Äußerungen von MOORE. Gleichzeitig bewundere ich sein “in sich Ruhen” – auch an Stellen, wo ich mich dabei erwischt habe, lautstark und emotional auf die Fragen von Frau Bleisch zu reagieren (“weil sie es immer noch nicht kapiert hatte…”).
Noch “schlimmer” als die Hartnäckigkeit der Interviewerin fand ich die – als Verstärkung beigebrachten – Äußerungen eines “Naturphilosophen” (Mutschler). Klarer kann man zwei Zugänge zur Welt und zur Erkenntnis kaum gegeneinanderstellen: Wenn man die Welt allen Ernstes damit zu erklären sucht, dass Menschen bestimmte emotionale Bedürfnisse haben (z.B. nach Gerechtigkeit), dann sollte man besser nicht mit einem Astro-Physiker diskutieren (der auch an dieser Stelle bewundernswert ruhig bleibt).

Wer also mal einen wirklich sympathischen Naturwissenschaftler auf die Fragen nach Sinn, Gott, Tod, Moral, Beginn und Ende des Universums antworten sehen möchte, der/die sei eingeladen, mal diese Stunde zu investieren.
Dass jemand das Motiv haben könnte, einmal aus einem anderen Munde sehr konkret zu hören, was ich über die Welt denke, wage ich nicht zu hoffen…

Das traurige Versagen zweier Spitzen-Intellektueller

Was für ein Leckerbissen: Zwei meiner absoluten Lieblings-Denker und meistgelesenen Autoren in einer Sendung: WELZER bei PRECHT!
Man kennt, duzt und mag sich – welche Überraschung. Da freue ich mich doch auf anregende 43 Minuten, da lasse ich alles andere stehen und liegen…

Es geht auch nett und erbaulich los: im Blick die großen gesellschaftlichen Herausforderungen und Trends.
Das Gespräch landet dann bei folgender Kernthese: Es fehlt in unserer Gesellschaft, im politischen Diskurs, an Zukunftsvisionen. Man überlässt es den Technik-Freaks im Silicon-Valley, die Richtung vorzugeben. Wir (als Gesellschaft) machen uns keine Gedanken darüber, wie wir zukünftig leben wollen. Stattdessen lassen wir es zu, dass technische und digitale Innovationen das Ziel definieren – statt sie als Mittel (Werkzeug) auf dem Weg zu der gewünschten Lebensform der Zukunft zu verstehen.
So weit, so gut!

Die zweite Hälfte der Sendung hat dann – und das ist kaum übertrieben – nur noch einen Inhalt und einen Zweck: GRÜNEN-Bashing.
In einer – mit dem intellektuellen Anspruch der Gesprächspartner völlig unvereinbaren – Pauschalität wird den GRÜNEN vorgeworfen, dass sie ihre einst hehren Ziele vollständig hinter sich gelassen hätten und zu einer stromlinienförmigen Mainstream-Alt-Partei mutiert seien. Ihnen fehle jede gesellschaftliche Vision, die über ein “grüneres Wachstum” hinausginge. Für sie sei das Elektroauto die unkritische Antwort auf die Frage noch der Zukunft der Mobilität, usw.
Dieses gegenseitige Aufschaukeln von Plattitüden gipfelt in der – unwidersprochenen – Aussage: Die GRÜNEN unterschieden sich nicht von der FPD in der Haltung, dass man die Zukunftsprobleme allein durch technische Innovationen lösen könne.
Das ist starker Tobak, das ist schon mehr als Polemik, das ist Tatsachenverdrehung. Das sind alternative Fakten! Das funktioniert nur, wenn man die Hälfte alle Aussagen in Reden und Programmen systematisch ausblendet.
Zwar wird den GRÜNEN als Motiv für ihre – vermeintliche – radikale Weichgespültheit zugutegehalten, dass es ja pragmatisch sei, sich um breite Zustimmung zu bemühen. Ernsthaft auseinandergesetzt mit diesem möglichen Argument wird sich aber keinen Moment. Pragmatismus, Strategie, schrittweises Überzeugen, Konsensfähigkeit – das ist alles irgendwie “Pfui”, keine Debatte wert.

Warum tun die das? Warum tun die das zu diesem Zeitpunkt, an dem so langsam die Weichen für die nächste Bundestagswahl und damit für eine mögliche Regierungsbeteiligung der GRÜNEN gestellt werden? Warum sind die führenden linksliberal-progressiven Aufklärer der Nation unwillig und unfähig, die stärkste politische Wandlungskraft wohlwollend-kritisch zu begleiten und zu unterstützen? So wie das früher GRASS und BÖLL bei der SPD gemacht haben.
Warum unterstützen sie ganz offen die Tendenzen, ein oder mehrere neue ökologische Parteien zu bilden, die dann konsequenter und kompromissloser die Reine Lehre vertreten? Warum nehmen sie offenen Auges den Preis in Kauf, dass dadurch vielleicht entscheidende Prozentpunkte verloren gehen, die dann dem Durchsetzen von ökologischen Projekten fehlen?
Warum versagen die so dringend gebrauchten Meinungsführer, die genau die Zielgruppe ansprechen, aus denen sich auch die GRÜNEN-Wähler rekrutieren?

PRECHT und WELZER könnten glauben, dass die Kritik an den GRÜNEN die Durchschlagskraft der Nachhaltigkeitsbewegung letztlich stärkt. Der öffentliche Druck auf die Partei könnte dazu führen, dass Positionen geschärft werden, die Außendarstellung sich provokanter entwickelt. Kann ja sein.
Aber was nützt es – so frage ich – wenn radikalere Forderungen dazu führen, dass weniger von den politisch potentiell durchsetzbaren Zielen erreicht werden (in Ermangelung von Prozentpunkten). Solange doch klar ist, dass die GRÜNEN auf jeden Fall (auch aktuell!) mehr fordern als jemals in den nächsten Jahren durchsetzbar sein wird – wo soll dann bitte der Vorteil von demonstrativer Konfrontation sein? Geht es um die Sache oder um die Selbstdarstellung?
Warum reicht es nicht, dass die Aktivisten diejenigen sind, die unermüdlich darauf hinweisen, dass der Wandel schneller und radikaler stattfinden muss? Was spricht wirklich gegen die Arbeitsteilung zwischen einem ungeduldigen Drängen der Bewegung und einer konsens- und mehrheitsfähigen Partei?

Warum tun die das trotzdem – obwohl die das ja auch alles wissen? Ich vermute die Gründe eher in einer innerpsychischen Dynamik.
Mainstream ist nicht sexy! Wenn die Ökologie im Mainstream angekommen ist, wenn eine Partei die Nachhaltigkeitswende so unaufgeregt und sympathisch rüberbringt, dann kann das einfach nicht der richtige Weg sein!
Nur die unbeirrbaren und unkorrumpierbaren einsamen Denker können dann das Zepter noch hochhalten. Sie sind auf der glorreichen Seite der kompromisslosen Aktivisten – jedes Zugehen auf die Machbarkeitsebene ist damit ein Verrat und muss geradezu dämonisiert werden. Da lauert doch glatt der fade Kompromiss – wie langweilig!
Wenn die GRÜNEN dann (endlich) das Tempolimit durchsetzen – dann ist es nur noch Symbolpolitik! Wenn das Ende des Verbrennungs-Motors (endlich) eingeleitet wird, dann ist das Elektroauto ein noch größeres Problem! Usw…
Lebt die Selbstdefinition als Intellektueller davon, dass man einer Partei die Unterstützung entziehen muss, sobald sie die 15 oder 20 Prozent überschreitet? Geht es mehr um das eigenen öffentliche Profil als um die Sache?

Ich möchte versöhnlich enden.
Ich fühle mich PRECHT und WELZER geradezu freundschaftlich verbunden; habe viele Stunden ihre Texte gelesen und ihre Stimmen im Fernsehen, auf YouTube und auf Podcasts gehört. Sie und ihre Weltsichten sind mir vertraut.
Nur deshalb verzweifle ich so stark an diesem Aspekt ihres Wirkens.
Auch die Forderungen der Aktivisten möchte ich nicht missen; natürlich müssen wir noch radikaler umsteuern, als es im Moment den meisten Menschen bewusst ist.
Ich bestehe nur darauf, dass die GRÜNEN in ihrer jetzigen Aufstellung einen Teil der Lösung und nicht das Problem darstellen!

Habeck for President?

Eine knappe halbe Stunde dauerte die Grundsatzrede von Habeck auf dem digitalen Pateitag der GRÜNEN. Ich habe diese Zeit investiert – vielleicht hat da ja unser nächster Kanzler gesprochen…

Die sehr speziellen Rahmenbedingungen haben dem Auftritt einen besonderen Charakter verliehen: Ohne ein Publikum und dessen Reaktionen wirkte die Rede seltsam künstlich, inszeniert und steril; sie hatte zwischendurch fast den Charakter einer Predigt.
Keine leichte Aufgabe für Habek.

Ich war mit dem Ergebnis trotzdem sehr zufrieden.
Habeck hat versucht, alle mitzunehmen, ohne allen nach dem Munde zu reden.
Er hat deutlich gemacht, dass man Mehrheiten braucht, wenn seine politischen Vorstellungen durchsetzen will. Kompromisse sind in dieser Logik die notwendige Folge von fehlenden Mehrheiten.
Das bedeutet auch – solange man den demokratischen Rahmen akzeptiert – dass man grünen Ministern nicht vorwerfen kann, dass sie Gesetze auch dann befolgen und durchsetzen, wenn sie der eigenen (grünen) Vorstellung widersprechen.
Habeck ermutigt auch die jungen Aktivisten, auf diesen Weg der demokratisch legitimierten Machtausübung zu setzen.

Habeck machte deutlich, dass die GRÜNEN mehr sein wollen als die konsequenteste Klima-Partei. Es geht um ein Gesamtpaket einer gesellschaftlichen und ökologischen Neuausrichtung, die den Menschen zwar etwas zumutet, ihnen aber nicht Verständnis und Respekt versagt.

Vor diesen GRÜNEN braucht die bürgerliche Mitte keine Angst zu haben. Gleichzeitig stehen sie aber für das notwendige Umsteuern.

Auf den Punkt gebracht: Für mich sind die GRÜNEN im Moment die einzige Partei, denen ich mich sogar im Falle einer Alleinregierung (bei einer absoluten Mehrheit) anvertrauen würde (in der Hoffnung, dass einige Überspitzungen bei Datenschutz und Gendertum unterbleiben).


“Ich bin Greta” – Ein Film von Nathan Grossmann (ARD-Mediathek)

Bewertung: 4.5 von 5.

Man muss kein bedingungsloser Greta-Fan oder gar selbst ein FfF-Aktivist sein, um das Anschauen dieses Dokumentarfilmes als eine lohnende Zeit-Investition zu erleben.
Als Motivation könnten eine ganze Reihe von Gründen dienen; z.B.:
– der Wunsch, das zeitgeschichtliche Phänomen dieser wohl größten Jugendbewegung aller Zeiten zu verstehen,
– das Interesse an der Person Greta, einem sensiblen, verletzlichen und gleichzeitig ungeheuer starken Mädchen,
– die psychologische Neugier, woher dieses Mädchen die schier endlose Energie, Kraft und Leidenschaft für ihre Mission zieht.

Zu sehen ist kein Klima-Film: Es gibt keine Fakten, keine Aufklärung und keine Propaganda. Es geht auch nicht um eine systematische Analyse der familiären und gesundheitlichen Bedingungen, die Greta geprägt haben. Die Strukturen der Fridays-Bewegung werden nicht analysiert, deren Widerhall in Öffentlichkeit und Medien nur kurz gestreift.

Der Film zeigt den Menschen Greta aus einer durch und durch persönlichen Perspektive – ausschließlich im O-Ton. Da gibt es keine erklärenden Begleitkommentare, niemand ordnet ein oder bewertet.
Dafür hat man durch diese Bilder die Chance, den Weg Gretas vom einsamen Sitzstreik vor dem Schwedischen Parlament bis in die Vollversammlung der UN hautnah zu verfolgen: nicht nur die bekannten öffentlichen Auftritte (die eher kurz dokumentiert werden), sondern in erster Linie das Geschehen vorher, nachher und drumherum. Die Bahnfahrten, die Atlantik-Überquerung im Sportboot, die Begrüßungen, ihre Reaktionen auf die Reaktionen der Politiker, den Streit mit dem Vater über ihren Perfektionsdrang und die Ernährung.

Diese Einblicke in das Erleben dieser “Berühmtheit” ist extrem berührend. Wir sehen keinen geltungssüchtiger Jung-Promi, sondern einen jungen Menschen, der ganz offensichtlich und subjektiv unvermeidlich an der Ignoranz und Widersprüchlichkeit der Welt der Erwachsenen verzweifelt. Und mit genau dieser Verzweiflung sieht Greta sich in der Verantwortung, anstelle der eigentlich zuständigen Politiker und Wirtschaftsbosse für die Rettung der Lebensgrundlagen unseres Planeten einzutreten.

Es zerreißt einem fast das Herz, wenn man den Kontrast zwischen diesem noch sehr kindlichen Körper und der betonschweren Bürde wahrnimmt, die auf diesen schmalen Schultern lastet.
Er erscheint absolut glaubhaft, wenn Greta deutlich macht, dass sie lieber ein ganz normales unauffälliges Teenie-Leben führen würde – wenn nur die zuständigen Menschen endlich den Wissenschaftlern glauben und ihren Job machen würden.

Natürlich wird auch deutlich, dass Greta kein ganz “normales” Mädchen ist. Sie spricht selbst kurz über ihre Asperger-Erkrankung (eine leichte Form des Autismus).
Man kann diese Krankheit als persönliche Tragik ansehen oder als Glück für die Menschheit: Ohne diese unerschütterliche, fast zwanghafte Konzentration auf dieses eine Thema, ohne diese schonungslose Konsequenz in der Verfolgung des als existenziell-bedeutsam erkannten Zieles, ohne diese Fähigkeit, (fast) alles andere als unbedeutend auszublenden (außer der Beziehung zu ihren Tieren) – ohne das alles hätte es wohl die Fridays-for-Future-Bewegung nicht gegeben.

Wer nach dem betrachten dieses Films noch davon schwafelt, dass diese Greta ja nur ein durchgedrehtes Kind, eine publicity-süchtige Influencerin oder eine ferngesteuerte Marionette grüner Systemverändern (z.B. ihrer Eltern) wäre, der hat sich als Gesprächspartner disqualifiziert.

Insofern ist dieser Film gerade dadurch so aufklärerisch, dass er kaum “neutrale” Informationen anbietet. Er überlässt Reaktionen und Bewertungen ganz den Zuschauern.
Ich rate dazu, sich dieser Herausforderung zu stellen (abrufbar in der ARD-Mediathek).


Amerikanischer Patriotismus

Nach der Betrachtung der Auftritte von Biden und Harris auf der Siegesfeier in der letzten Nacht gehen mir verschiedene Dinge durch den Kopf. Da ist Erleichterung, da ist Empathie und Rührung – aber da ist auch ein gewisses Fremdheitsgefühl angesichts der massiven Beschwörung des typisch amerikanischen Patriotismus und dem starken Bezug auf Gott.

Ich neige dazu, dem mit Verständnis und Toleranz zu begegnen.
Es ist in dieser Phase unbedingt notwendig, die tiefen Gräben zwischen den Menschen zu beseitigen. Dazu muss es gemeinsame – auch emotionale – Bezugspunkte gegen. Eine realistische Alternative zu der gemeinsamen Identifikation mit der Nation (“wir sind Amerikaner”) und der Religion ist kaum denkbar.

Angenehm ist, dass sich dieser Apell an den Nationalstolz gegen niemanden wendet. Zwar werden die grandiosen Möglichkeiten eines vereinten Amerikas in allen Farben des Regenbogens ausgemalt, aber eben nicht im Kontrast zum Rest der Welt.

Amerikaner haben jede Menge Grund, nicht stolz zu sein – auf ihr Land, auf ihre Geschichte, auf die letzten vier Jahre. Aber wenn der momentane Stolz auf die Überwindung des abstoßenden Trump-Systems die Grundlage für einen echten Stimmungswechsel bilden kann, so sei er ihnen gegönnt.

Möglicherweise sind die “weichen” Botschaften, die demonstrative Veränderung der Umgangsformen und des Stils, tatsächlich als Signal an die Welt bedeutsamer als die ein oder andere politische Entscheidung. Wenn sich eine zweite “Obama-Mentalität” ausbreiten sollte, dann verändert sich die internationale öffentliche Meinung ganz sicher zu Ungunsten der Autokraten.
Auf Einladung zu Dialog und Kooperation lässt es sich viel schlechter eskalieren und polemisieren als auf schroffe Provokationen und dem Pochen auf Egoismus.

Von mir aus sollen die Amis baden in ihrem positiven Patriotismus – wenn er sich so total anders anfühlt als die letzten vier Jahre.
(Und dass Gott und Familie in den USA so unverzichtbar sind, nehme ich dann auch gerne in kauf).