Ist Habeck ein Weichei und ein schlechter Verlierer?

Kandidatenkür und ZEIT-Interview liegen zwar schon eine Woche zurück, noch immer wird aber breit diskutiert, ob sich Robert Habeck irgendwie “falsch” verhalten hat.
Hat er zu deutlich gesagt, dass er auch wollte? Hätte er sich und seine Gefühle wegen der enttäuschten Perspektiven nicht so wichtig nehmen dürfen? Wäre es nicht wichtig gewesen, Baerbock als die “eindeutig Bessere” darzustellen? War es nicht schofelig, die Wahl seiner Konkurrentin so eindeutig mit ihrem Geschlecht zu verbinden? Hätte er nicht einfach im Hintergrund bleiben müssen? War es zu forsch, davon auszugehen, dass er aufgrund seiner Qualifikationen und des Vorlaufs ein Teil der Regierungsmannschaft sein würde (einen Wahlsieg vorausgesetzt)?
Sechs Fragen, auf die ich sechsmal mit einem klaren “Nein” antworten würde!

Für mich war es stimmig, dass sich der oder die Andere nach der Entscheidung zu Wort meldet. Gehört es denn nicht zu dem angebotenen “neuen Politikstil”, dass auch die Sichtweise des Unterlegenen authentisch kommuniziert werden darf? Wenn ein Rennen so knapp ausgeht, wenn so viele Monate Energie und Herzblut geflossen sind, ist es für mich sowohl legitim als auch öffentlichkeitsrelevant, wie mit einem “Zurückstehen” umgegangen wird. Hätte man dieses Recht Baerbock nicht ganz selbstverständlich zugestanden?
Man will bei und von den GRÜNEN einen “anderen” Typ von Mann. Und der soll dann ausgerechnet im Moment der Entscheidung cool sein und keine Gefühle zeigen?

Jede/r weiß, dass es für die feministisch geprägten GRÜNEN ein Unding gewesen wäre, gegen zwei Männer einen weiteren Mann ins Rennen zu schicken. Das schließt nicht aus, dass Baerbock auch unabhängig davon eine gleichwertige oder sogar bessere Wahl gewesen wäre. Habeck war auch an diesem Punkt einfach nur ehrlich: Die Geschlechterfrage war ein zentraler Grund. So sind die GRÜNEN, dafür stehen sie, dafür schämen sie sich nicht. Als GRÜNER Mann trägt man das mit – was nicht heißt, dass es sich in jedem einzelnen Moment toll anfühlt. So what?

Warum hätte er denn verschweigen sollen, dass ihn seine politischen und administrativen Erfahrungen dafür prädestinieren, in einer GRÜN geprägten Regierung zur Kernmannschaft zu gehören? Wollte oder sollte das jemand bezweifeln? Hätte das im umgekehrten Fall jemand Baerbock streitig gemacht? Wohl kaum!

Für mich war die Stellungnahme von Habeck eine passende Abrundung des gemeinsamen Weges an diesem Punkt. Jetzt ist Sache allerdings durch. Das alles kann und darf einmal gesagt werden, aber ganz sicher kein Dauerthema werden.
Wird es auch nicht – wetten?

Annalena bei Anne

Anne Will hat sich vorbereitet. Sie stellt erst ganz normal ihre anderen Gäste vor, um dann die GRÜNE Kanzler-Kandidatin einer Sonderbehandlung zuzuführen: Ein “Einzelgespräch” – wohl eher als Kreuzverhör geplant.

Die vermuteten “offenen Flanken” waren keine Überraschungen: Es ging um die vermeintlichen Querschläge durch Habeck, um das eigene Kompetenzprofil (“fehlende Regierungserfahrung”) und um die angebliche Inkonsequenz bzw. Anpassung bei den Klimazielen.
Das Ergebnis: Auch durch wiederholtes Nachfragen konnte Anne Will keinen Punkt machen.

Bearbock war nicht nur sicher und klar in ihren Antworten, sondern bewies die Souveränität, Wills Fragen teilweise regelrecht dumm aussehen zu lassen. Sie hat so den Eindruck entstehen lassen, dass nicht sie sich für ihre Antworten rechtfertigen müsse, sondern eher die Moderatorin für ihre seltsamen Fragen.
So erschienen letztlich die Antworten logischer als die kunstvoll gesetzten Fragen.

Toll gemacht! Ein klarer Punktsieg für Annalena gegen Anne!

Warum nicht auf GRÜN-Rot setzen?

Es kommt wie erwartet: Die konservativen Medien schießen sich auf das (vermeintliche) Schreckgespenst GRÜN-Rot-Rot ein. Wenn man nun tatsächlich nicht mehr behaupten kann, die eigenen Kinder wegen der GRÜNEN Chaoten von der Straße holen holen zu müssen, sollen die LINKEN jetzt den Buhmann (die Buhfrau) geben.
Dieser Rollenzuschreibung werden sie ja – zumindest teilweise – auch gerecht; insbesondere im Bereich der Außenpolitik.
Nun wird in jedem Interview danach gelechzt, ob und wann endlich eine Aussage für oder gegen eine mögliche Koalition mit den LINKEN fällt.

Meine Meinung: Keep cool! Warum sollte nicht GRÜN-Rot (gemeint ist das zarte Rot der SPD) ein erwünschtes und realistisches Wahlziel sein? Warum sollte es nicht gelingen, ein 30% GRÜN mit einer 20% SPD zu bekommen?

Hintergrund für diese Überlegung ist Folgendes: Die Leute (der bürgerliche Mainstream) wollen sicher kein Doppel-Experiment; d.h. sie wollen nicht gleichzeitig eine junge und relativ unerfahrene Kanzlerin und das Abenteuer einer LINKEN Regierungsbeteiligung.
Aber was die “MItte” durchaus akzeptieren könnte, wäre ein Vizekanzler Scholz mit seiner Seriosität und seiner großen Erfahrung.

Ich schlage also vor, aktiv auf dieses Bündnis zu setzen; nicht durch Ausschließen anderer Koalitionen, sondern durch eine offensive Kommunikation.
Seit dieser Woche ist dieses Ziel ein ganzes Stück realistischer geworden. Es wird Zeit, das auch so zu benennen. Hinter dieser Perspektive könnte sich die gesamte linke Mitte und das GRÜN bewegte Bürgertum versammeln.
Und auf einmal wären weder die LINKEN noch die FDP so besonders interessant…

20.04.: GRÜNE liegen vorn!

Es gibt sie also, die erste Umfrage, in der die GRÜNEN deutlich vor der Union liegen.
Es handelt sich um eine gerade bei SPIEGEL-online veröffentlichte Forsa-Blitzbefragung, in der nicht nur ein Vorsprung von 7 Prozentpunkten für die Partei, sondern auch ein extrem positives Stimmungsbild für Baerbock ermittelt wurde: Sie schlägt in dieser Momentaufnahme alle Mitbewerber um Längen.

Das alles darf nicht überbewertet werden, natürlich nicht. Der aktuelle Frust über das peinliche Schauspiel der CDU/CSU wird wieder abflachen. Das Rennen geht erst los und man wird sich jetzt auf die GRÜNEN und ihre Kandidatin einschießen.
Aber: Es ist doch ermutigend, dass zu Beginn des Wahlkampfes der Ausgang absolut offen ist. Eine GRÜNE Kanzlerschaft ist kein abwegiger Traum mehr, sondern eine erreichbare Option.

20.04.: Das GRÜNE Urgestein im Gespräch

SPIEGEL-online veröffentlichte heute ein sog. “Spitzengespräch” mit Claudia Roth. Sie repräsentiert wohl wie keine andere GRÜNE die Geschichte dieser Partei, insbesondere auch ihre schrille und feministische Seite. Roth war ganz früh dabei, ca. 10 Jahre Bundesvorsitzende, und stellt mit ihrer gefestigten Rolle und ihrer Lebensleistung so etwas wie den Gegenpol zur jungen Senkrechtstarterin Baerbock dar.

Dem SPIEGEL-Journalist Feldenkirchen (inzwischen auch gern gesehener Talkshow-Gast) gelingt es, in einem launigen Gespräch dem Gegenüber sowohl interessante politische Aussagen als auch sehr persönliche bzw. nostalgische Reminiszenzen zu entlocken.

Inhaltlich lässt Roth keinen Zweifel daran, dass sie voll hinter der aktuellen Parteiführung und dem Auswahlverfahren steht. Über die Benennung einer Kandidatin ist sie ohne Zweifel sehr glücklich, lässt es aber an mehrfachem und ausdrücklichem Lob für Habeck nicht mangeln: Habeck sei eben als moderner GRÜNER eine andere Sorte Mann als die Gladiatoren bei der Union.

Ein lohnendes Gespräch mit lebendigen Einblicken in die Frühzeit der GRÜNEN und einen etwas anderen Zeitgeist.
Abzurufen hier

Die erste Talkshow zu Baerbock

Plasberg hatte heute bei “Hart aber Fair” die Chance, einen historischen Moment der bundesdeutschen Parteigeschichte zeitnah zu begleiten und einzuordnen.
Das Ergebnis: jämmerlich!

Statt sich der von den GRÜNEN ausgehende Einladung zu einem gesellschaftlichen Aufbruch zu widmen, ließ er eine total langweilige und ausufernde Diskussion über Steuererhöhungen vom Stapel, wie wie sie in ähnlicher Form und mit gleichen Argumenten schon viele Male gelaufen ist.

Mein Urteil: Thema verfehlt, Chance vertan!

Kandidaten-Auswahl

Ja, ich hatte mir ursprünglich Robert Habeck gewünscht. Für mich wäre es eine attraktive Perspektive gewesen, einen Intellektuellen (Schriftsteller, Philosophen) im Kanzleramt zu erhoffen.
Aber unter den gegebenen Bedingungen konnten die GRÜNEN wohl nicht anders entscheiden als für eine moderne, junge und sehr kompetente Frau als Gegenpol für zwei etablierte Herren.
Danken muss man der CDU/CSU für die perfekte Darbietung eines Kontrast-Programmes beim Auswahl-Verfahren.

Die Antritts-Rede hat mich inhaltlich und stilistisch überzeugt. Es hat mich auch emotional gepackt, weil ein Hauch von Geschichte zu spüren war, eine Art Mini-Obama-Gefühl. Heute könnte ein Kapitel aufgeschlagen worden sein, das sich prägend auf das ganze kommende Jahrzehnt auswirken könnte.
Das macht Hoffnung!

(Nachbemerkung: Dieser Beitrag ist der Auftakt zu einem neuen Schwerpunkt; weitere Infos hier: “Der GRÜNE Blog“)

“Rawls in 60 Minuten” von Walther ZIEGLER

Bewertung: 5 von 5.

Menschen, die sich aus philosophischen oder politischen Gründen für Gerechtigkeitstheorien interessieren, stoßen ziemlich rasch auf den Amerikaner John Rawls. Sein Buch “Eine Theorie der Gerechtigkeit” ist eines der einflussreichsten Beiträge zu diesem Thema überhaupt.
Da nicht jede/r bereit ist, solche Grundlagenwerke im Original zu lesen, gibt es sog. Sekundärliteratur, die nicht nur kürzer ist, sondern oft auch Barrieren im Verständnis bzw. in der sprachlichen Zugänglichkeit abbauen. Einen solchen niederschwelligen Einstieg soll dieses Büchlein bieten.

Die geniale Grundidee von Rawls ist schnell beschrieben: Die Rahmenbedingungen für eine gerechte Gesellschaft würden sich dann – sozusagen von selbst – ergeben, wenn sie unter einer bestimmten Bedingung ausgehandelt würden: Die Beteiligten dürften nicht wissen, welche Position sie in dieser Gesellschaft selbst hätten. Dieser “Schleier der Unwissenheit” würde verbergen, ob sie arm oder reich, gesund oder krank, männlich oder weiblich, usw. wären.
Rawls legt dann in seinem Werk sehr überzeugend dar, welche Regeln bei einem solchen Prozess (höchstwahrscheinlich) herauskommen würden: Man würde die Alternative wählen, in der für die schwächsten Mitglieder am besten gesorgt und nur solche Unterschiede in der Verteilung von Reichtum akzeptiert würden, die auch den Schwächsten zugute kämen.

ZIEGLER gelingt es sehr gut, die Komplexität des Ursprungstextes in einer Weise zu reduzieren, die sowohl ein Grundverständnis ermöglicht, als auch weitergehende Aspekte thematisiert. Indem er auch kritische Einwände auf seine Theorie anspricht, führt er über Darlegungen von Rawls sogar hinaus und fördert die Einordnung in aktuelle politische Diskussionen.

Ohne Übertreibung lässt sich wohl sagen: Ein wirklich fundierter Diskurs über eine gerechte Gesellschaft ist ohne einen Bezug zu Rawls kaum denkbar – selbst wenn man seine Theorie aus bestimmten Gründen letztlich relativieren oder zurückweisen würde.
Der Text von ZIEGLER bietet einen gut strukturierten und und didaktisch klugen Einstieg. Viel mehr politisches Weltverständnis kann man für die hier aufgewandte Zeit und das investierte Geld (8 € als EBook) kaum erwarten.
Sollte man aus anderen Quellen allerdings schon mit den Grundgedanken von Rawls vertraut sein, dann könnte sich eher der Originaltext lohnen.


“Von der Pflicht” von Richard David PRECHT

Bewertung: 4.5 von 5.

Es gibt mit Sicherheit reißerische Titel für ein Buch über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen; es ist geradezu provozierend “altmodisch” gewählt. Gerade deshalb bietet er eine gute Entscheidungsgrundlage hinsichtlich der Beschäftigung mit diesem Buch.
Wie seit vielen Jahren gewohnt darf sich der Medien-Star unter deutschen Philosophen auch bei diesem Statement der Aufmerksamkeit und des Verkaufserfolges sicher sein. Er braucht daher weder hinsichtlich der Vermarktung noch in Bezug auf den Inhalt große Kompromisse einzugehen. Genau das strahlt diese Publikation auch aus.

Die Covid-Pandemie ist der zentrale Ausgangspunkt für die Betrachtungen über das Verhältnis von Rechten und Pflichten zwischen den beiden “Vertragspartnern” Bürger und Staat. PRECHT analysiert mit scharfem Blick die Gemengelage zwischen staatlicher Vorsorge und Diktatur-Panik. Vieles davon wurde im Laufe des letzten Jahres schon geschrieben und gesagt, doch der Autor fokussiert auf diesen einen Aspekt: Was darf oder muss der Staat tun und was kann oder muss der Einzelne erwarten, erdulden bzw. beitragen.

Leicht fällt PRECHT dann der Übergang von dem konkreten Pandemie-Geschehen zu einer umfassenden Analyse der zeitgeschichtlichen Trends, die – so einer seiner Grundthesen – aus dem autoritätshörigen Untertan eine Art “Kunden” gemacht hat, der den Staat als einen Dienstleister betrachtet, dem gegenüber er keinerlei Verpflichtungen spürt bzw. akzeptiert.

PRECHT wäre nicht PRECHT, wenn seine Durchdringung der Thematik nicht eine Zusammenschau von historischen, wirtschaftlichen, juristischen und philosophischen Aspekten böte. Dabei bleibt er durchaus nicht auf der gefälligen und leicht verdaulichen Oberfläche; er mutet seinen Leser/innen vielmehr einigen Tiefgang zu.
Immer wieder lauern in dem Text pointierte Formulierungen, denen Gewicht und Erkenntnisinhalt man sich erst durch kurzes Innehalten bewusst machen muss; bei einem kurzen Querlesen (oder -hören) würde solche Köstlichkeiten verloren gehen.

Die meisten Käufer/innen dieses Buches werden soweit vorinformiert sein, dass Sie schon vorher wissen, was PRECHT am Ende vorschlägt. Seine Idee, durch zwei “Pflichtjahre” (nach Ausbildung bzw. beim Renteneintritt) das Verhältnis von staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten wieder auf eine gedeihlichere Grundlage zu stellen, trägt er nicht zum ersten Mal vor.
Aber er legt nach: Nicht nur durch die vorangehende Analyse der Ausgangslage (s.o.), sondern auch durch eine konkretere Ausgestaltung dieses “Dienstes am Gemeinwohl” und eine ausführliche Auseinandersetzung mit möglichen Kritikpunkten bzw. Einwänden.
Er argumentiert dabei weder besserwisserisch noch ideologisch – und lädt die Gegner seines Modells ausdrücklich ein, sich Gedanken über eine “bessere” Alternative zu machen.

Wer sollte dieses Buch lesen (hören) und wem reicht vielleicht die Quintessenz aus Rezensionen, YouTube-Beiträgen und Talkshow-Auftritten?
Ich schlage zwei Kriterien vor: Wie groß ist das Interesse an einer vertiefenden und eingebetteten Betrachtung gesellschaftlicher Entwicklungen? Welches Vergnügen empfindet man dabei, knackige und originelle Formulierungen serviert zu bekommen – selbst wenn die Inhalte nicht völlig neu sein sollten?

Das Hörbuch wird vom Autor selbst vorgelesen. Das ist angenehm und hat keinen Nachteil gegenüber einer Produktion mit einem professionellen Sprecher. Da PRECHT seinen Text – vielleicht weil er ihn so gut kennt – recht schnell liest, empfehle ich eine leichte Reduzierung der Wiedergabegeschwindigkeit (auf ca. 80-95%). Das hat dann auch den Vorteil, dass man nicht schon nach 03:06 Stunden durch ist…

Gendersprache und Diskriminierung

Die aktuell diskutierte und bereits stattfindende Veränderung unserer Sprache betrifft uns alle: als Lesende, als Schreibende, als TV-Konsumenten, usw.
Viele lassen es einfach geschehen und warten ab – so wie man es ja auch mit anderen zeitgeschichtlichen Phänomenen letztlich gewohnt ist.
Manche regt es aber auch sehr auf: weil sie die Schönheit oder die Verständlichkeit der Sprache bedroht sehen, weil Sie sich nicht das “richtige” Schreiben bzw. Sprechen vorschreiben lassen wollen oder weil ihnen die ganze Richtung nicht passt (mit all den Diskussionen um Diskriminierung, political correctness und Diversitäten).
Kenn ich eigentlich meinen eigenen Standpunkt? Könnte ich ihn formulieren?
Nachdem ZEIT und SPIEGEL durch sind, wird es Zeit für einen Post.

Natürlich will ich hier nicht die ganze Breite der Diskussion aufspannen. Das können andere besser. Mir geht es um die Sprache, um die Verabsolutierung der Geschlechtszugehörigkeit und um das Verhältnis von Minderheiten und Mehrheiten.
Mir geht es ganz sicher nicht darum, traditionelle Machtpositionen von Männern zu verteidigen oder einen allgemeinen konservativen Rollback zu befördern.

Zur Sprache
Ich schreibe gerne und viel. Ich mag es, wenn Texte gut lesbar, leicht verständlich und so unkompliziert wie möglich (und damit auch irgendwie “elegant”) sind. Als Schreibender hätte ich gerne relativ große Freiheiten, um mich und meinen Stil ausleben zu können. Gerne unterwerfe ich mich dabei orthografischen und grammatikalischen Konventionen. Diese zu beherrschen, ist ein Teil von Schreibkompetenz.
Was ich nicht möchte, sind Vorgaben, die mir aus (meinetwegen gut gemeinten) ideologischen Motiven und als Ergebnis einer gesellschaftlichen Lobbyarbeit vorgegeben werden. Auch wenn man nicht gezwungen wird: Ab sofort ist mit Art und Umfang des sprachlichen Genderns ein weltanschauliche Selbstoffenbarung verbunden.
Ich will aber einfach bestimmte Veränderungen vermeiden, die ich als Beschädigung der Sprache erlebe; ich will nicht gleichzeitig eine Botschaft vermitteln, dass ich offenbar AFD-affin wäre.
Übrigens: Einen nachträglichen Eingriff in frühere oder gar historische Texte aus Gründen von Gender- oder sonstigen Gerechtigkeiten halte ich für völlig unakzeptabel.

Zur Geschlechtszugehörigkeit
Mich sprechen Stellungnahmen von Frauen an, die es als Zumutung erleben, dass durch das exzessive Gendern nicht die (gesellschaftliche) Gleichheit der Geschlechter befördert würde, sondern – ganz im Gegenteil – das Frau- oder Mannsein (und alle möglichen Zwischenformen) immer und überall mitgedacht und betont würde.
Warum muss dieses eine Merkmal unaufhörlich markiert werden? Wem nützt das eigentlich? Muss man Geschlechterzugehörigkeit (mit sprachlicher Hilfe) zu der zentralen Frage machen, mit dem Ziel sie – eigentlich – bedeutungslos werden zu lassen?
Ja, ich kenne all die Argumente über den Zusammenhang von Sprache und Machtverteilung in einer Gesellschaft. Ich glaube nur, dass die reale Macht der wichtigere Punkt ist und dass Sprache dann ganz von alleine hinterherkommt.

Sprachliche Diskriminierung von Minderheiten
Jetzt wird es noch schwieriger – ich bewege mich in vermintem Gelände. Man macht sich nicht nur Freunde, wenn man Meinungen kundtut. Zum Glück mögen meine Leser/innen (auch hässlich; am liebsten hätte ich “Leser” geschrieben) auch offenen und kontroversen Austausch.
Ich finde, dass jede Minderheit, die Recht und Freiheit der Mehrheit nicht einschränkt, Anspruch darauf hat, nicht wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe benachteiligt zu werden.
Was ich nicht finde: dass jede Minderheit den Anspruch darauf hat, dass die Mehrheit ihre Traditionen, Gewohnheiten und alltäglichen Abläufe auf die jeweiligen Bedürfnisse und Wünsche ausrichtet. Ich halte es beispielsweise nicht für notwendig, dass in jedem Text, der sich an Mädchen oder Jungen wendet, der Hinweis enthalten sein müsste, dass man sich ja vielleicht durch beide Begriffe nicht angesprochen fühlen könnte (vor einigen Tagen selbst gelesen!).
Es ist sicherlich gut gemeint, wenn Sprache das Selbsterleben von Minderheiten berücksichtigen will. Aber: Gibt es nicht auch sowas wie das Selbsterleben von vielleicht 99 Prozent der Gesellschaft? (Wikipedia schätzt den Anteil von “intergeschlechtlichen” Personen auf 0,2% der Bevölkerung). Ist es wirklich sinnvoll, wenn 99,8% der jungen Menschen, die sich gerade mühsam in ihre Identität als Mädchen oder Junge hineinarbeiten, permanent darauf gestoßen werden, dass es ja auch viel komplizierter sein könnte? Was ist an diesem Punkt mit der “Macht der Sprache”? Hat da schon jemand drüber nachgedacht?

Resümee
Sprache entwickelt sich weiter. Das kann man als Einzelner nicht aufhalten.
Vermutlich werde auch ich in drei oder fünf Jahren ganz selbstverständlich sprachlich gendern – weil es einfach zum neuen Regelkanon gehören wird (wie die Rechtschreibung).
Ich wollte nur mal meine Meinung vom März 2021 sagen. Und ich weiß, dass das Ganze komplexer ist, als meine paar Anmerkungen hier. Auch ich habe einige Sympathien für die andere Seite.
Freue mich über Zustimmung und Widerspruch.