“Eine Art Familie” von Jo LENDLE

Bewertung: 3.5 von 5.

Begeisterung für ein Buch macht neugierig auf den Autor und frühere Werke. So war es mit Jo LENDLE (Die Himmelsrichtungen). “Eine Art Familie” ist ein deutlich sperrigerer Text.
Der Autor taucht tief in die Geschichte seiner Familie ein und rekonstruiert die Lebensläufe einiger Personen rund um seinen Großonkel Ludwig quer durchs 20. Jahrhundert. Basis dafür sind akribische Tagebuchaufzeichnungen, die Ludwig eigentlich zur Vernichtung bestimmt hatte.

Natürlich spiegeln sich die großen Jahrhundert-Themen in den privaten und beruflichen Begebenheiten der Protagonisten: der Lebensgemeinschaft von Ludwig mit seinem nur wenig jüngeren Patenkind Alma und einer treuen Haushälterin; daneben noch dem eher fremden Bruder Wilhelm und seiner Familie.
Es geht um die beiden Kriege, die Narben des ersten Weltkriegs, die Haltung zu und die Verstrickungen mit der NS-Diktatur, um das widersprüchliche Leben in der jungen DDR, um die Erfolge der Wissenschaft, um Ruhm und Karrieren.

Aber das ist nicht der eigentliche Gegenstand dieses insgesamt leisen und sehr persönlichen biografischen Romans. In oft mikroskopischer Feinarbeit werden die eigenwilligen Persönlichkeiten der drei Hauptfiguren ausgeleuchtet; dabei halten diese keineswegs spektakuläre oder grandiose Fähigkeiten bzw. Charaktereigenschaften bereit. Eher im Gegenteil: Die so detailverliebt beschriebenen Personen sind eigentümlich unfertig, in sich zerrissen, die meiste Zeit ein wenig schräg und verschroben. Sie eignen sich nicht als Helden oder Identifikationsfiguren, ihre Menschlichkeit ist meist allzu menschlich.
Immer wieder hat man das Gefühl, dass insbesondere Ludwig und Alma irgendwie an ihrem Leben und auch an der Gestaltung ihrer Beziehung vorbeileben. Trotz räumlicher Nähe und selbstverständlicher Loyalität, findet Intimität und Kommunikation nur indirekt statt.

Auch in der äußeren Welt, in der Ludwig als Professor für Pharmakologie durchaus Erfolge hat, steht er sich doch immer wieder auch selbst im Wege, hadert und zögert, findet nicht wirklich zu sich selbst. Die Verstrickungen seiner Forschungen über Narkosemittel und giftige Gase mit dem Vernichtungskrieg der Nazis treiben ihn um; seine Wege sind nicht ohne Schleifen und Ambivalenzen. Sein Leben lang wollte er das Geheimnis des Schlafes entschlüsseln, am Ende sinniert er über den Zusammenhang zwischen Schlaf, Narkose und Tod.

Doch kann man den Charakter und die Qualität dieses Buch nur dann wirklich erfassen, indem man seine Sprachkunst thematisiert. Es gelingt LENDLE nicht nur, seine Figuren sensibel und facettenreich zu zeichnen, sondern er kreiert immer wieder Formulierungen, die man sich auch eingerahmt an der Wand vorstellen könnte. Die Sprachbilder die er dabei benutzt sind so perfekt auf den zeitlichen und emotionalen Kontext abgestimmt, dass es einem kurzfristig die Sprache geradezu verschlägt.

Trotzdem: Das Lesen dieses Buches geht nicht von selbst; die Intensität und Tiefe der Betrachtungen hat auch ihren Preis und bereitet stellenweise auch mal etwas Mühe. Ohne die Bereitschaft, sich auf die Protagonisten mit all ihren Macken, Ecken und Kanten einzulassen, könnte die Lesemotivation zwischenzeitlich auch mal zur Neige gehen.
Das Buch ist etwas für Leser/innen, die weniger auf der Spur nach bestimmten Ergebnissen sind, sondern eher den Prozess des ruhigen Einlassens auf eine unbekannte Szenerie zu schätzen wissen.

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“Danke, nicht gut” von Franz HIMPSL und Judith WERNER

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buchprojekt erweckt von der ersten Seite ab einen persönlichen, privaten Eindruck. Hier denken zwei Gleichgesinnte über Wege nach, mit welchen Grundhaltungen man den Herausforderungen des menschlichen Daseins wohl am sinnvollsten begegnen könnte.
Angestoßen wurde dieses Vorhaben durch den offensichtlichen Widerspruch zwischen den realen Belastungen und existentiellen Zumutungen des Lebens (hier in Form einer Krebserkrankung) und den oft marktschreierischen Statements, mit denen der grenzenlose Glaube an die Machbarkeit von Erfolg, Glück und Selbstvervollkommnung propagiert wird.
Kurz gesagt: Das Autorenpaar glaubt nicht daran, dass mithilfe von Optimismus und Selbstsuggestion alles erreichbar ist, man sich also den unvermeidlichen tragischen Aspekten des Lebens durch das richtige Mindset entziehen kann.

Persönlich wirkt nicht nur der Zugang zum Thema, sondern auch die Form der Betrachtung. HIMPSEL und WERNER berühren zwar ein weites Spektrum von Inhalten aus den Bereichen Psychologie und Philosophie, handeln jedoch die vielfältigen Aspekte nicht im Stil einer systematischen Analyse ab, sondern durchstreifen die Landschaft der Einstellungen, Haltungen und Glaubenssätze im Rahmen einer langen, ruhig dahinfließenden Plauderstunde.
Dabei mixen sie Lebensweisheiten der angewandten Philosophie, wissenschaftliche Untersuchungsbefunde und persönliche Erfahrungen bzw. Erkenntnisse zu einem kohärenten roten Faden zusammen. Was dabei herauskommt, ist viel mehr als eine Abrechnung mit den Abstrusitäten der Positiven Psychologie: Letztlich entfalten die Autoren nichts weniger als eine Art ganzheitlichen “Lebensratgeber”.

Im Laufe des Parcours durch das Labyrinth der – letztlich toxischen – Haltungen und Erwartungen, die man dem Leben gegenüber entwickeln kann, lassen die beiden kaum einen Aspekt aus: Es geht um das Werben der Motivationstrainer (“anything goes”), um die Verantwortung für die eigenen Kognitionen (“du musst nur richtig denken”), um die Relativierung aller äußeren Geschehnisse (“wichtig ist nur, was du daraus machst”), um den unstillbaren Drang zur Perfektionierung und Selbstoptimierung (“man kann immer noch besser werden”), um die Manipulationstechniken des NLP, um die steigende Angst, etwas zu verpassen oder falsch zu entscheiden (“lebe das bestmögliche Leben”),
Dieser Welt des zwanghaften Optimismus und der permanenten Perfektionierung stellen die Autoren zunächst eine radikale Negation entgegen. Die Antithese heißt bei ihnen “Zynismus” (oder Skeptizismus). Ganz im Sinne der Dialektik führen sie aus, dass eine solche Lebenseinstellung (natürlich) auch nicht die Lösung sein kann.: Depressivität und Pessimismus haben ihren Preis.

Was dann zwangsläufig auf die Synthese, also die goldene Mitte hinausläuft: Die hat für die Autoren viel mit Realismus, Pragmatismus, Gelassenheit, Selbstbeschränkung, Rationalität, Wissenschaftlichkeit, Anerkennung von Begrenzungen und Endlichkeit, der Kunst der kleinen Schritte und alltäglichen Freuden zu tun.
Auf dem Weg dahin wird noch die ein oder andere Schleife durch die Philosophiegeschichte geflogen – Diogenes, Sokrates, Marc Aurel, Kierkegaard, Schopenhauer, Kant, Beauvoir, Hume, Nietzsche, Heidegger und viele andere lassen grüßen.
Im Schlusskapitel gewinnt dann doch eine – auf realistisches Maß reduzierte – optimistische Lebenssicht. Es gibt sie ja wirklich – die sich selbst erfüllende Prophezeiung. Und im Zweifel sollte man sie in positiver Richtung nutzen – aber mit Maß, Gelassenheit und Vernunft.

Wer sich gerne mal treiben lässt, sich vertrauensvoll in die Hände kundiger Reiseführer begibt und auch vor überraschenden Wendungen nicht bange ist – der kann es mit dem Autoren-Duo mal versuchen. Man muss die Mischung mögen und darf sich auch von einem zwischenzeitlichen Plauderton nicht abschrecken lassen.
HIMPSEL und WERNER bieten ihre Quintessenz im Umgang mit den großen Fragen des Lebens an. Anregend ist das auf jeden Fall.

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“Viel Lärm um Achtsamkeit” von Jacob SCHMIDT

Bewertung: 3.5 von 5.

Viel Text (über 200 S.) über eine Erfahrung, die sich eigentlich typischerweise im Stillen, im Nonverbalen abspielt. Macht das Sinn?
Das kommt darauf an…

Zunächst eine Klarstellung: In diesem Buch lernt man keine Achtsamkeit, erhält keine Anweisungen für die Meditationspraxis, wird nicht dazu angehalten, eine neue Einstellung zu sich, dem Leben oder gar dem Universum zu finden.
SCHMIDT legt eine Analyse, also eine Betrachtung auf Meta-Ebene vor: Das Phänomen Achtsamkeit ist der Gegenstand, die Methode besteht aus Faktensammlung, Reflexion, Einordnung, Bewertung. Das ist auch deshalb so eindeutig, weil hier kein Therapeut, Coach oder Psychologe schreibt, sondern ein Soziologe. Ein größerer Spannungsbogen ist kaum denkbar, als der zwischen der Innerlichkeit von Achtsamkeitserfahrungen und der gesellschaftlichen Außenperspektive.
Da der Autor eigene Achtsamkeits- bzw. Meditationserfahrung einbringt, trägt er diesen Spannungsbogen in sich selbst. Und das ist auch gut so: Denn ohne diesen persönlichen Zugang wäre dieser Blick auf ein Zeitgeist-Phänomen eine bloße intellektuelle Spielerei.

Das Buch hat verschiedene Facetten:
– SCHMIDT berichtet von eigenen Erlebnissen im Kontext von Achtsamkeit,
– er betrachtet systematisch (kulturhistorisch) die verschiedenen Stränge und inhaltlichen Ausgestaltung der Einflüsse, die sich in der aktuellen Achtsamkeits-Welle spiegeln,
– er ordnet den Hype um die Achtsamkeit in den zeitgeschichtlichen und politischen Kontext unserer Beschleunigungs-Gesellschaft ein,
– er betrachtet die Chancen und Hoffnungen, mit Hilfe der Achtsamkeit ein irgendwie “erfüllteres” Leben zu gestalten,
– er analysiert die Gefahren, die in einem Rückzug auf Privatheit und Innerlichkeit verbunden sein könnten und
– schlägt schließlich einen Kompromiss vor, in dem die Achtsamkeit einen klar begrenzten, aber doch respektablen Platz einnehmen könnte.

Schon im Vorwort von Hartmut ROSA (eine passende Wahl!) wird die grundlegende Frage angedeutet, die auch SCHMIDT umtreibt: Im welchem Umfang kann die Suche nach dem inneren Selbst, nach der Unmittelbarkeit von Sinneserfahrungen, nach Stille und Entschleunigung missbraucht werden? Wann schlägt die Sehnsucht nach der inneren Ruhe in eine stumpfe Privatheit bzw. in eine ausbeuterische, rein funktionale Selbstoptimierung um?

Das alles geht ziemlich stark ins Detail und hat zwischendurch eher wissenschaftlichen als journalistischen Charakter.
Beispielsweise nennt SCHMIDT bei den Darstellungen der asiatischen Wurzeln immer wieder auch die ursprünglichen Begrifflichkeiten. Er nimmt seine anfängliche Systematik von drei Hauptrichtungen der Achtsamkeitsbewegung ernst und bezieht sich – wie in einem guten Fachbuch üblich – im späteren Text immer wieder darauf.
Insgesamt entsteht so eine Informations- und Reflexionsdichte, die in einem gewissen Widerspruch zu dem Gegenstand und den damit verbundenen Erwartungen der Leserschaft stehen könnte. Das gilt übrigens auch für den großen Raum, den gesellschaftliche und politische Überlegungen in dem Text einnehmen. Gewisse Redundanzen waren dabei offenbar nicht zu vermeiden…

Es kommt also darauf an, was man will und sucht: Wer Achtsamkeit einfach “nur” verstehen, lernen und leben möchte, findet jede Menge geeignetere Quellen. Wenn jemand mal einen ersten distanziert-kritischen Blick auf das Phänomen werfen möchte, könnte er/sie durch die Gründlichkeit und Detailliertheit der Betrachtungen ein wenig frustriert werden. Wer sich allerdings bewusst der soziologischen Perspektive zuwenden möchte oder sich selbst schon länger die Frage stellt, ob dieser Weg in die “Innerlichkeit” vielleicht mit problematischen Nebenwirkungen erkauft werden muss, findet hier einen sorgfältig und kenntnisreich vorbereiteten Boden.

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“Der Geist aus der Maschine” von Andrian KREYE

Bewertung: 5 von 5.

Dieses Buch ist ein echter Glücksfall: Das Thema, der Schreibstil, die Informationstiefe, der Unterhaltungswert, die Aktualität!
Eigentlich ist damit alles gesagt: Wer sich für die Geschichte unserer digitalen Welt interessiert – insbesondere auf dem Hintergrund des Hypes um die Künstliche Intelligenz – sollte dieses Buch lesen (oder hören).
Man versteht danach einfach viele Dinge besser!

KREYE, etablierter Journalist bei der Süddeutschen Zeitung, ist tatsächlich so etwas wie ein Zeitzeuge. Er war schon früh persönlich involviert, hat lange in den USA gearbeitet und viele relevante Digital-Pioniere persönlich kennengelernt. Auch wenn er selbst nie ein Technik-Nerd war, so kann er doch glaubhaft vermitteln, dass er mit der Geschichte der digitalen Revolution auch ein wenig die Geschichte seines eigenen Lebens erzählt. Dabei bekommen die biografischen Bezüge aber keine störende Intensität oder werden gar zur Selbstbespiegelung.

Obwohl dieses Sachbuch die Entwicklung einer Technologie beschreibt, handelt es nicht von Prozessoren, Speichermedien und Datenvolumen; mit solchem Kram hält sich KREYE nicht auf. Dem Autor geht es um die kulturelle, wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Einordnung eines historischen Phänomens, das er mit der Zähmung des Feuers, der Erfindung des Buchdrucks und der Elektrifizierung unserer Welt vergleicht. Mit kleineren Maßstäben – so ist KREYE überzeugt, wird man der aktuellen Umwälzung unseres Lebens nicht gerecht.
Statt mit technischen Superlativen um sich zu werfen, fängt KREYE sensibel den “Spirit” der verschiedenen Phasen ein, in denen entscheidende Weichen für die aktuelle KI-Revolution gestellt wurden. Dabei beginnt er in den 50-iger Jahren im Media-Lab des MIT, verfolgt die Verzahnung zwischen der alternativen Westcoast-Hippie-Bewegung mit den weitreichenden Prophezeiungen der ersten Technik-Gurus, malt den kulturellen Umbruch aus, der mit der Modernität und Technikoffenheit der Ära Clinton/Al Gore verbunden war, lässt uns an den Anfängen des Silicon-Valleys und ihrer zukünftigen Gründer-Milliardäre teilhaben, schildert die erstaunliche deutsche KI-Grundlagenforschung in den 90-igern und schafft – über den Siegeszug der Social-Media und deren sozialen und politischen Folgen – eine lückenlose Verbindung zu den Chatbots, die ab 2023 plötzlich für jeden Privatanwender verfügbar sind und so die Welt zum Staunen und zum Fürchten bringen.
Man könnte auch sagen: Der Autor versteht es, mit seiner Art, Geschichten zu erzählen, aus dem – für die meisten sowieso unverständlichen – technischen Prozessen menschliche und kulturelle Zeitgeschichte zu destillieren. So wird Technologieentwicklung lebendig und erfahrbar, eingebettet in und getragen von gesellschaftlichen Trends und Visionen.

KREYE bietet eine schier grenzenlose Fülle von Inhalten und Perspektiven, ohne jemals den gut ausgeleuchteten journalistischen Pfad zu verlassen, der Orientierung und Struktur sicherstellt. Dabei trifft er genau den Ton zwischen seriöser Sachdarstellung und unterhaltsamer Aufbereitung, der das Lesen (Hören) dieses Buches zu einem intellektuellen und emotionalen Vergnügen macht.

Und die Kritik? Natürlich könnte man manche der vorgestellten Verästelungen als zu stark ausgeschmückt empfinden (z.B. die Story über eine bekannte rechtsradikale Website oder über den Facebook-Aufstand im Arabischen Frühling). Für diejenigen, die in einem solchen Buch eher nüchterne technische Fakten suchen, die persönliche Bezüge des Autors eher als störend empfinden und die mit den Querverweisen auch zu den jeweiligen Phasen der Pop-Kultur nichts anfangen können, könnte dieses Werk tatsächlich eine suboptimale Wahl sein. Ganz sicher würden aber auch diese potentiellen Leser/innen eine Menge über ca. 70 Jahre Technik- und Zeitgeschichte lernen.

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“Die geheimste Erinnerung der Menschheit” von Mohamed Mbougar SARR

Bewertung: 3.5 von 5.

Der viel gelobte und preisgekrönte Roman des senegalesischen Autors kann zweifellos als ein gewichtiges Werk beschrieben werden: Dafür spricht sein Umfang (engbedruckte 450 Seiten), aber insbesondere die Sprachgewalt und die Leidenschaftlichkeit seines Stils.

Thematisch geht es um afrikanische Literatur im französischen Exil, noch allgemeiner um die Suche nach Wurzeln und Identität zwischen europäischer Intellektualität und ursprünglichen heimatlicher Prägungen.

Der Autor konstruiert eine tragende Rahmenhandlung, in die er alle Aspekte seiner Betrachtungen einbettet. Sie handelt – welche Überraschung – wiederum von einem senegalesischen Schriftsteller, dessen Erstlingswerk einiges literarisches Aufsehen erregt hat, dann aber wegen Plagiatsvorwürfen in Verruf und später in Vergessenheit geraten ist. Auch die Spur des Autors verliert sich im Nichts.
Der Ich-Erzähler, ein junger Schriftsteller (der Dritte im Bunde) kommt Jahrzehnte später mit dem verschwundenen Buch in Berührung und schildert ausführlich seine Erlebnisse bei dem Versuch, die ominöse und wechselhafte Geschichte von Roman und Autor aufzuklären. Nach und nach lernt er dabei die wichtigsten Bezugspersonen des Verschollenen kennen, so dass sich letztlich die verschiedenen Puzzlestücke zu einer Art Gesamtbild zusammensetzen.

Der Roman handelt zwar von diesem Plot, er lebt aber von der Vielfalt, der Intensität und der kompromisslosen Direktheit, mit denen der Alltag, das Fühlen, die Begegnungen, die Sexualität und die Selbstreflexionen der beteiligten Personen in einer manchmal atemberaubenden sprachlicher Wucht dargestellt wird.
Der unangefochtene Star bleibt dabei die Literatur selbst! Ihre Möglichkeiten und Grenzen, insbesondere im Kontext der Verbindung, der Abgrenzung, des Konfliktes zweier Kulturen wird mit einer Inbrunst diskutiert, die ihresgleichen sucht.

Wenn auch die begeisterten Kritiker-Stimmen ein eindeutiges Bild erzeugen: Der Roman ist keine einfach Lektüre; er will erobert werden. Wer sich auf diesen Feldzug einlässt, sollte Neugier, Ausdauer und Toleranz mitbringen.
Ohne ein ausgeprägtes Interesse an Bikulturalität und der Kunstform Literatur, ohne die Bereitschaft, sich auf ungewohnte, exzessive und gelegentlich auch verstörende Erfahrungen bzw. Schilderungen einzulassen, könnte auf potentielle Leser/innen durchaus eine Überforderungserfahrung warten.

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“Wer wird Milliardär?” – von Heike BUCHTER

Bewertung: 4.5 von 5.

Das Thema “Superreiche” kann aus verschiedenen Gründen Interesse wecken: So könnten z.B. eigene Fantasien und Sehnsüchte nach einem unerreichbaren “Idealleben” konkretisiert werden, man könnte Stoff für Neid- und Umverteilungsdebatten finden oder endgültig die Perversität des Kapitalismus entlarven.
Für all diese Motive – und noch viele mehr – ließe sich das Buch von Heike BUCHTER nutzen.
Das liegt aber nicht daran, dass die Autorin solche Zielsetzungen direkt bedient, sondern ist die Folge der zentralen Qualität dieser Publikation: Sie liefert eine unglaubliche Menge sehr konkreter und handfester Informationen über einen immer bedeutsameren Teil unserer Weltwirtschaft.

Man kann sich das Lesen dieses Buches wie eine erlebnisreiche Reise vorstellen: Die Autorin führt uns in verschiedene geografische Zonen, in unterschiedliche Wirtschaftsbereiche, in die Welt von Familiendynastien und Ölscheichs, zu den geradezu unermesslich reichen Tech-Pionieren des Silicon-Valleys, zu den Ölmagnaten, zu den Investmentbankern und Firmen-Jongleuren und vergisst auch nicht die so dezenten deutschen Erben privater Industrie- und Handelskonzerne. Auf diesem Trip hat man immer eine gute Orientierung: Die Reiseführerin ordnet und strukturiert; Sackgassen werden vermieden.

Statt sich in ideologischen Tiraden zu ergehen, nennt BUCHTER in bewundernswerter Konsequenz und mit faszinierender Akribie Namen, Fakten, Zusammenhänge, Hintergründe und Konsequenzen der historisch einmaligen und vom Umfang kaum fassbaren Konzentration von Reichtum in privaten Händen.
Zwar versteckt die Autorin keineswegs ihre Überzeugung, dass dieser – vielfach im Verborgenen stattfindende – Konzentrations- und Umverteilungsprozess (von unten nach oben) eine eklatante Fehlentwicklung darstellt. Aber sie muss das nicht immer wieder thematisieren: Die Tatsachen, in diesem Fall die Zahlen, sprechen für sich.

BUCHTER hält sich nicht lange mit dem obszönen Begleiterscheinungen auf – also mit der Zurschaustellung des extremen Luxus; aber auch die kurzen Einblicke (z.B. in das Geschäft mit Luxus-Yachten oder Weltraumausflügen) lassen einen ahnen, wie abgedreht diese Welt ist, wie weit entfernt von den echten Menschheitsproblemen.
Der Autorin ist es wichtiger, nachvollziehbar zu machen, dass wir hier nicht staunend einem unvermeidbaren Naturphänomen beiwohnen, sondern dass die beschriebenen Entwicklungen völlig logische Konsequenzen von sehr konkreten Entscheidungen bestimmter politischer Kreise waren und sind. All das war und ist gewollt – und hätte anders entschieden bzw. vermieden werden können.
Darüber hinaus macht BUCHTER immer wieder darauf aufmerksam, dass die Milliardäre dieser Welt nicht einfach (in perversem Umfang) reich sind: Mit dieser wirtschaftlichen Macht ist natürlich ein enormer politischer Einfluss verbunden, der – wen wundert es – auch engagiert genutzt wird.

Insgesamt ist hier ein vorbildliches Sachbuch gelungen, das in gut lesbarer, geradezu unterhaltsamer Form über einen extrem relevanten Aspekt unserer Gegenwart aufklärt. Mit dem Hintergrundwissen dieses Buches ist man jeder Diskussion über wirtschaftspolitische Grundsatzfragen gewachsen – insbesondere dem neoliberalen Gesäusel von der der “Leistung, die sich endlich wieder lohnen müsste”.
Wer nach dem Lesen dieses Buches weiterhin die Frage nach den sinnvollen Grenzen privaten Reichtums als “Neiddebatte” abtut, hat offenbar ein kognitives Problem (oder steht selbst in direkten Diensten eines Superreichen).

“Moralspektakel” von Philipp HÜBL

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Philosoph HÜBL hat vor einigen Jahren ein großartiges Buch über die emotionalen und rationalen Grundlagen der Moral geschrieben (“Die aufgeregte Gesellschaft“, 2019). Mit seinem neuen Buch bleibt er dem Thema verbunden und liefert eine kritische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen, in denen moralische Fragen dazu missbraucht werden, Anerkennung und Status zu generieren, Andersdenkende vom politischen Diskurs auszuschließen, Macht auszuüben und die gesellschaftliche Stimmung zu polarisieren.
Damit reiht sich das Buch in die aktuellen Betrachtungen zu den Phänomenen “Wokeness” und “Cancel Culture” ein – die vom Autor in den weiter gefassten Begriff “Moralspektakel” integriert werden.

Es fällt schnell auf, dass HÜBL wohl so ziemlich mit all den modernen Begrifflichkeiten vertraut ist, die man im Umfeld des moralisch aufgeladenen Diskussionsklimas vorfindet. Das ist schonmal informativ und hilfreich.
Darüber hinaus kommt es den Lesenden entgegen, dass sie einen gut strukturierten und didaktisch sorgfältig aufbereiteten Text angeboten bekommen. Obwohl er mit Hinweisen auf empirische Untersuchungen nicht geizt und einen beeindruckenden Anhang (mit Anmerkungen, Literatur-, Namens- und Sachregister) liefert, tritt der Autor nicht als nüchterner Wissenschaftler auf. HÜBL versteckt seine Position nicht, an jeder Stelle wird deutlich, dass er hier für seine Sichtweise wirbt.

In einem Einleitungskapitel legt der Autor seinen wesentlichen Gedankenlinien schon recht umfangreich dar. Das gibt den Leser/innen Orientierung, schafft aber auch die Grundlage für einige spätere Redundanzen.

HÜBL steigt ein mit einem historischen Rückblick auf die moralischen Maßstäbe und Diskussionen der letzten Jahrzehnte und beschreibt eine deutliche Verschiebung in Richtung einer zunehmender Empfindsamkeit, einer Ausweitung von Themen/Anlässen und einer gesteigerten emotionalen Aufladung. Da Gesellschaften “objektiv” eher offener und toleranter geworden seien, könne man angesichts des Klagens über Moraldefizite von einem “Moralparadox” sprechen.
Ein zweiter Blick gilt den allgemeinen Grundlagen von Ethik und Moral: HÜBL betrachtet biologische, evolutionäre, philosophische, kulturelle und psychologische Bausteine sowohl unseres Moralempfindens, als auch der Alltagsmoral. Dabei kommen auch (kognitive) Verzerrungen in Wahrnehmung und Urteilen zur Sprache, ebenso wie unsere – tief verwurzelte – Neigung, uns über Moral selbst aufzuwerten und unseren sozialen Status zu sichern bzw. zu erhöhen.
Auf soziologisch-kultureller Ebene arbeitet der Autor unterschiedliche Moralkulturen heraus: Ehrenkulturen, Würdekulturen und Opferkulturen zeigen typische Werte-Muster, die für das moralische Klima entscheidend sind. Der Autor sieht uns gerade auf einem (inzwischen übertriebenen) Weg in einer Kultur der Verletzlichkeit und Fürsorge, in der manchmal eine geradezu pathologische Sorge bestehe, selbst geringste (von den vermeintlichen Opfern selbst oft gar nicht registrierte) Benachteiligungen bestimmter Minderheiten-Gruppen zu übersehen.

HÜBL sieht in der großen Bedeutung der eigenen Moral für die Definition der Identität ein Grund dafür, dass die moralische Außendarstellung – unter Einfluss der sozialen Medien – inzwischen eine überbordende Rolle spielt. Der Wettbewerbe um Status und Einfluss wird – so ist HÜBL überzeugt – heute bevorzugt auf der Ebene der (vermeintlichen) moralischen Überlegenheit ausgetragen: sein “moralisches Kapital” zu vermehren sei heute ein zentrales Ziel für Individuen, Unternehmen und gesellschaftliche Gruppen. Dabei seien an allen Ecken Trittbrettfahrer und Etikettenschwindler zu finden; moralische Empörung und Effekthascherei machten sich insbesondere in der digitalen Welt breit. Der Drang zur perfekten moralischen Reinheit führe im Extrem zur permanenten Selbstgeißelung als Angehöriger einer privilegierten Gruppe.

In einem zweiten Teil seines Buches wendet der Autor seine Analysen auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse an: Er spricht von Opfer-Hochstablern, von links- und rechtsgerichtetem Autoritarismus, von Trollen und Narzissten, von Einschüchterungskultur und Shitstorms. Und natürlich von Wokeness, Cancel-Culture und dem Unterschied zwischen (“inklusiver”) Sprache und Realität.
Generell gilt: HÜBL mag einfach keine Moral-Überheblichkeit – insbesondere, wenn das eigene Verhalten den – oft ins Uferlose gesteigerten – Ansprüchen an andere nicht gerecht wird. Da gilt es dann, hinter dem Moralspektakel die tatsächlichen Motive und Strategien zu erkennen.

Nachdem sich der Autor noch einige Kernbegriffe des moralischen Diskurses kritisch zur Brust genommen hat, stellt er die Schwächen des Konzeptes der “Intersektionalität” (der Addition einzelner Diskriminierungsmerkmale) dar: Die hier konstruierten Opferhierarchien hielten der Realitätsüberprüfung oft nicht stand. Da fällt dann auch mal ein kritisches Wort zur wissenschaftlichen Güte gewisser Gender-Studies, zu der Bereitschaft, wissenschaftliche Standards zu relativieren, wenn damit dem “indigenen Wissen” einer kolonialisierten Kultur geschmeichelt wird und zu der Aufnahme von Wokeness-Ansprüchen in die Kriterien für wissenschaftliche Veröffentlichungen.
Von das aus ist es nicht mehr weit zu der Schlussfolgerung, dass es oft der linksliberale Mainstream mit seiner reflexhaften Toleranz auch für die Positionen radikaler Aktivisten ist, der als Gegenbewegung einen rechtskonservativen Roll-Back erzeugt.

Der anregende – und stellenweise durchaus auch leicht provokante – Text wird durch acht nachvollziehbare Vorschläge gekrönt, die dem Moralspektakel das Wasser abgraben sollen: Da geht es um Universalität, Faktenbezug, Offenheit der Diskussion und eine vernunftbezogene moralische Bescheidenheit.

HÜBL wird sich mit dieser Publikation in den progressiven Kreisen sicher nicht nur Freude/Freundinnen machen; manche seiner Statements hinterlassen sicher den ein oder anderen Kratzer. Dass er das in kauf nimmt, ist ihm hoch anzurechnen.
Die Seiten gewechselt hat der Autor mit diesem streitbaren Text nicht: Indem er die Übertreibungen bekämpft, will er letztlich die aufgeklärten, toleranten und freiheitlichen gesellschaftlichen Entwicklungen stärken und erhalten.


“Das ausgeglichene Gehirn” von Dr. Camilla NORD

Bewertung: 4.5 von 5.

Mal wieder ein Buch über das Gehirn und die Neurowissenschaft. Geht es in der Masse ähnlicher Publikationen unter? Meine Antwort lautet: “nein”!

Wir haben es hier mit einem besonderen, vielleicht sogar mutigen Projekt zu tun. Für eine Einführung in die Gehirnforschung ist die Fragestellung viel zu speziell. Für ein populärwissenschaftliches Sachbuch geht es zu sehr in die Tiefe, ins Detail. Für ein lupenreines Fachbuch ist der Schreibstil ein wenig zu persönlich, zu journalistisch. Für ein Ratgeber-Buch sind die dargestellten Zusammenhänge zu komplex und die Schlussfolgerungen bzw. Empfehlungen nicht plakativ genug.
NORD entzieht sich also mit ihrem Buch einer klaren Zuordnung – aber was sagt das über die anvisierte Zielgruppe aus? Man könnte diese wohl am ehesten in pädagogischen, psychologischen, therapeutischen oder medizinischen Fachkreisen vermuten – oder bei sehr interessierten Laien, die gerne mal unter die Oberfläche tauchen.

In ihrem Labor (in Cambridge) untersucht NORD die Interaktion zwischen Gehirn und Körper bei neuropsychiatrischen Störungen und greift dabei auf kognitive und computergestützte neurowissenschaftliche Methoden zurück.
Mit dieser Publikation verfolgt die Autorin durchaus einen weitgehenden Anspruch: Sie will die Leserschaft davon überzeugen, dass bestimmte grundlegenden neuronale Prozesse nicht nur entscheidenden Einfluss sowohl auf körperliche als auch auf psychische Störungen haben, sondern dass deren Verständnis auch die Basis für eine neue Qualität therapeutischer Interventionen bilden kann. Ihr Endziel ist dabei ein möglichst individualisiertes Vorgehen, das medikamentöse und psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweils spezifischen neurologischen Ausgangsbedingungen ausrichtet.

Man merkt dem Buch von der ersten Seite ab an, dass hier ein sorgfältig strukturiertes didaktischen Konzept verfolgt wird. NORD widmet sich zunächst den Phänomenen “Lust” und “Schmerz”, erläutert dann die Prinzipien der “Erwartungshaltung” und des “Vorhersagefehlers” und kommt dann auf den Aspekt “Motivation/Antrieb” zu sprechen.
Dahinter steht der Grundgedanke, dass die Fähigkeit, angenehme Zustände anstreben (und Schmerz regulieren) zu können ein Fundament für psychische Gesundheit darstellt – und dass dabei immer eine Verzahnung von physiologischen und kognitiven Aspekten eine Rolle spielt.
NORD führt uns in das komplexe Zusammenspiel der Neurochemikalien ein und demonstriert insbesondere am Beispiel der Depression das Ineinandergreifen von Körper, Gehirn, Kognition und Psyche, das bei verschiedenen Menschen zu ganz unterschiedlichen “Schaltkreisen” (z.B. im Lern- und Belohnungssystem) führen kann – und damit auch zu einer unterschiedlichen Wirksamkeit von Therapien.
In einem eigenen Kapitel über Antidepressiva wird hierzu detailliertes und fundiertes Wissen geliefert.

Die zentrale Bedeutung von Erwartungen für Gesundheit und Wohlbefinden wird im Kapitel über die Placebo-Wirkung weiter vertieft. NORD ist überzeugt, dass ohne die Veränderung von konkreten Erwartungen und allgemeinen Glaubenssätzen/Weltsichten keine Heilung psychischer Störungen möglich ist. Dabei ist für sie letztlich zweitrangig, ob die entscheidende Veränderung durch Medikamente, Elektrostimulation, Psychedelika oder kognitive Verhaltenstherapie herbeigeführt werden (am besten wäre immer eine Kombination).
NORD geht so weit, dass sie nicht nur die Grenzen zwischen den Einflussfaktoren ebnet, sondern auch die klare Trennung zwischen den gängigen Störungsbildern in Frage stellt. Sie ist mehr an den konkreten beteiligten Regulationskreisen und ihrer Beeinflussbarkeit interessiert als an klassischen Diagnosekriterien.

Mit den Spezialkapiteln über klassische und moderne Elektrostimulation, über den Einsatz psychedelischer Drogen und die Bedeutung von Lebensstil (Bewegung/Ernährung) löst NORD endgültig den Anspruch ein, einen aktuellen und anregenden Überblick über den Zusammenhang zwischen Neurowissenschaft und psychischer Gesundheit vorzulegen.
Sympathisch ist dabei, dass NORD durchweg vorsichtig und differenziert argumentiert: Immer wieder warnt sie vor zu schnellen und einseitigen Schlussfolgerungen, mahnt Zurückhaltung und weitere Forschung an. Hier möchte niemand den Stein der Weisen verkünden, hier wird kein neuer Therapieansatz gehypt.
NORD stellt eine spezielle Sichtweise vor, durch die sich die Frage nach dem Vorrang von Psyche und Gehirn endgültig erledigt. Sie zeigt eher eine vielversprechende Forschungsperspektive vor als eine fertige Lösung: “Science in progress”!
Ein bisschen Selbsthilfe ist dann am Ende doch dabei – aber auch das geht sympathisch unaufgeregt und abgewogen vonstatten.

Nein – dieses Buch geht nicht in der Masse der Gehirn-Erklärungs-Werke unter.
Es ist ein mutiges und aufklärerisches Buch, weil es in die Tiefe geht, aber letztlich einfache bzw. endgültige Antworten vorenthält.

“Demokratie und Revolution” von Hedwig RICHTER und Bernd ULRICH

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Titel dieses Buches ist unglücklich gewählt: Zwar erschließt sich der Sinn des plakativen Haupttitels im Laufe des Lesens, er ist aber kaum geeignet, einen ersten einladenden Hinweis auf die auf Inhalt oder Zielsetzung zu geben. Der Untertitel verrät zwar ein bisschen mehr – seltsamer Weise wird aber der – eigentlich pfiffige – Bezug zur KANTschen Definition von Aufklärung im Text nicht aufgegriffen. Irgendwie schade!
Davon abgesehen haben wir es hier aber mit einem brandaktuellen und hochrelevanten Sachbuch zu tun, das viele Stärken und kaum Schwächen aufweist.

Das Autorenbündnis zwischen der Historikerin RICHTER und dem bekannten ZEIT-Journalisten ULRICH hat einen Text hervorgebracht, der sowohl eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung der Umwelt- und Klimapolitik der letzten 50 Jahre beinhaltet, als auch interessante, kreative und anregende Interpretatios-Schablonen zur gesellschaftlichen Einordnung der zugrundeliegenden Prozesse anbietet.
Beide kompetent und verständlich ausgearbeiteten Perspektiven sind darauf gerichtet, etwas zu erklären, das die Autoren mit tiefster Überzeugung nicht nur als “eigentlich” völlig unfassbar, sondern auch als extrem bedrohlich empfinden: Wie kann es sein, dass einer gut informierten und mit allen notwendigen Ressourcen ausgestatteten Gesellschaft die notwendigen Schritte zur Transformation in eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise nicht gelingt? Und wie konnte es passieren, dass ausgerechnet im heißesten jemals gemessenen Jahr 2023 der Klimaschutz in Deutschland zu einem Looser-Thema verkam?

Wenn man sich auch nur halbwegs mit den Zielen des Klima- und Artenschutzes identifiziert, kommt man beim Lesen dieses Buches aus dem zustimmenden Nicken kaum mehr heraus. Es tut wirklich sehr gut, in Zeiten des Zauderns, des Ablenkens, des Verleugnens und der gezielten Desinformation so eine riesige Portion Klartext geschenkt zu bekommen. Endlich wird der politischen und medialen Klimawende-Ignoranz – insbesondere des letzten Jahres – mal etwas potentiell Wirkmächtiges entgegengesetzt: Daten, Analysen, Erklärungen, Vorschläge. Es wurde auch Zeit – angesichts eines Roll-Backs der Klimapolitik, die im krassen Gegensatz zu den beobachtbaren Entwicklungen steht.

Die Autoren sind keine Klima-Aktivisten: Sie scheuen zwar nicht, auch die Dramatik der Situation zu benennen – ihr genuiner Beitrag liegt aber in der soziologischen, psychologischen und politischen Feinanalyse: Sie sezieren Stimmungen, Abwehrmechanismen, Selbstbetrug und Einflussnahmen. Verstehen soll die Leserschaft nicht nur gesellschaftliche Prozesse, sondern auch eigene kognitive und emotionale Dynamiken.

Das Buch deckt ein enormes Spektrum an Betrachtungsebenen ab: Es reicht von dem – sehr konkreten, an ethischen Standards orientierten – Umgang mit unseren tierischen Mitgeschöpfen bis zur historisch-politischen Bewertung von reformerischen und revolutionären gesellschaftlichen Entwicklungen.
Das Ganze findet auf einem sprachlichen Niveau statt, das hinsichtlich der Verständlichkeit wissenschaftsjournalistischen Ansprüchen gerecht wird, dieses Buch aber nicht zu einer entspannten Nebenbei-Lektüre Lektüre macht. Immer wieder gelingen den Autoren sprachliche Leckerbissen – wenn sie z.B. die Politik unseres Verkehrsminister so beschreiben. “…im vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem scrollenden und klickenden Bürger.”

Man spürt, dass die Autoren im Bereich der Tierethik und des Fleischkonsums eine nochmal gesteigerte persönliche Beteiligung in sich tragen. Das entsprechende Kapitel kratzt – trotz aller Faktenorientierung – gelegentlich etwas an der Grenze zur Missionierung. Das wird nicht jedem/jeder gefallen.
Insgesamt setzt dieses Buch die Bereitschaft voraus, sich auf die unterschiedlichen Perspektiven und Abstraktionsebenen einzulassen – die Belohnung dafür ist ein Füllhorn von Beobachtungen, Fakten, Interpretationen, Ideen und konkreten Vorschlägen.

RICHTER und ULRICH bleiben nicht in der Bestandsaufnahme stecken. Die letzten 25 Seiten sind der “Zukunft” gewidmet und enthalten einen Apell an uns alle (vordringlich an die Wohlhabenden, Reichen und Gebildeten): Wir sollten die Potentiale der Demokratie endlich (wieder) ernst nehmen, statt uns auf der vermeintlichen Trägheit des Systems auszuruhen. Wir sollten – entsprechend den Notwendigkeiten – einen revolutionären ökologischen Aufbruch innerhalb der Demokratie wagen. Das Motiv dafür sollte weder aus der (falschen) Annahme einer Zumutungsfreiheit, noch aus dem (langfristigen) wirtschaftlichen Eigennutz abgeleitet werden. Wir sollten einfach nicht die Menschen sein wollen, die aus egoistischer Bequemlichkeit in die Katastrophe steuern und vor allem die Lebenschancen zukünftiger Generationen verspielen. Wir sollten uns und unsere Mitmenschen für befähigt halten, mit Disziplin und Realitätssinn an die große Menschheitsanforderung der ökologischen Transformation heranzutreten.

Ein kluges, facettenreiches und engagiertes Buch zur rechten Zeit – damit nicht Ignoranz, Zynismus oder Resignation den Sieg davontragen. Mal wieder wünscht man sich, dass es Pflichtlektüre für unsere Entscheider/innen wäre.
Ein erfrischendes und lange überfälliges Plädoyer für die Bedeutung von moralischen Maßstäben und eines prinzipiengesteuerten Selbstbildes bei individuellen und gesellschaftlichen Grundsatzentscheidungen.

“Woke – Psychologie eines Kulturkampfes” von Esther BOCKWYT

Bewertung: 4 von 5.

Wokeness ist nicht nur als kulturelles Phänomen im Trend, sondern hat sich inzwischen auch als Thema im aktuellen Sachbuch-Markt etabliert. Inzwischen überwiegen die kritischen Perspektiven, die oft mit massiven Warnungen vor den gesellschaftlichen Folgen eines ungebremsten Woke-Aktivismus verbunden sind.
Wenn sich eine Autorin eine psychologische Betrachtung der Wokeness-Bewegung auf die Fahnen schreibt, lässt das aufhorchen: verspricht dies doch eine zusätzliche Analyseebenen, also eine Art Meta-Perspektive auf die zugrundeliegenden Dynamiken.
Kann BOCKWYT diese Erwartung erfüllen?

Auf der quantitativen Ebene überrascht zunächst die starke Gewichtung des Darstellungs-Teils. Es wird in diesem Buch keinerlei Wissen über die verschiedenen Facetten des Gegenstandes vorausgesetzt – im Gegenteil: Ca. die Hälfte des Textes wird darauf verwendet, die Entstehung, die weltanschaulichen Grundlagen, die Einzelbereiche und die Ausdrucksformen von “Woke-Sein” ausführlich und differenziert zu beschreiben. Dabei geht die Autorin so weit ins Detail, dass man ohne Zögern von einer substanziellen Einführung in die Thematik sprechen kann; inhaltliche Fragen bleiben da – z.B. in dem extrem informativen Kapitel über Sex und Gender – nicht offen.

BOCKWYT macht keinen Versuch, den Gegenstand ihrer psychologischen Untersuchung zunächst wertungsfrei darzustellen. Vielmehr wird von Anfang an deutlich, dass die Autorin zu den Kritikern und Gegnern eines raumgreifenden Woke-Aktivismus gehört. Ihr Anliegen, den zugrundeliegenden psychischen Mechanismen auf die Spur zu kommen, findet daher nicht in einem wissenschaftlich-neutralen Kontext statt, sondern ist letztlich ein Teil des Versuches, den beobachteten Folgen und Gefahren entgegenzuwirken. Diese sieht die Autorin insbesondere in der kulturellen Spaltung der westlichen Gesellschaften, die durch eine Beschränkung von Denk- und Redefreiheit, extreme und totalitäre Tendenzen in der Bewegung und der aktiven Ausgrenzen und “Canceln” Andersdenkender entstanden ist bzw. weiter droht.
BOCHWYT weist wiederholt darauf hin, dass ihre Kritik und ihre Warnungen keineswegs den ursprünglichen, grundlegenden Zielen einer Bewegung gilt, die sich dem Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus und für Toleranz und Vielfalt verschrieben hat.

Unterscheidet sich dieser Text bis hierhin nicht prinzipiell von ähnlichen Publikationen, kommt jetzt mit der psychologischen Analyse ein Alleinstellungsmerkmal ins Spiel. Gefragt wird: Was treibt die Wokeness-Kämpfer/innen innerlich an? Was führt vielleicht auch zu den Übertreibungen bzw. Auswüchsen in Sichtweisen und Verhalten?
Die spannendste Frage ist dabei wohl: Gibt es spezifische emotionale oder psychodynamische Muster, die man als typisch für die Persönlichkeit besonders engagierter Wokeness-Protagonisten ansehen kann – oder trifft man eher auf allgemeine Faktoren, die sich letztlich auf jede Form von radikalem Engagement anwenden ließe?

BOCKWYTs psychologische Analyse setzt sich mit den Aspekten Narzissmus (insbesondere im Sinne einer extremen Kränkbarkeit), Zwanghaftigkeit (gestrenges Über-Ich), Aggressivität (Lust an der Zerstörung), Negativverzerrung (kognitiver Fehlschluss), histrionische Begeisterung (unreife Überschwänglichkeit) und mit gruppenpsychologischen Dynamiken (Gruppendenken, Radikalisierung) auseinander.
Grundlage für ihre Betrachtungen sind dabei keine (sozial)psychologischen Forschungsbefunde, also etwa vergleichende Studien zwischen mehr oder wenigen woken Personengruppen. Vielmehr schöpft die Autorin aus einem breiten Fundus an – oft unspezifischen – Erkenntnissen und Theorien, die sie per Analogieschluss auf die woke Bewegung anwendet. Dabei reicht das Spektrum von philosophisch-soziologisch fundierten Thesen, über die Sozialpsychologie, die kognitive Verhaltenstherapie bis zur Psychoanalyse.
Das Ergebnis ist ein – aus ihrer Sicht – typisches Muster von Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Denkstrukturen, die sich als Haltungen und Handlungen woker Menschen manifestieren. Vieles davon ist unmittelbar plausibel, manches wirkt auch ein wenig konstruiert. Anregend ist es auf jeden Fall.

Das Buch ist in einem gut verständlichen, journalistisch-orientierten Sachbuch-Stil gehalten. Es setzt keine spezifischen Fachkenntnisse, wohl aber eine Bereitschaft und Fähigkeit zur konzentrierten Themen-Fokussierung voraus.
Ohne Zweifel hat es einen Preis, dass BOCKWYTs Buch in einem insgesamt parteilich-kämpferischen Stil verfasst ist. So entsteht unvermeidlich der Eindruck, dass die wissenschaftlichen Betrachtungen so ausgewählt und gemixt wurden, wie es der inhaltlichen Mission der Autorin dient. Das macht ihre Aussagen nicht falsch oder wertlos; das Vermeiden der ein oder anderen Zuspitzung hätte aber der Glaubwürdigkeit doch gut getan.
Andererseits gibt es Stellen im Text, in denen sich BOCKWYT ganz explizit einer Überwindung von Gräben widmet – insbesondere in dem versöhnlichen Schlusskapitel.

Fassen wir zusammen:
Dieses Buch bietet zunächst eine sehr informative und breite Darstellung des Phänomens “Wokeness” – getragen von einer kritischen Grundhaltung gegenüber den (nicht bestreitbaren) Auswüchsen dieser kulturellen Bewegung. Der Versuch, zugrundeliegende Motive, Denkmuster und psychodynamische Prozesse psychologisch-wissenschaftlich zu analysieren, bietet viel Stoff für vertieftes Nachdenken und (kontroverses) Diskutieren. Allerdings handelt es sich eher um eine suchende, hypothetische Sammlung von erklärenden Facetten als um eine – oder gar die – “Psychologie eines Kulturkampfes”. Auch wenn es spannende Hinweise auf typische woke Muster gibt: Die diskutierten emotionalen und kognitiven Muster und deren Potenzierung in Dynamiken von Gruppenbildung lassen sich ganz überwiegend auf jede Gruppierung anwenden, die sich leidenschaftlich einem Thema verschrieben hat.
Als generelle Erkenntnis kommt rüber: Auch die erstrebenswertesten und edelsten Ziele (z.B. der Schutz von Minderheiten) geben Raum und Gelegenheit für das Ausagieren von menschlichen Grundbedürfnisse (wie z.B. Selbsterhöhung, Wutregulation, Aggression, Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit). Das gilt sowohl für gemäßigte, als auch für übersteigerte Intensitäten solcher – vom Prinzip her sinnvoller – Tendenzen.
Sich individuell und gesellschaftlich gegen maßlose Forderungen und Reglementierungen zu Wehr zu setzen – auch dazu ermutigt dieses Buch. Der stellenweise etwas kämpferische Ton wird nicht allen gefallen, schmälert aber nicht den Informationswert.