“Wie wir werden, wer wir sind” von Joachim BAUER

Bewertung: 3.5 von 5.

Das Buch hat bei mir widersprüchliche Reaktionen ausgelöst. Das liegt daran, dass es gleichzeitig informativ und wichtig ist, auf der anderen Seite aber auch etwas irritiert.

Die Zielsetzung des Autors ist nicht nur lohnenswert, sondern wird mit diesem Schachbuch auch tatsächlich auch eingelöst: Dem Mediziner, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut BAUER, der sowohl praktisch als auch in der Lehre in prägenden Funktionen tätig war, gelingt es ohne Zweifel hervorragend, einem interessierten Laienpublikum die existentielle Bedeutung sozialer Interaktion als Grundlage für die menschliche Selbst-Entwicklung zu vermitteln.
Er tut dies in einer gut verständlichen Sprache, in der gleichzeitig detaillierte Information und die Botschaft des Autors Raum finden. BAUER hat ein Buch verfasst, das sich an ein breiteres Sachbuchpublikum wendet, ohne sich aber eines typisch wissenschaftsjournalistischen Schreibstils zu bedienen.

BAUER analysiert und schildert die die Prozesse von Spiegelung, Resonanz, feinfühliger Begleitung und externer Regulation von Erregung und Emotion auf der einen Seite mit einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Akribie. Er zeigt sich dabei aber keineswegs als neutraler Beobachter bzw. Protokollant der komplexen Interaktion zwischen Säugling/Kelinkind und seinen Bezugspersonen. Vielmehr wird – gefühlt – in jedem zweiten Satz deutlich, welche Bedeutung dieses Geschehen für den Autor auch ganz persönlich hat: Er scheint geradezu erfüllt zu sein von diesem Geschehen; man spürt das die Vermittlung seiner Erkenntnisse für ihn den Charakter einer Mission hat.
Die grundlegenden Prozesse werden dabei – durchaus wortgewandt und plastisch – so häufig dargestellt, dass sich alsbald eine gewisse Redundanz einstellt.

Eine Spur “Überengagement” wird auch in der Tendenz zu gefühlsgeladenen Formulierungen deutlich. Die Abgrenzung zu theoretischen oder therapeutischen Ansätzen, die der Autor als nicht kindzentriert genug beurteilt, fällt extrem harsch aus.
(So wird dem – eindeutig humanistisch orientierten – Evolutionsforscher DAWKINS gleich eine Neigung zur schwarzen Pädagogik unterstellt, nur weil dieser von “egoistischen” Motiven bei kleinen Kindern spricht).

Problematischer ist jedoch ein anderer Punkt: Während die von BAUER benutzte zentrale Begrifflichkeit von dem “Selbst” bzw. dem “Selbstsystem” zunächst als hilfreich für das Verständnis erlebt werden kann, bekommt diese Bezeichnung im Laufe des Textes ein deutlich überzogenes Eigenleben. BAUER formuliert immer wieder so, als ob dieses “Selbst” eine irgendwie selbständige Instanz wäre, die mit anderen Bereichen des Körpers und des Gehirns in einem Austausch stände. Diese Sichtweise erinnert ein wenig an die psychoanalytischen Konzepte vom ES oder ÜBER-ICH, bei denen oft vergessen wurde, dass es sich nicht um reale Entitäten, sondern um sprachliche Konzepte bzw. Metaphern handelte. Vermutlich ist es in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass BAUER tatsächlich auch psychodynamisch ausgebildet ist.

So ergibt sich insgesamt ein etwas zwiespältiges Bild: Da ist auf der einen Seite ein überzeugendes Buch, das auf der Basis zahlreicher wissenschaftlicher Belege und mit großem und authentischen Engagement dafür wirbt, Kindern in den ersten Lebensjahren genau die intensiven und feinfühligen sozialen Erfahrungen zu ermöglichen, die diese für die Entwicklung einer gesunden, gemeinschaftsfähigen und selbstbewussten Persönlichkeit existenziell benötigen.
Und da gibt es die Stellen, in der der Autor über das Ziel hinausschießt und Gegner dort sieht, wo es vielleicht nur um ergänzende Perspektiven geht. Und BAUER ist so identifiziert mit seiner sozialen Selbst-Theorie, dass er letztlich sein neurowissenschaftliches Basiswissen aus den Augen verliert: Das Selbst ist nämlich kein eigenständiger Akteur, der irgendwie mit eigener Motivation auf das Gehirn einwirken könnte. Das Selbst ist ein unscharfer Begriff für bestimmte Funktionen und Prozesse, die durch die kombinierte Aktivierung bestimmter neuronaler Netzwerke in bestimmten Hirnarealen gebildet wird.
Man kann das natürlich sprachlich vereinfachen, und muss das vermutlich auch. Nur sollte man zumindest einmal auf diesen Umstand hinweisen.

Unabhängig von dieser kleinen Einschränkung: Die Botschaft des Buches ist wichtig – und sie kommt an!

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