
Der bekannte britische Autor ist für psychologisch ausgefeilte Geschichten bekannt, die sich oft die Grenzen von gesellschaftlichen und moralischen Fragestellungen heranwagen. Es werden dabei immer wieder in kreativer und mutiger Form Entwicklungen zu ende gedacht und es wird dabei gerne auch an üblichen Tabugrenzen gerüttelt.
Mit dem aktuellen Roman nimmt McEwan eine extrem ungewöhnliche Perspektive ein:
Er schaut aus dem Jahre 2119 auf unsere (gegenwärtige) Epoche zurück und betrachtet eine private Episode aus dem britischen Künstlermilieu mit einer Akribie, die noch über Detailverliebtheit hinausgeht: Es ist Detailversessenheit!
Der Autor schafft dafür eine Rahmenhandlung, in der der junge Literaturwissenschaftler Thomas Metcalfe aus 200jährigen Distanz das Schaffen des Dichters Francis Blundy erforscht. Insbesondere geht es dabei um ein verschollenes und mythenumwobenes Gedicht, das der berühmte Poet seine Frau Vivien gewidmet und geschenkt hat.
In diesem Zusammenhang führt die Auswertung von Archivmaterial (insbesondere von Tagebucheinträgen und Briefen) dazu, dass nicht nur einzelne Begebenheiten rund um das Gedicht minutiös rekonstruiert werden, sondern auch sehr intime Beziehungsgeschichten des Künstlerehepaares ans Tageslicht kommen.
Die Stärke dieses Romans liegt für mich eindeutig in seiner Perspektive: Die Entscheidung, eine zerstörte Zukunft auf unsere Gegenwart zurückblicken zu lassen, eröffnet einen ungewohnten Blick auf das Hier und Jetzt. Die Archivsuche in der Rahmenhandlung, die Rekonstruktion einer fast „mythischen“ Vergangenheit und die Frage, was von unserem Leben, unseren Debatten und Eitelkeiten überhaupt bleibt, ist konzeptionell reizvoll. Gerade diese Metaebene – wie sich Geschichte über Dokumente, Fragmente und blinde Flecken erzählt – sorgt zunächst für ein hohes Maß an intellektueller Faszination.
Gleichzeitig ist genau hier das Problem: Die Materialfülle, mit der der Roman seine Figuren, ihre Biografien, die literarischen Bezüge und vor allem den berühmten Sonettenkranz ausleuchtet, wirkt zunehmend erdrückend. Was anfangs wie eine detailreiche, lustvoll komponierte Textwelt beginnt, kippt im Verlauf in eine beinahe groteske Konzentration auf Einzelheiten. Man fragt sich als Leser: Wozu diese Überfülle? Was ist der übergeordnete Sinn all dieser minutiös ausgeleuchteten Szenen und Informationen – außer der demonstrativen Gelehrsamkeit der Konstruktion selbst?
Besonders interessant ist die Zeichnung des intellektuell-künstlerischen Milieus, in dem sich die zentrale Figurenkonstellation bewegt. Die Liebesaffären, heimlichen Neigungen und Parallelleben werden nicht als bloß oberflächliche Eskapaden geschildert, sondern als ernsthafte, teils geistig grundierte Beziehungen. Zugleich bleibt dieses Milieu deutlich vom „normalen Leben“ abgehoben: eine Oberschicht aus Dichtern, Intellektuellen und Kunstschaffenden, die sehr mit sich selbst, ihren Projekten und Befindlichkeiten beschäftigt ist. Der Dichter Francis erscheint dabei als narzisstische Figur, die sich und ihre Kunst zum Zentrum der Welt erklärt – eine Figur, die ebenso kritisch wie glaubwürdig gezeichnet ist, zugleich aber den Eindruck verstärkt, dass sich der Roman sehr stark um sich selbst und seine eigene Künstlichkeit dreht.
Die politische und ökologische Dimension ist klar markiert: Die erzählte Zukunft ist das Resultat mehrfacher Katastrophen – Klimadesaster, Kriege, ein begrenzter Atomschlag –, und die Zivilisation erreicht nie wieder den Stand unserer Gegenwart. Dass Francis als naiver, ignoranten Klimawandelleugner inszeniert wird, ist dabei kaum subtil: Hier wird deutlich, wie sehr dem Text die drohende Klimakatastrophe als moralischer und politischer Bezugspunkt am Herzen liegt. Der Konflikt zwischen ihm und seiner Frau Vivien erhält dadurch eine zusätzliche Schärfe: Es prallen nicht nur Charaktere, sondern auch Haltungen zur Realität, Verantwortung und Zukunft aufeinander.
Erzählerisch ist der späte Perspektivwechsel hin zu Vivien einer der interessantesten Züge des Buches. Wenn ihre Aufzeichnungen auftauchen und der Leser die Ereignisse noch einmal aus ihrem Blickwinkel erlebt, entsteht ein produktiver Kontrapunkt zur vorher stark auf Francis fokussierten Darstellung. Plötzlich verschiebt sich der Fokus, die vermeintlichen Gewissheiten werden relativiert, und man ahnt, wie brüchig das ist, „was wir wissen können“. Umso bedauerlicher ist, dass diese neue Perspektive in der Rahmenhandlung nicht wirklich weiterverarbeitet wird und der Roman in einem relativ abrupten Schluss endet, der eher Ratlosigkeit erzeugt als einen starken, nachhallenden Schlusspunkt.
Im letzten Teil, in dem die Erzählung zunehmend in Richtung einer Kriminalgeschichte kippt, verstärkt sich der Eindruck einer gewissen Unwucht: Die Mischung aus dystopischer Zukunftsvision, Milieustudie der intellektuellen Oberschicht, Liebesgeschichte(n), poetologischem Spiel um den Sonettenkranz und Krimimomenten bleibt zwar originell, aber nicht wirklich aus einem Guss. Zurück bleibt ein Leseeindruck, der zwischen Bewunderung für die Konstruktion und Ermüdung durch die Detailversessenheit schwankt. Die kreative Anlage, die ungewöhnliche Perspektive und die thematische Ambition sind unbestreitbar; doch der Roman wirkt in seiner Gesamtdramaturgie unfertig und unrund.
Fazit: Was wir wissen können ist ein anspruchsvoller, ideenreicher Roman, der Leserinnen und Leser anspricht, die Lust auf komplexe Erzählarchitekturen, literarische Spiegelungen und ein stark intellektualisiertes Milieu haben – und die bereit sind, sich durch eine sehr hohe Dichte an Informationen zu arbeiten. Wer hingegen eine klar fokussierte, erzählerisch geschlossene Geschichte erwartet, wird sich von der Detailfülle, der Überpräsenz des Sonettenkranzes und dem abrupt wirkenden Schluss eher überfordert und ein wenig unbefriedigt zurückgelassen fühlen.
(Transparenzhinweis: Der Bewertungsteil der Rezension wurde auf der Grundlage eines diktierten Basistextes mit Hilfe einer KI ausformuliert).
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