“Geschenkt” von Daniel GLATTAUER

Bewertung: 4 von 5.

Erzählt wir d eine nette, angeblich auf Tatsachen basierende Geschichte aus Wien, in der es um anonyme Geldzuwendungen an bedürftige Einzelpersonen oder wohltätige Initiativen geht, die sich gerade einer finanzieller Notlage ausgesetzt sehen.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein halb-gescheiterter Journalist (Gerold Plassek) mit einer gewissen Neigung zum Alkohol; er führt uns als Ich-Erzähler durch die Handlung.

Angereichert wird das Rätsel um die absenderlosen Wohltaten mit den familiären und beziehungsmäßigen Entwicklungen des Protagonisten, der sich zu Beginn der Story plötzlich in der Betreuungsverantwortung für den jugendlichen Sohn seiner Ex-Frau wiederfindet.
Die beiden Handlungsfäden sind eng miteinander verflochten und befruchten sich sozusagen gegenseitig.

Man bekommt ein bisschen mit aus der Welt des mehr oder weniger seriösen Journalismus. Eindeutig im Vordergrund steht aber die persönliche Erlebenswelt von Gerold, der durch das private und berufliche Geschehen ziemlich durcheinandergeschüttelt wird . In sofern handelt es sich um um so etwas wie einen (verspäteten) , der in Entwicklungsroman.

Das Ganze liest sich locker und flüssig, Vom Stil und Anspruch her handelt es sich um eine (selbst)ironische Urlaubslektüre- mit einem gewissen thematischen Tiefgang. Die Geschichte ist bzgl. des Spannungsbogens intelligent aufgebaut. Die vermittelten Botschaften sind allesamt menschenfreundlicher Natur.
Nervig sind – insbesondere in der ersten Hälfte des Romans – die immer wiederkehrenden Schilderungen kleiner oder größerer Trinkgelage mit einigen Kumpels, die er scheinbar zu jeder beliebigen Zeit in seiner Stammkneipe antrifft.

So richtig etwas falsch machen kann man mit diesem Roman (Baujahr 2014) eigentlich nichts. Stimmung und Botschaft sind insgesamt optimistisch und aufbauend. GLATTAUER ist ein Buch gelungen, das anregend und intelligent unterhält.

“Die spürst du nicht” von Daniel GLATTAUER

Bewertung: 4 von 5.

Der aktuelle Roman des Wiener Journalisten und Autors GLATTAUER wirft ein sehr individuell gesetztes Licht auf die Situation von geflüchteten Migranten, die zwar in einem Wohlstands-Land (in dem Fall Österreich) gestrandet sind, die aber im gesellschaftlichen und privaten Leben nahezu unsichtbar bleiben.

Der Plot schafft einen entlarvenden Kontrast zwischen der etablierten akademischen Mittelschichts-Welt zweier einheimischer Familien und der prekären Lebenssituation einer von zahlreichen Schicksalsschlägen gebeutelten somalischen Flüchtlingsfamilie.
In einen Toskana-Urlaub darf die 14-jährige Tochter(Sophie Luise) der Hauptfigur (einer einer GRÜNEN-Politikerin) ihre somalische Mitschülerin mitnehmen; diese kommt dabei unter uneindeutigen Umständen ums Leben.
Der Roman beschäftigt sich mit den emotionalen bzw. moralischen Konflikten und den medialen, juristischen und politischen Folgen, die mit der Bewältigung dieser Situation für die Politikerin und ihre Familie verbunden sind.

GLATTAUER zeichnet nicht nur ein weitgehend stimmiges (wenn auch überzeichnetes) Psychogramm der beteiligten Personen (insbesondere der beiden Ehepaare, die gemeinsam in der Toskana waren), sondern lässt parallel den Wahnsinn der (sozialen) Medien in sein Buch einsickern: Auf jede Pressemeldung zum Fortgang der Ermittlungen wird eine Serie typischer Online-Kommentare und darauf bezogene Erwiderungen eingearbeitet: das pralle Social-Media-Leben in Bestform.
Auch der juristischen Aufarbeitung des Falles schenkt GLATTAUER seine Aufmerksamkeit – in Gestalt eines Kampfes zwischen David (einem Looser-Anwalt) und Goliath (einem unsympathischen Staranwalt).

Ein separater Handlungsfaden spinnt sich um die Sophie Luise, die sich in ihrem emotionalen Ausnahmezustand in einen mysteriösen Chat-Partner verliebt. Sie gerät in einen Strudel, in dem auch Drogen eine Rolle spielen. Querverbindungen zum Hauptthema des Buches sind nicht ausgeschlossen…

Ohne Zweifel wirkt die Geschichte ein wenig konstruiert; auch der moralistische Zeigefinger ist hin und wieder deutlich sichtbar. Die Nebenhandlung zwischen Tochter und ihrem “Freund” lässt die ein oder andere Frage unbeantwortet.
Trotzdem bietet der Roman eine Menge Stoff zum Mitfühlen und Mitdenken. Er analysiert sehr klar die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit einer moralischen Herausforderung und legt wirkungsvoll und gekonnt den Finger in eine gesellschaftliche Wunde: Geflüchtete Menschen leben zwar unter uns, haben aber in den eingespielten Abläufen unseres Alltags und unserer Medien so gut wie keine eigene Stimme.

Ein lesenswerter Roman, der intelligente und tiefgründige Unterhaltung liefert.

“Demokratie im Feuer” von Jonas SCHAIBLE

Bewertung: 5 von 5.

Der SPIEGEL-Redakteur Jonas SCHAIBLE geht in diesem Buch den entscheidenden Schritt weiter. Er legt ein Klimabuch vor, das nicht bei der Beschreibung des Klima-Notstandes und dem Beklagen der unzureichenden Maßnahmen stehen bleibt. Er zeigt auf, dass und wie sich unsere Demokratie verändern müsste, um den unvermeidbaren und weitreichenden Herausforderungen gerecht werden zu können.

SCHAIBLE legt sich zunächst mächtig ins Zeug, um die Dramatik der Situation klar und unmissverständlich zu beschreiben. Dabei analysiert er nicht nur die – inzwischen allseits bekannte – Klimadynamik selbst, sondern beleuchtet auch die unausweichlichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen (in Bezug auf Lieferketten, Energiesicherheit, Nahrungsmittelversorgung und Klimaflüchtlingsströmen). Doch damit nicht genug: Denkt man nämlich – wie der Autor – weiter, dann könnte auch die politische Stabilität unseres Gemeinwesens sehr schnell auf dem Spiel stehen. Der Rechtspopulismus mit seinen vermeintlich einfachen Antworten durch vermeintlich starke Führer lässt grüßen.

SCHAIBLE liegt unser demokratisches System sehr am Herzen. Er weist daher selbst angesichts der Dringlichkeit der Aufgabe und des bisherigen politischen Versagens den Gedanken (bzw. die zunehmend hörbare Forderung) zurück, einen autokratischen Weg einzuschlagen. Dieser Lösungsweg wäre ja alles andere als abwegig: Angesichts eines in weiten Teilen unbewohnbar werdenden Planeten bliebe letztlich kaum eine andere Wahl, als die effektivsten Mittel einzusetzen (weil irgendwann rein objektiv der Zweck die Mittel heiligen würde).
Doch der Autor bleibt standhaft: Er vertraut den inneren Kräften der Demokratie und misstraut den vermeintlich effizienteren autokratischen Strukturen.

Und jetzt wird es richtig spannend: Denn für SCHAIBLE ist eindeutig klar, dass sich unsere Demokratie verändern und an die aktuellen Herausforderungen anpassen muss. Ein neuer Freiheitsbegriff muss her: Es muss darum gehen, durch massives und rasches Handeln die zukünftigen Freiheitsräume zu sichern (statt an einem überholten, rein individualistischen Freiheitskonzept festzuhalten). Die Klimapolitik – so fordert er weiter – muss durch entsprechende Gesetze (mit Verfassungsrang) und geschützt durch unabhängige Institutionen (z.B. nach dem Modell der Zentralbanken) aus dem politischen Tagesgeschäft mit seinen Stimmungsschwankungen und Wahlkampfgetöse herausgenommen werden.
Der demokratische Streit kann und darf nur noch die Umsetzungsfragen betreffen – sonst läuft uns die Zeit davon und wir verlieren die Demokratie noch sehr viel grundsätzlicher.

Wenn man das alles liest, reibt man sich die Augen: Es wirkt so, als habe SCHAIBLE die z.T. groteske Diskussionen um die Wärmewende im Frühsommer 2023 vorausgesehen. Da wird im politischen Raum und in den Medien ganz bewusst eine Stimmung erzeugt und genutzt, die den mühsam aufgebauten gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der Klimaziele schwächen soll – nur um daraus kurzfristig parteipolitisches (und wirtschaftliches) Kapital zu schlagen. Genau diese Schwäche der Demokratie hat SCHAIBLE in diesem Buch im Blick; genau dafür macht er praktikable Vorschläge.
Es fragt sich nur, ob unsere demokratische Kultur die Kraft aufbringt, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn auf ein bisschen “Freiheit” müsste die Politik im Sinne einer verantwortlichen Selbstbeschränkung verzichten. Unter den gegenwärtigen Vorzeichen werden die demokratischen Prozesse es nicht hinbekommen.

Es bleibt noch zu sagen, dass SCHAIBLE ein gut lesbares, sachliches und abgewogenes Buch geschrieben hat (es ist sicher weniger emotional als diese Rezension).
Es ist – kurz gesagt – das Buch der Stunde.

“Der elektronische Spiegel” von Manuela LENZEN

Bewertung: 4 von 5.

In den aufgeregten Zeiten von ChatGPT legt die Wissenschaftsjournalistin LENZEN ein angenehm ruhiges und nachdenkliches KI-Buch vor. Vielleicht hat das ja etwas mit der ungewöhnlichen Perspektive zu tun: Der Autorin geht es nämlich nicht in erster Linie um die neuesten technischen Meisterleistungen der KI-Programmierer, sondern um grundsätzliche Fragen in dem komplexen Spannungsfeld zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz.

LENZEN bedient vorrangig die Meta-Ebene, in dem sie z.B. fragt:
– Was macht Intelligenz eigentlich aus?
– Ist es sinnvoll, das menschliche Gehirn nachzubauen?
– Oder kommen technische Systeme auf ganz anderen Wegen zu intelligenten Lösungen?
– Kann menschliches Lernen ein Modell für Maschinen-Lernen sein?
– Braucht Maschinen-Intelligenz einen Körper und einen physischen Kontakt zur Außenwelt oder reichen Simulationen?
– An welchen Fragestellungen begegnen sich Kognitionswissenschaftler und KI-Tüftler?
– Warum scheitert die KI so oft an den Banalitäten des Alltags?
– Wie eng ist die Verbindung zwischen Sprache und Intelligenz?
– Welche Einblicke verschafft die KI-Forschung in den Charakter menschlicher Intelligenz?

Diese und ähnliche Punkte werden keineswegs auf einer abstrakt-philosophischen Ebene diskutiert. LENZEN nimmt uns – nach einem kurzen historischen Exkurs – mit in die internationalen Zukunfts-Labore, in denen zahlreiche Teams dem Rätsel der Intelligenz auf die Spur kommen wollen: Sie arbeiten mit Sprachmodellen, bauen neuronale Netze nach, simulieren Denk- und Problemlösealgorithmen und bauen Roboter, die sich in mehr oder weniger natürlichen Umgebungen zurechtfinden sollen.

Besonders anregend ist das Buch immer dann, wenn überraschend “menschelnde” Befunde dargestellt werden: So fehlt den ausgefeilten Denkmaschinen ausgerechnet der banale “gesunde Menschenverstand”: genau das selbstverständliche Alltagswissen, von dem wir Menschen gar nicht merken, dass war es von Kindesbeinen an haben. Oder es stellt sich plötzlich heraus, dass es sinnvoll sein kann, die Genauigkeit von Sensoren beim Erlernen neuer Funktionen zunächst künstlich zu begrenzen (damit nicht zu früh auf Details geachtet werden kann). Und man stößt auf immer mehr Belege dafür, dass das Erwerben von Intelligenz eine erstaunlich körperliche Komponente hat: Echte Intelligenz spielt sich nicht in einem isolierten “Rechenzentrum” ab, sondern setzt Erfahrung mit einer realen Umgebung voraus.

LENZEN führt uns die meiste Zeit recht geschickt durch das Dickicht der unterschiedlichen Forschungsansätze, wechselt dabei immer wieder den Focus von der Metaebene zur Detailfragestellung.
Gegen Ende des Buches ist man aber nicht immer so ganz sicher, ob es nicht die ein oder andere Schleife zu viel gab. Bestimmte Gedanken wiederholen sich – und das sind dann Momente, in denen man sich eine noch etwas klarere und konsequentere Struktur wünschen würde.

Insgesamt liefert dieses Buch einen anregenden und wertvollen Beitrag zum Mega-Thema KI – gerade weil es kein technik-orientierter Text ist, sondern das Verstehen der menschlichen Intelligenz genauso wichtig nimmt wie den Einblick in die Entwicklung der faszinierenden Zukunftstechnologie.

“Kein Ich, kein Problem” von Chris NIEBAUER

Bewertung: 3.5 von 5.

NIEBAUER ist ein dem Buddhismus zugetaner Neurowissenschaftler, der sehr stark die Unterschiede zwischen den Funktionsweisen und Bewusstseinsdimensionen unserer beiden Gehirnhälften betont. Seine Mission in diesem Buch ist es, buddhistische Grundüberzeugungen durch neuro- und kognitionswissenschaftliche Befunde zu untermauern.

Der Autor geht zunächst sehr ausführlich auf den Vorrang ein, den die linke Gehirnhälfte speziell in unserer westlichen Moderne erobert hat. Dabei geht es ihm nicht nur um die hohe Gewichtung des sprachlich-analytisch-logischen Denkens, sondern auch um die “Konstruktion” eines stabilen, autonomen “Ich”, das sich als pausenlos interpretierende Instanz mit allen Empfindungen, Gedanken und Gefühlen identifiziert (und bei der Suche nach Mustern und Regeln auch Zusammenhänge erfindet, die es gar nicht gibt).
Diese Dominanz der linken Hälfte gehe auf Kosten des eher bildhaft-ganzheitlich-intuitiv-fluiden Weltzugangs der rechten Gehirnhälfte, die eher eine Art Bewusstseinsstrom ausbildete und die innere Distanzierung und Relativierung gegenüber inneren und äußeren Ereignissen ermöglichten. Östliche meditative Praktiken schaffen – so die Überzeugung des Autors – eine Stärkung dieses “rechten” Erlebens – bis hin zu einer weitgehenden Auflösung der “Illusion” eines stabilen Ichs.

Die grundlegenden neurologischen Belege werden u.a. aus Beobachtungen und Experimenten mit sog. “Split-Brain-Patienten” abgeleitet. NIEBAUER interpretiert die erstaunlichen Befunde als Hinweis darauf, dass es tatsächlich zwei unterschiedliche Bewusstseine in unserem Gehirn geben kann.
Um auf den Titel des Buches zu kommen: Der Autor ist überzeugt davon, dass wir mit einer distanziert-beobachtenden Haltung gegenüber unseren Bewusstseinsinhalten nicht nur mehr Ruhe und Gelassenheit entwickeln könnten, sondern uns tatsächlich große Anteile von psychischen Leid ersparen könnten.
Es klingt ein wenig wie Zauberei: Wenn wir das Konzept eines “Ich” aufgeben (nicht nur theoretisch, sondern in der geübten Praxis), müssen wir uns nicht mehr mit den Empfindungen, Gedanken und Bewertungen identifizieren, die in unserem Bewusstseinsfeld auftauchen. Sie haben dann nicht mehr die Kraft und Bedeutung, uns (was immer das überhaupt ist) wirklich zu quälen. Sie erscheinen so fast zufällig, willkürlich, flüchtig und ohne nachhaltige Bedeutung (die ja erst unsere linke Hirnhälfte schafft).

Insgesamt hat NIEBAUER ein anregendes Buch vorgelegt, in dem interessierte Leser/innen die Berührungspunkte zwischen Neurowissenschaften und östlicher Bewusstseinspraxis nachvollziehen können. Man darf allerdings keine neutrale oder gar kritische Betrachtung erwarten: Der Autor will überzeugen und ist “beseelt” davon, eine hilfreiche Botschaft weiterzugeben. Dies tut er in einer angenehmen und motivierenden Sprache.
Seine Beispiele sind gut gewählt – aber die Grenzen seines Ansatzes sind nicht weit entfernt. Versetzt man sich in entsprechend eindeutige Situationen (Hunger, Schmerz, Folter, existentielle Verlusterfahrungen), erscheint die innere Distanzierung durch Aufgabe des Selbst nicht mehr besonders plausibel.
Das wiederkehrende Argument, man könne im Gehirn den Sitz des Ichs strukturell nicht ausmachen, überzeugt auch nicht wirklich: Was spräche dagegen, dieses Selbsterleben prozesshaft in einer – in besonderer Weise synchronisierte – Aktivierung bestimmter neuronalen Netze zu suchen?
Erwähnt werden muss auch, dass die extrem strikte Aufteilung bzw. Zuschreibung bestimmter Funktionen auf die beiden Hirnhälften längst nicht (mehr) wissenschaftlicher Konsens ist.

Trotz dieser Einwände lohnt sich das Lesen dieses Buches durchaus – wenn man es nicht als einzige Quelle der Information über das Gehirn benutzt. Die Einblicke in die – manchmal widersprüchlichen und täuschenden – Ergebnisse neuronaler Prozesse stellen manche vermeintlichen Selbstverständlichkeiten in Frage. Und dass unser neurologisches Ich ganz sicher nicht dem intuitiven Alltagsverständnis entspricht, kann NIEBAUER auf anschauliche Art demonstrieren (dazu muss man nicht allen seinen Schlussfolgerungen folgen).
(Ein Tipp: Bei einem nicht ganz unbekannten Versandhändler bekommt man die englische Originalfassung fast geschenkt).

“Nano” von Phillip P. PETERSON

Bewertung: 3.5 von 5.

Das zentrale Thema dieses Wissenschafts-Thrillers ist die Hybris des Menschen hinsichtlich seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten, Zukunftstechnologien zu beherrschen. Dargestellt wird dieses Problem am Beispiel der (fortgeschrittenen) Nanotechnologie.

Die Story beinhaltet die sehr detaillierte Darstellung der Folgen eines aus dem Ruder gelaufenen Experimentes mit Nanomaschinen, die sich selber replizieren (vervielfältigen) können. Diese Fähigkeit sollte dann die Grundlage dafür sein, dass durch entsprechende Programmierung dieser Miniatursysteme später beliebige Aufgaben bewältigt werden könnten. Dabei geht es in erster Linie darum, aus den in der Umwelt vorgefundenen Materialien so ziemlich alle denkbaren Produkte zu erstellen – ohne dass dies noch nennenswerter menschlicher Anstrengung bedürfte.
Diese Nanomaschinen würden dann – so das langfristige Ziel – mit einer geradezu unvorstellbaren (und unerbittlichen) Konsequenz die gewünschten Dinge Atom für Atom zusammensetzen – solange ihnen geeignete Rohstoffe zur Verfügung ständen.
Man darf wohl verraten, dass dieses erste Experiment scheitert und dadurch Konsequenzen entstehen, durch die die Menschheit in einem bisher unbekannten Ausmaß herausgefordert wird.

So wie es sich für einen solchen Science-Fiction-Roman gehört, wird die heraufziehende Katastrophe natürlich personalisiert. Wir lernen einige Wissenschaftler/innen und einige Politiker/innen kennen, die im Verlaufe des Buches mit ihren sehr unterschiedlichen Mitteln versuchen, der Problematik Herr zu werden. Als zentrale Identifikationsfigur fungiert eine eine junge Forscherin, die nach dem spektakulären Verlust ihres Mannes mit ihrer siebenjährigen Tochter Strapazen und Traumatisierungen erlebt, die wohl gleich mehrere lebenslange Psychiatrie-Aufenthalte begründen könnten (für Mutter und Kind).

Der Wissensschafts-Fraktion (in der es auch einen “Bösen” gibt – natürlich den Chef) steht die politische Entscheider-Riege gegenüber, in der – natürlich – ganz besondere Prioritäten bestehen. Der Bundeskanzler selbst ist übrigens von Beginn an direkt in das Geschehen einbezogen und ist daher dort der wichtigste Protagonist. Er gehört zu den wenigen Figuren, die sich durch eine gewisse innere Ambivalenz auszeichnen.
Das – sehr konfliktträchtige – Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik wird somit zu einem zweiten Grundsatzthema des Buches.

Als Katastrophen-Thriller hat dieses Buch einen klar definierten Spannungsbogen: Es bleibt – Überraschung! – so ziemlich bis zur letzten Sekunde offen, ob das wahrhaft grenzenlose Unheil abgewendet werden kann.
Es gibt zwar eine sehr dynamische Eskalationsdynamik, die aber irgendwie ziemlich gradlinig verläuft und wenig echte Überraschungen enthält. Der ganze Plot wirkt ein wenig eindimensional (in kleinen Stufen immer mehr desselben…).
Man würde einigen Figuren ein bisschen mehr psychisches Eigenleben wünschen, hätte gerne mehr Introspektion bzgl. der jeweiligen Empfindungen. So kommen einem die beteiligten Personen nicht wirklich nahe – insbesondere das Kind bleibt irgendwie ein unbekanntes Wesen mit übermenschlichen physischen und psychischen Kräften.

Vielleicht trägt aber auch die Länge des Buches dazu bei, dass letztlich der Funke nicht so recht überspringt. Einen ersten Geschmack davon bekommt man schon in dem quälend langsamen Auftakt: Die Anreise des Kanzlers wird wirklich übertrieben minutiös geschildert. Die meisten Leser/innen werden wohl ziemlich froh sein, wenn die Sache dann viele hundert Seiten später endlich ein Ende gefunden hat (welches, ist dann für einige sicher schon fast egal…).

Natürlich ist die Nano-Technologie eine extrem interessante Zukunftstechnologie. Aber auch Wissenschafts-Nerds werden wohl mit den dargebotenen Hintergrundinformationen nicht so richtig glücklich sein. Es geht dem Autor ganz eindeutig mehr um die spektakulären Katastrophen-Szenarien als um Wissenschafts-Vermittlung.

Für eine echte Empfehlung reicht das alles nicht.

“Erschütterungen” von Joachim GAUCK und Helga HIRSCH

Bewertung: 4.5 von 5.

GAUCK war als Bundespräsident – und ist jetzt in der Zeit danach – ein Mann der starken, wohl gesetzten Worte. Diese Kompetenz setzt er in seinem neuen Buch engagiert ein, um seinen Sorgen um die Zukunft unserer Demokratie Ausdruck zu verleihen. Mit der Co-Autorin, der Publizistin Helga HIRSCH, arbeitet GAUCK schon lange zusammen; da das Buch aus der Ich-Perspektive GAUCKs geschrieben wurde, werde ich im Folgenden nur noch ihn als Autor nennen.

Im ersten Teil des Buches geht es um die Erschütterungen im Zusammenhang mit der außenpolitischen und militärischen Zeitenwende nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
GAUCK geht die Sache zunächst gleich auf mehreren Ebenen historisch an:
– Er setzt sich kritisch mit der deutschen Ostpolitik auseinander, der er in der zweiten Phase – also nach dem Zerfall der UDSSR – große Versäumnisse vorhält.
– Er schildert die Entwicklung des Putin-Russlands zu einem autoritären, nationalistisch-imperialistischen Staat.
– Die Geschichte der Ukraine wird daraufhin analysiert, wie sich aus ihrer wechselhaften Geschichte eine nationale Identität entwickeln konnte.
– Besonders kritisch bewertet GAUCK den – aus seiner Sicht ignoranten und verantwortungslosen – Umgang der deutschen Politik mit den Übergriffen Putins auf die Krim und die Ost-Ukraine im Jahr 2014.
Als Schlussfolgerungen aus diesen – mit vielen Sachinformationen unterfütterten – Betrachtungen gelangt GAUCK zu einer eindeutigen Positionierung: Es bleibe für Europa allgemein und für Deutschland im Besonderen keine Alternative zu einer massiven Verstärkung der militärischen Verteidigungsfähigkeit. Diese Maßnahmen müssten begleitet und getragen sein durch eine entsprechende Bereitschaft, sich weiteren imperialistischen Vorstößen im Ernstfall auch mit Waffengewalt entgegenzustellen – und so unsere freiheitlich-demokratische Lebensform zu erhalten.

Der zweite Teil des Buches wendet sich der innergesellschaftlichen Situation zu.
GAUCK skizziert vor allem drei kritische Entwicklungslinien, durch die er die Stabilität unseres Gemeinwesens zwar nicht akut bedroht, aber tendenziell gefährdet sieht:
– In Krisen- und Überforderungszeiten bestehe grundsätzlich die Gefahr, dass der zu Autoritarismus neigende Teil der Bevölkerung für Parolen und Scheinlösungen rechter Populisten anfällig würden.
– Eine neue extrem libertäre Bewegung zeige einen übersteigerten Individualismus, der staatliche Regelungen prinzipiell als freiheitseinschränkend bewerte und nur noch eigene Haltungen und Interessen als Maßstab anerkenne.
– Sorgen machen dem Autor auch die Auswüchse einer “woken” Bewegung, deren dogmatischer Kampf gegen “weißen Rassismus” eher zu einer neuen Spaltung der Gesellschaft beitrage.
GAUCK appelliert leidenschaftlich an die demokratische Mitte der Gesellschaft, aktiv Verantwortung für den Erhalt unserer liberalen Demokratie zu übernehmen und damit diesen Fehlentwicklungen eine engagierte Zivilgesellschaft entgegenzusetzen.

Als Leser/in kann man den Informationen und Argumentationslinien sehr gut folgen. Der Text ist hervorragend strukturiert, die Sprache ist schnörkellos und klar.
GAUCK versteckt sich mit seinen Überzeugungen nicht: Er hat ein Meinungsbuch geschrieben, er will überzeugen. Aber er führt für seine Sichtweisen jede Menge Begründungen ins Feld, taucht dabei in einer Tiefe in historische Details ein, die erhellt, zugleich aber nicht überfordert.
GAUCK legt an den entscheidenden Stellen auch offen, dass seine Werte und Überzeugungen durch seine persönliche Lebensgeschichte geprägt wurden: Seine hohe Gewichtung der demokratischen Rechte stammt nicht aus der gelebten Selbstverständlichkeit, sondern aus der Perspektive eines Freiheitskämpfers in einem Unrechtsstaat.

Ohne Zweifel untermauert der Ex-Bundespräsident auch mit diesem Buch sein Renommee als eine moralische Instanz im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs. Seinen genauen Beobachtungen und klugen Schlussfolgerungen kann man – soweit man sich nicht an den Rändern des politischen Spektrums bewegt – in weiten Teilen problemlos folgen. Das trifft insbesondere auf seine Mahnung an die politischen Entscheidungsträger zu: Deren Aufgabe sei es nämlich, in kritischen Phasen die als notwendig erkannten Transformationsschritte auch gegen Widerstände und populistische Meinungsmache durchzuhalten – statt sich wahltaktisch auf “die Stimme des Volkes” in Meinungsumfragenzu beziehen.

Auf zwei Punkte sei trotzdem hingewiesen:
– Einen Teil seiner Leserschaft wird GAUCK vermutlich mit einigen Formulierungen zu der relativen Bedeutung von “Freiheit” und “Leben” irritieren. Die von ihm aufgestellte Forderung, man müsse für die Verteidigung der Freiheitsrechte im Extremfall auch bereit sein, sein Leben (im militärischen Kampf) einzusetzen, ist im Nachkriegs-Deutschland (mit seiner eher pazifistischen Grundhaltung) sicher nicht unumstritten.
– Zwar muss sicherlich nicht jedes Buch ein Klimabuch sein – trotzdem kommt die epochale Auseinandersetzung um die Umsteuerung von einer fossilen zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise in dem Text eindeutig zu kurz. Hier spürt man, dass GAUCKs Biografie durch andere Themen bestimmt wurde.
Diese – allerdings – weiß er mit einer kaum zu übertreffenden Klarheit zu vermitteln. Man nimmt ihm seine Erschütterung über die dargestellten aktuellen Risiken ohne Zweifel ab.

“Das Lied der Zelle” von Siddartha MUKHERJEE

Bewertung: 4 von 5.

Eine Möglichkeit, sich diesem Buch zu nähern, ist wohl der Versuch, es entweder als (populärwissenschaftliches) Sachbuch oder als (wissenschaftliches) Fachbuch (oder gar Lehrbuch) einzuordnen. Man kann an diesem Versuch nur scheitern – und genau darin liegt die Charakteristik dieser Publikation.

Der indisch-amerikanische Krebsforscher und Onkologe MUKHERJEE stellt hier die Geschichte, die Befunde und die Zukunftsperspektiven der (angewandten) Zell-Biologie in einer Informationsbreite und-tiefe dar, die einem universitären Lehrbuch zur Ehre gereichen würde. Das Buch steckt voller wissenschaftlicher Fachbegriffe; auch komplexe Hypothesen und deren Überprüfung werden ausgeführt. Man gewinnt den (vielleicht etwas naiven) Eindruck, dass man selbst als Experte kaum mehr wissen kann, als man es hier erfährt.

Was jedoch eher an ein Sachbuch für ein breiteres Publikum erinnert, ist die Einbettung dieser Faktenfülle bzw. der Stil des Autors.
MUKHERJEE verwebt dafür ein ganzes Arsenal von Darstellungsfäden:
– Er stellt sehr plastisch und detailliert die Historie der Erforschung der Grundbausteine des Lebens dar (und parallel deren medizinische Anwendung) dar,
– er personalisiert die Erkenntnisfortschritte, indem er die jeweils beteiligten Wissenschaftler/innen vorstellt (einschließlich ihrer Beziehungen und Rivalitäten),
– er personalisiert die mühsamen und opferreichen Behandlungsfortschritte durch den empathischen Bezug auf einzelne Patienten und deren Schicksale,
– er bringt sich als Forscher und Arzt selbst als ein fühlendes Wesen ein, das auf Erfolge und Misserfolge und auch auf das Leid seiner Patienten emotional reagiert,
– er lässt einen Blick auf seine inneren Reflexionen und Abwägungen hinsichtlich der Zukunftsperspektiven seiner Wissenschaft zu und
– er bringt sich auch als Betroffener (einer depressiven Erkrankung) ein.
Und – als ob das nicht genug wäre – wird dieses Potpourri in einer stellenweise fast poetischen Sprache dargeboten, in die immer wieder Formulierungen eingehen, die fernab von jeder wissenschaftlicher Nüchternheit stehen.

Da die Wissenschaft von den Zellen so grundsätzliche Bedeutung hat, ist das Buch von MUKHERJEE in weiten Teilen auch eine historisch orientierte Betrachtung von Biologie und Medizin insgesamt. Es gibt wohl kaum einen Bereich, der hier nicht angesprochen würde: Es geht um Genetik, um die Zellphysiologie, um Blut, um Organe, um Knochen, um Stammzellen, um das Gehirn, um Krebs, um Infektionen, um Transplantationen, um das Immunsystem, um Aids, um Corona, um Forschungsmethoden, um die wissenschaftliche Community, usw.
Es ist wirklich schier grenzenlos…

Eine nachdenkliche Reflexion hinterlässt der Autor in seinen Schlussbetrachtungen: Er stellt hier die – auch für ihn offene – Frage, weit weit uns die technologischen Möglichkeiten der zellulären Medizin noch führen wird. Wann und wie werden wohl die bereits vorhandenen Fähigkeiten, neue Zellen, Gewebe und Organe zu züchten und genetisch zu manipulieren, dazu benutzt werden, den menschlichen Körper zu optimieren und seine Alterung bzw. Sterblichkeit zu verhindern? Werden wir dann noch die gleiche Spezies sein?

Ist nun dieses Buch ein eindeutiger Lesetipp? Das kommt darauf an!
Wer im Bereich des biologischen und medizinischen Allgemeinwissens eine Stufe weiter kommen möchte – wer sich also vom interessierten zum informierten Laien entwickeln möchte – der verhebt sich mit diesem Text höchstwahrscheinlich. So ansprechend das Material auch aufbereitet ist: Die Informationsflut wird man wohl als überfordernd erleben.
Wer allerdings die Zeit und Motivation mitbringt, sich in dieses zukunftsrelevante Thema mal so richtig einzuarbeiten (ohne gleich ein trockenes Fachbuch zu lesen) – für den öffnet sich hier eine bis zum Anschlag gefüllte Fundgrube. Und einen extrem sachkundigen und sympathischen Führer gibt es noch obendrauf.

Vielleicht wäre das Buch (für das etwas breitere Publikum) noch “perfekter” geraten, wenn auf die letzte Detailebene verzichtet worden wäre (die sich sowieso kein Mensch merken kann). Aber dazu ist der Autor wohl zu sehr Wissenschaftler.
Dass der sehr persönliche Schreibstil auch gelegentlich ins Pathetische abrutscht, verzeiht man dem durch und durch menschenfreundlichen Autor gerne.

(Durch die Hörbuchfassung wird man übrigens durch den Vorleser, Olaf Pessler, auf extrem angenehme Weise geführt. Allerdings stellt man sich aufgrund seiner Stimme den 1970 geborenen Autor deutlich älter vor. Sicherlich eignet sich diese Vermittlungsform aber dann weniger, wenn es um das Erfassen und Speichern der unendlich vielen Details geht).

“Ein falsches Wort” von René PFISTER

Bewertung: 4 von 5.

Dieses Buch Anfang Mai 2023 zu lesen, war eine besondere Erfahrung: Die Empörung über einige Äußerungen von Boris Palmer führten gerade zu einer weitgehenden Selbstkritik und seinem Parteiaustritt; in den Kommentarspalten von SPIEGEL- und ZEIT-online ging es hoch her.
Genau um ähnliche Konstellationen geht es in diesem Buch des SPIEGEL-Redakteurs (erschienen im Dezember 2022).

PFISTER widmet sich dem Phänomen “Cancel Culture” (oder auch “Wokeness” oder “Identitätspolitik”) überwiegend aus amerikanischer Perspektive. In einer kurzen persönlichen Einleitung stellt er dar, wie positiv die ersten Eindrücke in seiner neuen Nachbarschaft (in Washington D.C.) war: Er stieß auf ein liberales und tolerantes Klima, in dem er auch seine Kinder gut aufgehoben empfand.
Dieser Eindruck hielt nicht lange vor. Der Autor entdeckte immer mehr Anzeichen dafür, dass nicht nur im rechten Trump-Lager Demagogie und Spaltung betrieben wurde, sondern sich in weiten Teilen der amerikanischen Universitäts- und Medienlandschaft (und in einem Teil der Demokratischen Partei) ein illiberaler linker Dogmatismus verbreitet hatte, der Rede- und Meinungsfreiheit bedroht.

Den typischen Facetten dieser Entwicklung geht PFISTER anhand einiger populärer Fälle in amerikanischen Universitäten und Printmedien nach. Er stellt dar, dass z.T. einmalige “kritische” Formulierungen (die ganz nebenbei oft die Mehrheitsmeinung der Bürger widerspiegelten), zu unbarmherzigen Social-Media-Kampagnen geführt haben. Da immer wieder auch das Umfeld (Arbeitgeber, Zeitungen, Institute) nicht den Mut hatte, sich dem massiven Druck entgegenzustellen, wurden nicht nur der freier Meinungsaustausch verhindert (durch Absage von “unliebsamen” Vorlesungen oder Veranstaltungen). Selbst Karrieren von etablierten Wissenschaftlern oder Journalisten wurden jäh beendet.
PFISTER arbeitet heraus, dass eine aus dem Ruder gelaufene Kultur der “Empfindsamkeit” dabei eine wesentliche Rolle spielt: An die Stelle einer argumentativen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzung tritt immer häufiger der Hinweis, dass man (eine bestimmte marginalisierte Gruppe) sich durch bestimmte Haltungen, Inhalte oder Formulierungen “verletzt” oder “bedroht” fühle.
Der Autor macht sehr deutlich, dass in einem solchen Klima die Grundlage für ein Ringen um die “besseren” Argumente bzw. um faktenbezogene Fortschritte in der Erkenntnis zum Erliegen kommen müssten. Damit nähme sich – so der Autor – das linke Lager selbst die Möglichkeit, dem rechten anti-faktischen Populismus einen offenen und rationalen Diskurs entgegenzustellen.
Kritisch betrachtet PFISTER auch das opportunistische Verhalten von Teilen der Wirtschaft, die gerne die Gelegenheit ergreifen würden, sich durch eine demonstrativ diverses Image einen moralischen Heiligenschein aufzusetzen – um so von viel grundsätzlicheren Defiziten und Problemen abzulenken.

Der entscheidende Pluspunkt dieses Buches steckt in dem Umstand, dass der Autor diese Situation aus der Perspektive eines Journalisten beschreibt, der sich selbst eindeutig dem liberal-fortschrittlichen Spektrum zuordnet. Bei PFISTER lugt an keiner Stelle Sympathie für die Haltungen und Ziele rechter Populisten um die Ecke. Man nimmt ihm ab, dass es ihm nicht um eine Schwächung von emanzipatorischen Bewegungen geht. Im Gegenteil: Immer wieder bedauert er Konstellationen, in denen Intoleranz und Dogmatismus auf Seiten von Aktivisten dem politischen Gegner inhaltliche Munition und politische Zustimmung einbringt. Für PFISTER ist die manchmal mit nahezu religiöser Inbrunst dargebotene “reine Lehre” (z.B. bei der Bekämpfung von “strukturellem weißen Rassismus” durch verordnete Selbstgeißelung) nicht nur inhaltlich unglaubwürdig, sondern auch ausgesprochen dumm bzw. schädlich.

Wenn man 250 Seiten lang über die skizzierten Themen schreibt, lässt sich eine gewisse Redundanz nicht vermeiden. So spannend und unterschiedlich die Beispiele und Facetten auch sein mögen – natürlich landet PFISTER immer wieder bei seinen Grundthesen.
Das Buch verliert aber dadurch nicht an Substanz – es wirkt eher überzeugend, wenn aus unterschiedlichen Bereichen und Blickwinkeln sehr ähnliche Schlussfolgerungen zu ziehen sind.
Der Autor kann gut begründen, warum ihm – trotz aller Unterschiede – die genaue Betrachtung der amerikanischen Situation so lohnend erscheint: Inzwischen gibt es ja auch in Deutschland zahlreiche Beispiele für den massiven Druck, den gut organisierte Aktivistengruppen auf einzelne “Missetäter/innen” und ihr Umfeld ausüben. Nicht konforme Meinungen in aktuell gesellschaftlich hochgekochten Themen (z.B. Transgender) zu äußern, ist inzwischen auch bei uns für viele (vor allem) jüngere Wissenschaftler/innen oder Medienmenschen offenbar durchaus potentiell karriereschädlich.

PFISTER hat hier ein gut lesbares, informatives und anregendes Sachbuch vorgelegt, dass das Zeug hat, den öffentlichen Diskurs bzgl. dieser Thematik zu versachlichen und auf ein höheres Niveau zu bringen. Und – obwohl es der Autor nicht explizit anspricht: In diesem Text steckt auch ein Apell an die Leserschaft, sich der Versuchung zu widersetzen, grundlegende Prinzipien der Fairness, des kritischen Abwägens und der Mäßigung über Bord zu werfen, um sich einem doktrinären Meinungsdruck zu unterwerfen (und zwar auch dann nicht, wenn die Richtung mit eigenen Überzeugungen übereinstimmten sollte).
Und: Egal, wie man den aktuellen (Sonder-)Fall “Palmer” beurteilen mag: Das Buch bringt zusätzliche Licht in die zugrundeliegenden Dynamiken.

“Mehr als nur Atome” von Sabine Hossenfelder

Bewertung: 4 von 5.

Der Titel des Buchers täuscht ein wenig: Er greift zwar den Schlusssatz des Buches auf – dieses versöhnliche Statement repräsentiert aber nicht den Inhalt dieses Textes.
Wer zu diesem informativen Sachbuch greift, sollte sich klar darüber sein, dass hier die “Welt” ausschließlich aus Sicht der Grundlagen-Physik beschrieben und interpretiert wird.
Das soll nicht als Kritik verstanden werden – aber es geht tatsächlich in einem großen Umfang um die Atome als Basis für alles.

Die Autorin legt ihre Karten von Anfang an auf den Tisch: Sie outet sich als Hardcore-Physikerin, die sich mit ihren Erkenntnismethoden und den Regeln wissenschaftlicher und mathematischer Akribie in einem fest abgesteckten Kosmos bewegt: Theorien haben empirisch überprüfbar zu sein und sollten auf willkürlich bzw. unnötige Zusatzannahmen verzichten. Punkt!
Konsequenter Weise wendet sie diese Maßstäbe nicht nur auf alle philosophischen oder religiösen Systeme an, sondern auch auf die zahlreichen hochspekulativen Konzepte der Grundlagen-Physik selbst. So erfahren wir z.B. in aller Ausführlichkeit von alternativen Welt-Entstehungs-Theorien oder von kosmischen Bewusstheits-Ideen, die zwar oft auf genialen mathematischen Modellen beruhen, die aber bei HOSSENFELDER (die ein Fan der Mathematik ist) wegen mangelnder Überprüfbarkeit durchfallen.

Am Beginn ihres Buches nimmt uns die Autorin mit in die wundersame Welt der Relativitätstheorie, in der die intuitiven Vorstellungen von Zeit geradezu zertrümmert werden.
Sofort fällt auf, dass es HOSSENFELDER gut gelingt, eine Verbindung zwischen den Fachbegriffen und dem Allgemeinverständnis zu schaffen. Sie lässt die Fachsprache nicht weg, veranschaulicht sie aber sehr gekonnt. Und sie hat (bis auf einige Stellen am Ende des Buches) ein bemerkenswertes Gefühl dafür, wann mehr Tiefgang die hier angesprochene Leserschaft überfordern würde. So enthält zwar das Buch einige – durchaus anspruchsvolle – Diagramme, begibt sich aber nicht auf die Ebene mathematischer Formeln bzw. Berechnungen.

Das Kernthema des Buches ist das deterministische Weltbild der Physik. Sein Postulat: Sind die Anfangsbedingungen eines Systems (vollständig!) bekannt, steht aufgrund der bekannten physikalischen Gesetzmäßigkeiten fest, wie es weitergeht. Das gilt (im Prinzip) in dem relativ großen Zeitraum zwischen den ersten Millisekunden nach dem Urknall bis zum Endzustand eines Kosmos, in es dem wegen des Entropieverlustes keinerlei Strukturen mehr geben wird (das Konzept der Entropie wird ausführlich erläutert).
Einen großen Raum nimmt die Diskussion ein, ob und in welchem Umfang die Determiniertheit der klassischen Physik durch die Quantentheorie (und die Schwarzen Löcher) ausgehebelt wird. Die Autorin stellt das Für und Wieder differenziert dar, lässt am Ende ihre Hoffnung durchblicken, dass am Ende eine Art “Weltformel” doch alle Phänomene in einer vollständigen Kausalität einfangen könnte. Ein wenig widersprüchlich fallen allerdings ihre Einschätzungen aus, wie bedeutsam die Quantenphysik für Phänomene der “normalen” Welt (oberhalb der Molekülgröße) sind. Sie räumt jedenfalls ein, dass nach jetzigem Stand der Zufall und die Unberechenbarkeit durch die Quantenmechanik in die aufgeräumte Welt der Physik eingedrungen ist.

Es macht HOSSENFELDER ganz offensichtlich Freude, uns mit Gedankenspielen zu irritieren und dabei vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen. So kommt sie z.B. zu dem (überraschenden) Schluss, dass es mit den Gesetzen der Physik nicht völlig unvereinbar wäre, dass die Welt vor 6000 Jahren erschaffen wurde und seitdem nach den bekannten Naturgesetzen ´funktionierte. Eine solche Theorie sei nur “schlecht” (nicht brauchbar), weil sie keine wirklichen Erklärungen bzw. Vorhersagen erlaubte.
Anregend ist auch der Ausflug in die hypothetische Vorstellung, dass außerhalb unseres Bewusstseins keine reale Welt existiert: zwar möglich, aber auch eine Theorie mit wenig Erklärungskraft.

Relativ hoch hängt die Autorin den wohl für menschliches Verhalten spannendsten Anwendungsbereich des Determinismus: die Frage nach der Willensfreiheit.
Hier wartet vielleicht eine kleine Enttäuschung auf die Leserschaft: Während um das Konzept in vielen anderen Publikationen im Zusammenspiel verschiedenster Disziplinen hochkomplex gestritten wird, bietet HOSSEBFELDER – genau betrachtet – nur eine Antwort: Weil in der Physik eben alles determiniert ist, kann es eine Willensfreiheit einfach nicht geben!
Dem von anderen Wissenschaftlern ins Feld geführte Phänomen der Emergenz nimmt die Autorin schnell die Luft aus den Segeln: Ihr sei noch kein Beispiel untergekommen, bei dem man die Eigenschaften eines Makrosystems nicht aus den (molekularen) Interkationen der Bestandteile ableiten könnte. Natürlich wird auch die Chaos-Theorie als Gegenargument vom Tisch gefegt (weil sie nicht anti-deterministisch sei).
Hier argumentiert eine Physikerin, die keiner Angst vor dem Vorwurf des “Reduktionismus” hat. Da überrascht nicht, dass die Autorin keine Freundin von Konzepten ist, die dem Gesamtkosmos oder einzelnen Elementarteilchen ein Bewusstsein zusprechen.

Wer wirklich etwas über die praktische Welterklärung durch Physik erfahren will, wird vielleicht etwas enttäuscht darüber sein, wie ausführlich sich die Autorin mit ziemlich abgedrehten Theorien über alternative Universen, die Feinabstimmung von Naturkonstanten oder das Erschaffen neuer Universen auseinandersetzt. Hier hat sich HOSSENFELDER wohl einige Mal ein wenig in einer Spezialwelt verloren, die nur noch für physikalische Nerds von Interesse sind. Allerdings: der Laie staunt, was es so alles gibt….
Die an zwei Stellen des Buches eingefügten Interviews lockern zwar die Struktur des Textes auf; andererseits unterbrechen sie aber auch ein wenig den Argumentationsfluss und werden nicht vollständig in die Ausführungen der Autorin integriert.

Eine gewisse Affinität zu alltagsfernen physikalischen Spitzfindigkeiten sollte man als Leser/in dieses Textes schon mitbringen.
Auch wenn man nicht jede dargestellte Theorievariante gebraucht hätte und von der Radikalität einiger Schlussfolgerungen zurückschrecken sollte: Dieses Buch bietet einen vorzüglichen und faszinierenden Einblick in die wissenschaftliche Denkweise der Grundlagen-Physik.
Die Relativierung ganz am Ende kommt dann ein wenig plötzlich… (s.o.).