
Wie viel kann man aus einem geöffneten Gehirn über den Menschen erfahren? Eine ganze Menge – zumindest, wenn man dem jungen, engagierten Neurochirurgen Jesus MARTIN-FERNANDEZ folgt, der mit seinem Buch nicht nur einen faszinierenden Einblick in die moderne Gehirnchirurgie gibt, sondern auch ein leidenschaftliches Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der neurologischen Medizin formuliert. Dabei geht es ihm nicht nur um den Fortschritt in der praktischen Arbeit, sondern um nicht weniger als ein erweitertes Verständnis des komplexesten Zellhaufens, den die Evolution auf diesem Planeten jemals hervorgebracht hat.
In klarer, auch für Laien verständlicher Sprache schildert er eine hochspezialisierte OP-Technik, bei der Patienten während der Tumorentfernung wach bleiben. Elektrische Reize, kognitive Aufgaben, Bewegungsübungen und emotionale Erkennungstests – das OP-Team beobachtet dabei, wie das Gehirn auf Stimulationen reagiert, um jene Regionen zu identifizieren, die für essentielle Funktionen zuständig sind. Nur was keine kritischen Ausfälle provoziert, wird entfernt – auch wenn Tumorreste verbleiben müssen. Der Gewinn an Lebensqualität ist beachtlich.
Diese „funktionelle Kartografie“ widerspricht dem klassischen Bild lokalisierter Funktionszentren. Martin-Fernandez stellt diesem überkommenen Konzept ein neues, dynamisches Verständnis entgegen, das er anhand zahlreicher Fallbeispiele eindrücklich belegt. Dabei gelingt ihm der Spagat zwischen wissenschaftlicher Präzision und erzählerischer Zugänglichkeit – ein echtes Lehrstück für Wissenschaftskommunikation.
Doch das Buch ist mehr als ein medizinischer Erfahrungsbericht. Es ist auch das Selbstporträt eines jungen Arztes, der von einer Idee und einer Mission getrieben ist – und dem es gelungen ist, in wenigen Jahren zu einer international gefragten Kapazität seines Fachs zu werden. Martin-Fernandez gewährt intime Einblicke in seine berufliche Entwicklung, seine internationalen Konferenzerfahrungen und die Belastungen des Klinikalltags. Seine Aufzeichnungen – von ihm selbst mehrfach Tagebuch genannt – wurden oft geschrieben in Momenten größter Erschöpfung nach stundenlangen Operationen oder Fachvorträgen – und wirken dadurch direkter und authentischer als ein Schreibtisch-Text.
Diese Intensität seines beruflichen Engagements allein wäre schon bemerkenswert. Doch Martin-Fernandez überrascht noch mit einer weiteren Facette: Parallel zu seiner Karriere in der Medizin absolviert er eine Ausbildung zum Dirigenten, produziert musikalische Werke für Opernaufführungen. Auch hier ist Perfektion sein Maßstab, Kreativität sein Antrieb. Es entsteht das Porträt eines Menschen, der mit kaum versiegender Energies zwischen Wissenschaft und Kunst pendelt – hochintelligent, hochkreativ, hochproduktiv.
Allerdings hat dieser Tagebuchcharakter auch seinen Preis. Die Begeisterung des Autors für seine Tätigkeit ist so überbordend, dass zentrale Thesen und Prinzipien in einem Maße wiederholt werden, das mitunter auch den gutwilligsten Leser nerven wird. Bereits nach dem ersten Drittel des Buches hat man das Gefühl, die Kernaussagen auswendig zu kennen. Hier hätte ein Lektorat straffer eingreifen können – oder sollen.
Überhaupt: Der Autor kratzt immer wieder mal an der Grenze zum “too much” – es ist eben ein sehr persönliches Werk – kein neutrales Sachbuch. Und der Autor selbst steht immer wieder im Zentrum der Betrachtungen.
Doch bei aller Kritik fällt es schwer, dem Autor daraus ernsthaft einen Vorwurf zu machen. Denn immer wieder öffnet er dem Leser emotionale Räume, spricht respektvoll und fast zärtlich über seine Patienten und seine Helfer im OP-Team. Seinen wissenschaftlichen Widersachern (Vertretern der fest lokalisierten Gehirnzentren) begegnet er mit Respekt – allerdings auch mit der Überzeugung, den wissenschaftlichen Fortschritt auf seiner Seite zu wissen. Auch die Hochachtung, die er seinem Mentor entgegenbringt, verleiht dem Text eine besondere menschliche Tiefe.
Am Ende bleibt ein Buch, das eine ungewöhnliche Mischung bietet – aus wissenschaftlicher Innovation, persönlicher Leidenschaft und intensiver Selbstreflexion. Wer bereit ist, die wirklich ausgeprägte Redundanz zu ertragen, wird mit einem Leseerlebnis über „menschliche Medizin“ belohnt, das sowohl informiert, intellektuell stimuliert als auch emotional berührt.
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