
Zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat dieses Buch nichts an Relevanz verloren – im Gegenteil. Was 2014 in Fachkreisen für Aufsehen sorgte, ist inzwischen ein Standardwerk im Bereich des Kinderschutzes geworden. Und es lohnt sich, den Text erneut zur Hand zu nehmen – gerade vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über Kindeswohl und institutionelles Versagen.
Die Autoren – beide erfahrene Rechtsmediziner – schildern eindringlich, wie klar und eindeutig sich Misshandlungsfälle aus rechtsmedizinischer Sicht meist bewerten lassen. Die Analyse körperlicher Verletzungen erlaubt eindeutige Rückschlüsse auf die Ursachen – deutlich objektiver als jede Einschätzung psychischer oder emotionaler Schädigungen. TSOKOS und GUDDAT liefern dazu zahlreiche Fallbeispiele, die erschüttern. Die Autoren ersparen dabei ihrer Leserschaft auch drastische Einzelheiten nicht.
Doch das Buch ist weit mehr als ein rechtsmedizinisches Fachprotokoll. Es ist eine schonungslose Systemanalyse – und eine Anklage. Die Autoren zeichnen das Bild eines Kinderschutzes, der an seinen eigenen Strukturen scheitert: Elternrechte werden häufig höher gewichtet als Kindeswohl, überforderte Jugendämter delegieren Verantwortung an freie Träger, deren wirtschaftliches Überleben von Wohlwollen und Auftragsvergabe derselben Behörden abhängt. Oft besonders jungen und unerfahrenen Familienhelfer unterliegen ihrerseits dem (inneren und äußerem) Druck, die eigene Arbeit als sinnvoll und erfolgreich zu bewerten. Es entsteht eine problematische Gemengelage gegenseitiger Beschönigung und Rücksichtnahme, in der gefährdete Kinder allzu oft durch das Raster fallen – mit teilweise tödlichen Folgen.
Besonders kritisch fällt das Urteil über die juristische Praxis aus: Familienrichter urteilen regelmäßig ohne spezialisierte Fortbildung zum Thema Kindeswohlgefährdung. Die Expertise von Rechtsmedizinern wird dabei mitunter weniger ernst genommen als die Beteuerungen der beschuldigten Eltern. Strafrechtlich enden viele Verfahren mit Freisprüchen, weil sich keine eindeutige Täterschaft nachweisen lässt – auch dann, wenn feststeht, dass ein Kind durch eines der Elternteile massiver Gewalt ausgesetzt war.
Der Vorwurf, das Buch arbeite mit extremen Einzelfällen, wird von den Autoren nicht nur thematisiert, sondern mit klaren Zahlen und Quellen gekontert. Die Dunkelziffer der betroffenen Kinder sei hoch – deutlich höher, als Öffentlichkeit und Politik wahrhaben wollen. TSOKOS und GUDDAT fordern daher eine konsequente Parteinahme für die Kinder: nicht durch Dämonisierung der Täter, sondern durch eine klare Priorisierung von Kinderrechten vor Elternrechten. Dazu gehört auch, dass Misshandlungsopfer nicht gegen ihren Willen erneut Kontakt zu ihren Peinigern aufnehmen müssen.
Was bleibt, ist ein leidenschaftlicher Appell an Politik, Justiz und Praxis: Kinderschutz braucht verbindliche Standards, mehr Qualifikation, angemessene Bezahlung, bessere rechtliche Rahmenbedingungen – und eine Haltung, die sich traut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Dabei müssten auch die kinderärztlichen Praxen eine deutlich konsequentere Rolle spielen. Die Vermittlung von rechtsmedizinischem Basiswissen fordern die Autoren für alle relevanten Berufsgruppen.
In einem Punkt unterschätzen die Autoren vermutlich sogar die Schwächen des Kinderschutzsystems: Oft sind es die internen Strukturen innerhalb der Jugendhilfe, durch die aus finanziellem Druck letztlich die Maßnahmen verhindert werden, die von den fallverantwortlichen Fachkräften “eigentlich” für notwendig erachtet werden.
Das Buch sollte eine Pflichtlektüre für alle sein, die im sozialen, medizinischen oder juristischen Bereich mit Familien arbeiten – unbequem, erschütternd und ganz sicher immer noch notwendig.
Dass die ein oder andere Formulierung – für sich betrachtet – auch als überzogen dramatisch bewertet werden könnte, sollte dem bewundernswerten Engagement der Autoren zugerechnet werden.
Du möchtest das Buch kaufen?
Mach Amazon nicht noch reicher und probiere mal den “Sozialen Buchhandel”, der aus jeder Bestellung eine kleine gemeinnützige Spende macht. Der Preis für dich ändert sich dadurch nicht; die Lieferung erfolgt prompt. Klicke einfach auf das Logo.
Oder unterstütze einen kleinen Buchladen vor Ort.