
Die berührende Geschichte der Hebamme Martha Ballard beruht auf der Biografie einer historischen Person. Tatsächlich gibt es ein selbstgeführtes Tagebuch dieser außergewöhnlichen Frau, die am Ende des 18. Jahrhunderts im Nordosten der USA gelebt hat. Dieser Umstand verleiht diesem Buch der preisgekrönten amerikanischen Autorin Ariel LAWHON eine noch größere Authentizität, als es selbst ein gut recherchierter fiktiver historischer Roman vermocht hätte.
Es ist eine Hommage an einer wahrhaft starke Frau, eine Verneigung gegenüber dem Beruf der Hebamme und eine Würdigung einer außergewöhnlichen ehelichen Beziehung in einem extrem patriarchalischen Umfeld. Martha Ballard ist eine extrem kompetente Geburtshelferin, hat profunde Kenntnisse im Bereich der Naturmedizin und führt – gemeinsam mit ihrem Ehemann – einen Hof mit Holzwirtschaft und einer Mühle.
Dank der Initiative ihres bemerkenswert fortschrittlichen Gatten erwarb Martha als junge Ehefrau die Kulturtechniken; sie entwickelte sich zu einer mutigen und selbstbewussten Frau, die ihre Familie und ihren Beruf mit großer Hingabe, Gerechtigkeitssinn und Weltoffenheit managt.
Ihrem Status als Gesundheits-Fachkraft und als Vertrauensperson des weiblichen Geschlechts ist es zu verdanken, dass sie einerseits in die Erstuntersuchung einer im zugefrorenen Fluss gefundenen männlichen Leiche involviert wurde – und gleichzeitig in einen dramatischen Vergewaltigungsfall eingeweiht wurde.
Die facettenreiche Verbindung beider Verbrechen liefert den zentralen Handlungsstrang des Romans, an dem entlang wir das Leben von Martha und ihrer Familie ein knappes Jahr lang begleiten können.
LAWHONs (bzw. Marthas) Botschaften aus dieser extrem männerdominierten und gewaltvollen Zeit ist eindeutig: Sie macht auf die tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingewobene Unterdrückung der Frauen aufmerksam, prangert den Machtmissbrauch einzelner Funktionsträger und die mangelhafte Rechtssicherheit an.
Ohne solche engagierten und aufgeklärten Einzelpersonen wie Martha wäre das Alltagsleben für die – insbesondere weibliche – Durchschnittsbevölkerung noch deutlich schwerer und leidvoller.
Dass in einem Roman über eine solche Welt die Zuschreibungen von “gut” und “böse” extrem eindeutig ausfallen, überrascht vermutlich nicht. Man muss nicht, könnte es aber in diesem Zusammenhang als ein wenig klischeehaft empfinden, wenn es ausgerechnet der arrogante, akademisch gebildete, junge Arzt ist, dem gegenüber Martha ihre haushohe Überlegenheit in der Geburtskunde nachdrücklich unter Beweis stellt.
Tatsächlich gewinnt Martha in dem Text fast übermenschliche Kompetenz und Güte; eine einzige moralisch fragwürdige Entscheidung wird – natürlich – korrigiert. Sich als Leser/in mit dieser Protagonistin emotional zu identifizieren, fällt entsprechend leicht.
Das Motiv der ganzheitlichen Naturverbundenheit dieser “weisen” Frau findet sich nicht nur in der liebevollen und empathischen Beziehung zu einer Reihe von (meist jungen) Patientinnen und ihren Neugeborenen. Als Zeichen für diese – sicher nicht zufällig eher weiblichen – Haltung dient auch der besondere Draht zu ihrem Pferd und der fast mystische Kontakt zu einer Füchsin, die in entscheidenden Momenten der Story eine Rolle spielt.
Das Zielpublikum für diesen Roman ist leicht zu beschreiben: Er durfte insbesondere mit dem Zuspruch von Leserinnen rechnen, die das Eintauchen in historische Konstellationen lieben und sich in einem solchen Setting auch gerne emotional ansprechen lassen. Eine Frau wie die Hebamme Martha Ballard bietet sich als geradezu perfekte Identifikationsfigur für weibliche Selbstermächtigung an. Dabei ist positiv zu vermerken, dass die Betonung der Naturnähe nicht auf eindeutig esoterische Abwege führt. Auch die Tatsache, dass es eine rundum positive Männerfigur gibt, verschafft dem Roman eine angenehme Differenziertheit.
Ohne Zweifel bietet der Roman von Ariel LAWHON – natürlich auch männlichen Lesern – einen anregenden und informativen Einblick in eine Epoche, in der es in der “neuen Welt” noch geradezu heldenhaften Einsatz und Mut bedeutete, sich als Frau in einer reinen Männergesellschaft Gehör zu verschaffen und für die Rechte von Frauen einzutreten.
Irritierend sollte dabei der Umstand sein, dass es heute immer noch beträchtliche Bereiche dieses Planeten gibt, in denen für Frauen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse die alternativlose Realität darstellen.
Ach ja: Unterhaltsam und spannend erzählt ist die Geschichte von Martha auch!
In einem Nachwort erklärt die Autorin dankenswerter Weise den historischen Background und die fiktionale Abweichung vom Ursprungstext.
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