09.05.2024 GRÜNEN-Bashing als Volkssport

Ich kann es kaum noch ertragen, dass Vertreter der GRÜNEN in jeder Talkshow mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie würden die Menschen überfordern und gängeln (zuletzt wieder am 08.05. bei Maischberger). Es ist eine Stimmung entstanden, in dem jeder Versuch, die – angeblich allseits akzeptierten – Klimaziele in praktische Politik umzusetzen, als willkürliche Schikane diffamiert wird.
Ich ärgere mich inzwischen nicht nur über die dreisten Anschuldigungen, sondern auch über die defensiven Reaktionen darauf. Manchmal hört es sich so an, als ob sie selbst nicht mehr daran glauben würden, dass lang erkämpfte Maßnahmen oder Auflagen absolut richtig und notwendig sind (auch in der Landwirtschaft). Als ob sie sich dafür entschuldigen müssten, dass sie die einzigen sind, die sich ernsthaft damit befassen, dass Nachhaltigkeit auch in reale Politik umgesetzt wird.
In dieser Sendung, in der es um die aktuellen Gewalttaten gegenüber politischen Mandatsträgern ging, hat Aiwanger mehrfach die AfD und die GRÜNEN als zwei Pole von “Extremismus” genannt. Soweit ist es gekommen! Angeblich kritische Journalistinnen lassen das durchgehen…


 

“The Moral Landscape” von Sam HARRIS

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Philosoph, Neurowissenschaftler und Schriftsteller ist einer der wirkmächtigsten links-liberalen Intellektuellen in den USA. Seine Bekanntheit verdankt er vor allem seinen zahlreichen öffentlichen Debatten mit anderen Geistesgrößen, die auf seinem eigenen YouTube-Kanal, in anderen digitalen Formaten bzw. in Veranstaltungen stattfinden.
Der Atheist und Meditations-Lehrer HARRIS bekennt sich zu einer säkularen humanitären Ethik, in der Religionen vorrangig nicht als Lösung, sondern als Teil unserer moralischen Probleme gesehen werden.

In diesem Buch wagt sich HARRIS an die Frage heran, ob und wie weit ausgerechnet die Wissenschaften geeignet sein könnten, ein allgemeingültiges Wertesystem zu schaffen und uns so als Wegweiser für unser moralisches Handeln zu dienen. Da diese Überlegungen sehr grundsätzlicher Natur sind, spielt es keine Rolle, dass das Erscheinen des Buches schon ein paar Jahre zurückliegt.

Der Autor hält die strickte Trennung zwischen der empirisch/wissenschaftlichen Welt der Fakten und der philosophisch/geistig/religiösen Welt von Ethik und Moral für nicht stichhaltig. Auf der einen Seite seien auch moralische Konzepte, Regeln, Empfindungen und Verhaltensweisen ein ganz normaler Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung – von der Evolutionsbiologie, über Gesellschafts-, Kultur- und Sozialwissenschaften bis zur Neurowissenschaft. Darüber hinaus – und hier fühlen sich viele andere provoziert – ist HARRIS überzeugt davon, dass sich objektive (zumindest kulturübergreifende) Maßstäbe dafür finden lassen, welche Regeln bzw. Verhaltensmuster zu einem “besseren” moralischen Ergebnis führen. In diesem Sinne spricht er auch von “moralischen Wahrheiten”. Auf die Beiträge von religiösen Glaubenssystemen oder spirituellen Weisheiten sei man in der “Landschaft der Moral” keineswegs angewiesen.
Dabei zeigt sich HARRIS als ein klarer Gegner des Kulturrelativismus: Vor dem Hintergrund der Maxime der “Leidvermeidung” erscheint es ihm z.B. nicht akzeptabel, Menschenopfer. Sklaverei und Genitalverstümmelung als kulturelle Eigenarten zu akzeptieren.

HARRIS argumentiert sehr grundsätzlich. Da er weiß, dass er sich auf kontroversem Gebiet befindet, nimmt er häufig die möglichen Gegenargumente schon mit in seine Darstellung auf. Das hat den Vorteil, dass man auch die Gegenposition schon ausformuliert kennenlernt.

Der Autor schlägt vor, dass das menschliche Wohlbefinden in einem multidimensionalen Raum moralischer Landschaften dargestellt werden kann, in dem die Gipfel die höchsten möglichen Zustände des Wohlbefindens und die Täler die schlimmsten möglichen Zustände des Leidens repräsentieren. Diese moralische Landschaft sei nicht relativ oder subjektiv, sondern objektiv und könnte – wie schon gesagt – wissenschaftlich untersucht werden. Handlungen, die das Wohlbefinden fördern, seien (objektiv) moralisch gut, während Handlungen, die Leiden verursachen, moralisch (objektiv) schlecht seien.

Natürlich ist HARRIS nicht so naiv, davon auszugehen, dass er mit ein paar relativ einfachen Kernthesen die Jahrtausende währende Auseinandersetzung um die Entstehung und Begründung von Moral aus den Angeln heben könnte. Er stellt sich der Komplexität der Thematik und taucht in die Tiefen der unterschiedlichen Sichtweisen ein.
Ausführlich diskutiert u.a. die Frage nach der Herkunft von “Werten”: Für HARRIS erscheint es abwegig zu sein, dass es ein Wertesystem geben könnte, dass sich nicht in Wohlbefinden bzw. Leid von bewussten Geschöpfen widerspiegeln würde.

Seine mit diesem Buch verbundene Mission dient weniger der Verkündung einer neuen Wahrheitslehre, sondern dem Versuch, all die Möglichkeiten auszuschöpfen, die uns mit einer Nutzung all unser bisher erzielten Erkenntnisse zur Verfügung stehen. Bevor wir vor den Detailfragen kapitulieren (für die es vielleicht tatsächlich keine wissenschaftlich begründbaren Antworten gibt), sollten wir die großen, prinzipiellen und objektiv entscheidbaren Herausforderungen angehen. Mit Bildung, Rationalität und Dialog könnte ein schrittweiser moralischer Fortschritt gelingen.

Als besondere Zugabe enthalten spätere Auflagen des zuerst 2010 erschienen Buches ein Kapitel, in dem der Autor auf die bekanntesten Kommentare und Kritiken seines Textes bzw. seiner Thesen reagiert. Es gelingt ihm darin sehr überzeugend, die Schwachstellen seiner “Gegner” herauszuarbeiten und sie in vielen Punkten der intellektuellen Unredlichkeit zu überführen.

Dieses sehr anregende und viele grundsätzliche Fragen des Humanismus berührende Buch gibt es leider nicht in deutscher Übersetzung. Da HARRIS (wie viele andere amerikanische Autoren) in einem gut verständlichen, eher journalistisch-geprägten Englisch schreibt, ist es halbwegs geübten Lesern gut zugänglich. Das schränkt andererseits den Charakter des Buches als wissenschaftliches Fachbuch nicht ein – was sich nicht zuletzt an dem extrem umfangreichen Anmerkungs- und Literaturverzeichnis ablesen lässt).
Der Aufbau des Textes könnte allerdings an einigen Stellen noch klarer strukturiert sein; gelegentlich findet man sich in Argumentationsschleifen wieder, die man als schon abgehakt in Erinnerung hat. Bei einigen Aspekten, die HARRIS offenbar unbedingt noch in dem Buch unterbringen wollte, wäre vielleicht weniger mehr gewesen. Aber das sind nur Feinheiten, die den Wert des Buches nicht ernsthaft tangieren.

“Wahrheiten und Mehrheiten” von Peter STROHSCHNEIDER

Bewertung: 3.5 von 5.

Der Autor – ein im deutschen Wissenschaftsbetrieb einflussreicher Germanist – legt eine Publikation vor, die nicht nur das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Demokratie gründlich ausleuchtet, sondern auch für eine Begrenzung des Geltungsanspruchs der Wissenschaften im gesellschaftlichen Diskurs plädiert.
Es ist anzuerkennen, dass der Autor diese Parteilichkeit schon im Untertitel offenlegt.
STROHSCHNEIDER will der (vermeintlichen) Gefahr entgegentreten, dass sich unter dem Deckmantel eines absoluten und endgültigen Wahrheitsanspruchs eine Verschiebung hin zu einem “autoritären Szientismus” vollziehen könnte, in dem dann durch eine illegitime Selbstermächtigung der Wissenschaftlichkeit die bewährten Aushandlungs- und Entscheidungsregeln unserer pluralistischen Demokratie eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt wären.

Dieses Buch ist alles andere als ein kämpferisches Pamphlet: STROHSCHNEIDER analysiert und argumentiert auf einem hohen sprachlichen und intellektuellen Niveau.
Die Leserschaft lernt eine Menge über die Komplexitäten des Wissenschaftssystems und der politischen Willensbildung.
Entsprechend seiner Zielsetzung deckt er z.B. Schwächen und Widersprüche bei Klima-Aktivisten auf, die ihren wissenschaftlichen Status in zweifelhafter Weise dazu benutzen, bestimmte politische Einzelentscheidungen zu begründen. Besonders kritisch setzt sich der Autor auch mit Karl Lauterbach auseinander, der in seinem Buch (“Bevor es zu spät ist“) für eine stärkere Präsenz von wissenschaftlicher Kompetenz in der Politik plädiert.

Ein Schwerpunkt des Textes befasst sich mit der prinzipiellen Frage, welchen Stellenwert Wahrheit, Evidenz oder Fakten gegenüber der freien politischen Meinungs- und Mehrheitsbildung haben soll bzw. darf.
Hat die Mehrheit das Recht, sich für kontrafaktische, dumme oder gefährliche Alternativen zu entscheiden? Auf welchen Gebieten sollen welche Disziplinen mit welchen Vertretern Gehör finden? Als Berater oder als (mit-)Entscheider? Droht da vielleicht die Expertokratie? Gibt es überhaupt die eine Wissenschaft? Sind nicht alle Erkenntnisse sowieso vorläufig? Steht Wissenschaft nicht auch in Abhängigkeiten, Interessenskonflikten und Machtkämpfen?
Um es kurz zu sagen: Der Autor legt sein ganzen Gewicht in die Waagschale der Demokratie und weist weitergehende Ansprüche der Wissenschaft zurück.

Die Covid-Pandemie und die Klimawende eignen sich natürlich besonders gut dafür, sich die Wechselwirkung zwischen den beiden Systemen konkret anzuschauen; das nutzt der Autor gründlich aus.
STROHSCHNEIDER leugnet weder die Bedrohung durch den Klimawandel (und anderer ökologischen Risiken), noch relativiert er die Pandemie. Aber er identifiziert die bereits grundsätzlich diskutierten Schwächen bzw. Gefahren einer Wissenschafts-Dominanz auch in diesen Bereichen (und wiederholt sich dabei ein wenig).
Als leidenschaftlicher Verteidiger der demokratischen Prozesse lässt er den Hinweis auf “Not- bzw. Ausnahmesituationen” nicht gelten (was sich wiederum gegen Lauterbachs Argumentation richtet).
Zugutehalten muss man STROHSCHNEIDER, dass er sich auch mit der Querdenker-Fraktion kritisch auseinandersetzt – allerdings nicht ohne einen Hinweis auf die Mitverantwortung des vermeintlich grenzüberschreitenden Wissenschaftsbezugs.

Auch wenn man dem Autor sicher nicht den Vorwurf einer generellen Undifferenziertheit machen kann: Es entsteht der Eindruck, dass sein persönliches Wertesystem deutlich stärker durch die Bedrohung demokratischer Spielregeln als durch die drohende Klimakatastrophe in Wallung gerät. Sein hochtheoretisches Abwägen klingt doch ein wenig nach Elfenbeinturm eines Gelehrten, der von der realen Dramatik der ökologischen Krise wohl nicht aus dem Schlaf gerissen wird.
Bei aller verständlichen Kritik an einer unreflektierten Selbstermächtigung vermeintlich omnipotenter Wissenschaftler: STROHSCHNEIDER vergisst doch ein wenig, dass auch eine Wissenschaft mit Schwächen, Widersprüchen und begrenztem Wahrheitsanspruch immer noch mit Abstand das beste und erfolgreichste System darstellt, sich der Wirklichkeit und ihren Gesetzmäßigkeiten zu nähern. Die Tatsache, dass der Autor in dem Text (gefühlt) auf jeder fünften Seite auf die Vorläufigkeit von Erkenntnissen hinweist, stärkt nicht gerade seine Argumentationskraft.
Kritisch ist auch anzumerken, dass STROHMEYER etwas locker mit den verschiedenen Entscheidungsebenen umgeht: Er tut wiederholt so, als ob sich Wissenschaftler permanent anmaßen würden, jede Einzelmaßnahme streng empirisch – und damit unangreifbar – aus der Faktenlage ableiten zu wollen. Den meisten Klimawissenschaftlern würde es völlig ausreichen, wenn die (längst vollzogene) Verpflichtung auf die Klimaziele endlich unwidersprochene und unhinterfragte reale Politik würde. Auf diesem Hintergrund läuft auch das Schlusskapitel ziemlich ins Leere, in dem der Autor eine saubere (aber kooperative) Arbeitsteilung zwischen den beiden Bereichen vorschlägt. Die meisten Wissenschaftler würden da wohl kaum widersprechen.

So bleibt am Ende ein gemischtes Bild: Wer in dem unübersichtlichen Gelände von Wissenschaft und Politik nach niveauvoller und facettenreicher Weise nach Orientierung sucht, dem/der macht STROSCHNEIDER hier ein attraktives Angebot. Jede zukünftige Diskussion wird davon mit Sicherheit profitieren.
Man muss allerdings in kauf nehmen, dass die Prioritäten vom Autor klar gesetzt sind: Er glaubt nicht daran, dass der Zeit- und Problemdruck eine Neuverteilung der Einflussfaktoren erforderlich macht.
Also lieber die Kipppunkte reißen als den Fakten zu viel Macht im Spiel der Kräfte geben?!

“Moralspektakel” von Philipp HÜBL

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Philosoph HÜBL hat vor einigen Jahren ein großartiges Buch über die emotionalen und rationalen Grundlagen der Moral geschrieben (“Die aufgeregte Gesellschaft“, 2019). Mit seinem neuen Buch bleibt er dem Thema verbunden und liefert eine kritische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen, in denen moralische Fragen dazu missbraucht werden, Anerkennung und Status zu generieren, Andersdenkende vom politischen Diskurs auszuschließen, Macht auszuüben und die gesellschaftliche Stimmung zu polarisieren.
Damit reiht sich das Buch in die aktuellen Betrachtungen zu den Phänomenen “Wokeness” und “Cancel Culture” ein – die vom Autor in den weiter gefassten Begriff “Moralspektakel” integriert werden.

Es fällt schnell auf, dass HÜBL wohl so ziemlich mit all den modernen Begrifflichkeiten vertraut ist, die man im Umfeld des moralisch aufgeladenen Diskussionsklimas vorfindet. Das ist schonmal informativ und hilfreich.
Darüber hinaus kommt es den Lesenden entgegen, dass sie einen gut strukturierten und didaktisch sorgfältig aufbereiteten Text angeboten bekommen. Obwohl er mit Hinweisen auf empirische Untersuchungen nicht geizt und einen beeindruckenden Anhang (mit Anmerkungen, Literatur-, Namens- und Sachregister) liefert, tritt der Autor nicht als nüchterner Wissenschaftler auf. HÜBL versteckt seine Position nicht, an jeder Stelle wird deutlich, dass er hier für seine Sichtweise wirbt.

In einem Einleitungskapitel legt der Autor seinen wesentlichen Gedankenlinien schon recht umfangreich dar. Das gibt den Leser/innen Orientierung, schafft aber auch die Grundlage für einige spätere Redundanzen.

HÜBL steigt ein mit einem historischen Rückblick auf die moralischen Maßstäbe und Diskussionen der letzten Jahrzehnte und beschreibt eine deutliche Verschiebung in Richtung einer zunehmender Empfindsamkeit, einer Ausweitung von Themen/Anlässen und einer gesteigerten emotionalen Aufladung. Da Gesellschaften “objektiv” eher offener und toleranter geworden seien, könne man angesichts des Klagens über Moraldefizite von einem “Moralparadox” sprechen.
Ein zweiter Blick gilt den allgemeinen Grundlagen von Ethik und Moral: HÜBL betrachtet biologische, evolutionäre, philosophische, kulturelle und psychologische Bausteine sowohl unseres Moralempfindens, als auch der Alltagsmoral. Dabei kommen auch (kognitive) Verzerrungen in Wahrnehmung und Urteilen zur Sprache, ebenso wie unsere – tief verwurzelte – Neigung, uns über Moral selbst aufzuwerten und unseren sozialen Status zu sichern bzw. zu erhöhen.
Auf soziologisch-kultureller Ebene arbeitet der Autor unterschiedliche Moralkulturen heraus: Ehrenkulturen, Würdekulturen und Opferkulturen zeigen typische Werte-Muster, die für das moralische Klima entscheidend sind. Der Autor sieht uns gerade auf einem (inzwischen übertriebenen) Weg in einer Kultur der Verletzlichkeit und Fürsorge, in der manchmal eine geradezu pathologische Sorge bestehe, selbst geringste (von den vermeintlichen Opfern selbst oft gar nicht registrierte) Benachteiligungen bestimmter Minderheiten-Gruppen zu übersehen.

HÜBL sieht in der großen Bedeutung der eigenen Moral für die Definition der Identität ein Grund dafür, dass die moralische Außendarstellung – unter Einfluss der sozialen Medien – inzwischen eine überbordende Rolle spielt. Der Wettbewerbe um Status und Einfluss wird – so ist HÜBL überzeugt – heute bevorzugt auf der Ebene der (vermeintlichen) moralischen Überlegenheit ausgetragen: sein “moralisches Kapital” zu vermehren sei heute ein zentrales Ziel für Individuen, Unternehmen und gesellschaftliche Gruppen. Dabei seien an allen Ecken Trittbrettfahrer und Etikettenschwindler zu finden; moralische Empörung und Effekthascherei machten sich insbesondere in der digitalen Welt breit. Der Drang zur perfekten moralischen Reinheit führe im Extrem zur permanenten Selbstgeißelung als Angehöriger einer privilegierten Gruppe.

In einem zweiten Teil seines Buches wendet der Autor seine Analysen auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse an: Er spricht von Opfer-Hochstablern, von links- und rechtsgerichtetem Autoritarismus, von Trollen und Narzissten, von Einschüchterungskultur und Shitstorms. Und natürlich von Wokeness, Cancel-Culture und dem Unterschied zwischen (“inklusiver”) Sprache und Realität.
Generell gilt: HÜBL mag einfach keine Moral-Überheblichkeit – insbesondere, wenn das eigene Verhalten den – oft ins Uferlose gesteigerten – Ansprüchen an andere nicht gerecht wird. Da gilt es dann, hinter dem Moralspektakel die tatsächlichen Motive und Strategien zu erkennen.

Nachdem sich der Autor noch einige Kernbegriffe des moralischen Diskurses kritisch zur Brust genommen hat, stellt er die Schwächen des Konzeptes der “Intersektionalität” (der Addition einzelner Diskriminierungsmerkmale) dar: Die hier konstruierten Opferhierarchien hielten der Realitätsüberprüfung oft nicht stand. Da fällt dann auch mal ein kritisches Wort zur wissenschaftlichen Güte gewisser Gender-Studies, zu der Bereitschaft, wissenschaftliche Standards zu relativieren, wenn damit dem “indigenen Wissen” einer kolonialisierten Kultur geschmeichelt wird und zu der Aufnahme von Wokeness-Ansprüchen in die Kriterien für wissenschaftliche Veröffentlichungen.
Von das aus ist es nicht mehr weit zu der Schlussfolgerung, dass es oft der linksliberale Mainstream mit seiner reflexhaften Toleranz auch für die Positionen radikaler Aktivisten ist, der als Gegenbewegung einen rechtskonservativen Roll-Back erzeugt.

Der anregende – und stellenweise durchaus auch leicht provokante – Text wird durch acht nachvollziehbare Vorschläge gekrönt, die dem Moralspektakel das Wasser abgraben sollen: Da geht es um Universalität, Faktenbezug, Offenheit der Diskussion und eine vernunftbezogene moralische Bescheidenheit.

HÜBL wird sich mit dieser Publikation in den progressiven Kreisen sicher nicht nur Freude/Freundinnen machen; manche seiner Statements hinterlassen sicher den ein oder anderen Kratzer. Dass er das in kauf nimmt, ist ihm hoch anzurechnen.
Die Seiten gewechselt hat der Autor mit diesem streitbaren Text nicht: Indem er die Übertreibungen bekämpft, will er letztlich die aufgeklärten, toleranten und freiheitlichen gesellschaftlichen Entwicklungen stärken und erhalten.


“Das ausgeglichene Gehirn” von Dr. Camilla NORD

Bewertung: 4.5 von 5.

Mal wieder ein Buch über das Gehirn und die Neurowissenschaft. Geht es in der Masse ähnlicher Publikationen unter? Meine Antwort lautet: “nein”!

Wir haben es hier mit einem besonderen, vielleicht sogar mutigen Projekt zu tun. Für eine Einführung in die Gehirnforschung ist die Fragestellung viel zu speziell. Für ein populärwissenschaftliches Sachbuch geht es zu sehr in die Tiefe, ins Detail. Für ein lupenreines Fachbuch ist der Schreibstil ein wenig zu persönlich, zu journalistisch. Für ein Ratgeber-Buch sind die dargestellten Zusammenhänge zu komplex und die Schlussfolgerungen bzw. Empfehlungen nicht plakativ genug.
NORD entzieht sich also mit ihrem Buch einer klaren Zuordnung – aber was sagt das über die anvisierte Zielgruppe aus? Man könnte diese wohl am ehesten in pädagogischen, psychologischen, therapeutischen oder medizinischen Fachkreisen vermuten – oder bei sehr interessierten Laien, die gerne mal unter die Oberfläche tauchen.

In ihrem Labor (in Cambridge) untersucht NORD die Interaktion zwischen Gehirn und Körper bei neuropsychiatrischen Störungen und greift dabei auf kognitive und computergestützte neurowissenschaftliche Methoden zurück.
Mit dieser Publikation verfolgt die Autorin durchaus einen weitgehenden Anspruch: Sie will die Leserschaft davon überzeugen, dass bestimmte grundlegenden neuronale Prozesse nicht nur entscheidenden Einfluss sowohl auf körperliche als auch auf psychische Störungen haben, sondern dass deren Verständnis auch die Basis für eine neue Qualität therapeutischer Interventionen bilden kann. Ihr Endziel ist dabei ein möglichst individualisiertes Vorgehen, das medikamentöse und psychotherapeutische Maßnahmen auf die jeweils spezifischen neurologischen Ausgangsbedingungen ausrichtet.

Man merkt dem Buch von der ersten Seite ab an, dass hier ein sorgfältig strukturiertes didaktischen Konzept verfolgt wird. NORD widmet sich zunächst den Phänomenen “Lust” und “Schmerz”, erläutert dann die Prinzipien der “Erwartungshaltung” und des “Vorhersagefehlers” und kommt dann auf den Aspekt “Motivation/Antrieb” zu sprechen.
Dahinter steht der Grundgedanke, dass die Fähigkeit, angenehme Zustände anstreben (und Schmerz regulieren) zu können ein Fundament für psychische Gesundheit darstellt – und dass dabei immer eine Verzahnung von physiologischen und kognitiven Aspekten eine Rolle spielt.
NORD führt uns in das komplexe Zusammenspiel der Neurochemikalien ein und demonstriert insbesondere am Beispiel der Depression das Ineinandergreifen von Körper, Gehirn, Kognition und Psyche, das bei verschiedenen Menschen zu ganz unterschiedlichen “Schaltkreisen” (z.B. im Lern- und Belohnungssystem) führen kann – und damit auch zu einer unterschiedlichen Wirksamkeit von Therapien.
In einem eigenen Kapitel über Antidepressiva wird hierzu detailliertes und fundiertes Wissen geliefert.

Die zentrale Bedeutung von Erwartungen für Gesundheit und Wohlbefinden wird im Kapitel über die Placebo-Wirkung weiter vertieft. NORD ist überzeugt, dass ohne die Veränderung von konkreten Erwartungen und allgemeinen Glaubenssätzen/Weltsichten keine Heilung psychischer Störungen möglich ist. Dabei ist für sie letztlich zweitrangig, ob die entscheidende Veränderung durch Medikamente, Elektrostimulation, Psychedelika oder kognitive Verhaltenstherapie herbeigeführt werden (am besten wäre immer eine Kombination).
NORD geht so weit, dass sie nicht nur die Grenzen zwischen den Einflussfaktoren ebnet, sondern auch die klare Trennung zwischen den gängigen Störungsbildern in Frage stellt. Sie ist mehr an den konkreten beteiligten Regulationskreisen und ihrer Beeinflussbarkeit interessiert als an klassischen Diagnosekriterien.

Mit den Spezialkapiteln über klassische und moderne Elektrostimulation, über den Einsatz psychedelischer Drogen und die Bedeutung von Lebensstil (Bewegung/Ernährung) löst NORD endgültig den Anspruch ein, einen aktuellen und anregenden Überblick über den Zusammenhang zwischen Neurowissenschaft und psychischer Gesundheit vorzulegen.
Sympathisch ist dabei, dass NORD durchweg vorsichtig und differenziert argumentiert: Immer wieder warnt sie vor zu schnellen und einseitigen Schlussfolgerungen, mahnt Zurückhaltung und weitere Forschung an. Hier möchte niemand den Stein der Weisen verkünden, hier wird kein neuer Therapieansatz gehypt.
NORD stellt eine spezielle Sichtweise vor, durch die sich die Frage nach dem Vorrang von Psyche und Gehirn endgültig erledigt. Sie zeigt eher eine vielversprechende Forschungsperspektive vor als eine fertige Lösung: “Science in progress”!
Ein bisschen Selbsthilfe ist dann am Ende doch dabei – aber auch das geht sympathisch unaufgeregt und abgewogen vonstatten.

Nein – dieses Buch geht nicht in der Masse der Gehirn-Erklärungs-Werke unter.
Es ist ein mutiges und aufklärerisches Buch, weil es in die Tiefe geht, aber letztlich einfache bzw. endgültige Antworten vorenthält.

“Demokratie und Revolution” von Hedwig RICHTER und Bernd ULRICH

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Titel dieses Buches ist unglücklich gewählt: Zwar erschließt sich der Sinn des plakativen Haupttitels im Laufe des Lesens, er ist aber kaum geeignet, einen ersten einladenden Hinweis auf die auf Inhalt oder Zielsetzung zu geben. Der Untertitel verrät zwar ein bisschen mehr – seltsamer Weise wird aber der – eigentlich pfiffige – Bezug zur KANTschen Definition von Aufklärung im Text nicht aufgegriffen. Irgendwie schade!
Davon abgesehen haben wir es hier aber mit einem brandaktuellen und hochrelevanten Sachbuch zu tun, das viele Stärken und kaum Schwächen aufweist.

Das Autorenbündnis zwischen der Historikerin RICHTER und dem bekannten ZEIT-Journalisten ULRICH hat einen Text hervorgebracht, der sowohl eine zeitgeschichtliche Aufarbeitung der Umwelt- und Klimapolitik der letzten 50 Jahre beinhaltet, als auch interessante, kreative und anregende Interpretatios-Schablonen zur gesellschaftlichen Einordnung der zugrundeliegenden Prozesse anbietet.
Beide kompetent und verständlich ausgearbeiteten Perspektiven sind darauf gerichtet, etwas zu erklären, das die Autoren mit tiefster Überzeugung nicht nur als “eigentlich” völlig unfassbar, sondern auch als extrem bedrohlich empfinden: Wie kann es sein, dass einer gut informierten und mit allen notwendigen Ressourcen ausgestatteten Gesellschaft die notwendigen Schritte zur Transformation in eine nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise nicht gelingt? Und wie konnte es passieren, dass ausgerechnet im heißesten jemals gemessenen Jahr 2023 der Klimaschutz in Deutschland zu einem Looser-Thema verkam?

Wenn man sich auch nur halbwegs mit den Zielen des Klima- und Artenschutzes identifiziert, kommt man beim Lesen dieses Buches aus dem zustimmenden Nicken kaum mehr heraus. Es tut wirklich sehr gut, in Zeiten des Zauderns, des Ablenkens, des Verleugnens und der gezielten Desinformation so eine riesige Portion Klartext geschenkt zu bekommen. Endlich wird der politischen und medialen Klimawende-Ignoranz – insbesondere des letzten Jahres – mal etwas potentiell Wirkmächtiges entgegengesetzt: Daten, Analysen, Erklärungen, Vorschläge. Es wurde auch Zeit – angesichts eines Roll-Backs der Klimapolitik, die im krassen Gegensatz zu den beobachtbaren Entwicklungen steht.

Die Autoren sind keine Klima-Aktivisten: Sie scheuen zwar nicht, auch die Dramatik der Situation zu benennen – ihr genuiner Beitrag liegt aber in der soziologischen, psychologischen und politischen Feinanalyse: Sie sezieren Stimmungen, Abwehrmechanismen, Selbstbetrug und Einflussnahmen. Verstehen soll die Leserschaft nicht nur gesellschaftliche Prozesse, sondern auch eigene kognitive und emotionale Dynamiken.

Das Buch deckt ein enormes Spektrum an Betrachtungsebenen ab: Es reicht von dem – sehr konkreten, an ethischen Standards orientierten – Umgang mit unseren tierischen Mitgeschöpfen bis zur historisch-politischen Bewertung von reformerischen und revolutionären gesellschaftlichen Entwicklungen.
Das Ganze findet auf einem sprachlichen Niveau statt, das hinsichtlich der Verständlichkeit wissenschaftsjournalistischen Ansprüchen gerecht wird, dieses Buch aber nicht zu einer entspannten Nebenbei-Lektüre Lektüre macht. Immer wieder gelingen den Autoren sprachliche Leckerbissen – wenn sie z.B. die Politik unseres Verkehrsminister so beschreiben. “…im vorauseilendem Gehorsam gegenüber dem scrollenden und klickenden Bürger.”

Man spürt, dass die Autoren im Bereich der Tierethik und des Fleischkonsums eine nochmal gesteigerte persönliche Beteiligung in sich tragen. Das entsprechende Kapitel kratzt – trotz aller Faktenorientierung – gelegentlich etwas an der Grenze zur Missionierung. Das wird nicht jedem/jeder gefallen.
Insgesamt setzt dieses Buch die Bereitschaft voraus, sich auf die unterschiedlichen Perspektiven und Abstraktionsebenen einzulassen – die Belohnung dafür ist ein Füllhorn von Beobachtungen, Fakten, Interpretationen, Ideen und konkreten Vorschlägen.

RICHTER und ULRICH bleiben nicht in der Bestandsaufnahme stecken. Die letzten 25 Seiten sind der “Zukunft” gewidmet und enthalten einen Apell an uns alle (vordringlich an die Wohlhabenden, Reichen und Gebildeten): Wir sollten die Potentiale der Demokratie endlich (wieder) ernst nehmen, statt uns auf der vermeintlichen Trägheit des Systems auszuruhen. Wir sollten – entsprechend den Notwendigkeiten – einen revolutionären ökologischen Aufbruch innerhalb der Demokratie wagen. Das Motiv dafür sollte weder aus der (falschen) Annahme einer Zumutungsfreiheit, noch aus dem (langfristigen) wirtschaftlichen Eigennutz abgeleitet werden. Wir sollten einfach nicht die Menschen sein wollen, die aus egoistischer Bequemlichkeit in die Katastrophe steuern und vor allem die Lebenschancen zukünftiger Generationen verspielen. Wir sollten uns und unsere Mitmenschen für befähigt halten, mit Disziplin und Realitätssinn an die große Menschheitsanforderung der ökologischen Transformation heranzutreten.

Ein kluges, facettenreiches und engagiertes Buch zur rechten Zeit – damit nicht Ignoranz, Zynismus oder Resignation den Sieg davontragen. Mal wieder wünscht man sich, dass es Pflichtlektüre für unsere Entscheider/innen wäre.
Ein erfrischendes und lange überfälliges Plädoyer für die Bedeutung von moralischen Maßstäben und eines prinzipiengesteuerten Selbstbildes bei individuellen und gesellschaftlichen Grundsatzentscheidungen.

24.04.2024 Roll-Back bei der Landwirtschaftspolitik

Generiert über DALLE/ChatGPT 4

Heute ist die jahrzehntelange Arbeit für eine schrittweise Umsteuerung in der europäischen Landwirtschaft beerdigt worden.
Mit ihren militanten Protesten haben es Landwirte aus verschiedenen Ländern geschafft, die mühsam erreichten und erst jüngst beschlossenen Kompromisse zurückzudrehen.

Die Versuche, erste ökologische Kriterien in den hochsubventionierten Agrarbereich einzuführen, waren sowieso nur eher zaghafte Ansätze. Sie zielten darauf, kleine Fortschritte in Richtung Ökologie und Artenschutz zu implementieren. Sie bezogen sich z.B. auf die Erhaltung kleiner Biotope auf einem winzigen Bruchteil der Anbauflächen.

Die Bauernlobby und die sie unterstützenden konservativen Kräfte haben es geschafft, die mühsam ausgehandelten Kompromisse als unzumutbare Bevormundung und Regelungswut ideologischer Bürokraten hinzustellen.

Es ist ein Armutszeugnis, dass sich auch unser grüner Landwirtschaftsminister dieser Stimmung nicht offensiv entgegenstellt und die einseitige Darstellung im Sinne von “unzumutbaren Auflagen” weitgehend unwidersprochen bleibt. Man unterwirft sich so dem allgemeinen Trend, in dem Klima- und Umweltschutz zu einem Verliererthema gemacht wird – so, als ob man sich für all das schämen müsste, was man bisher erreichen wollte.

Ein schlechter Tag für die Nachhaltigkeit – und damit auch für unsere wirtschaftliche Zukunft!

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

23.04.2024 Maximilian Krah bei Thilo Jung

Ich habe heute tatsächlich 6,5 (!) Stunden darauf verwandt, einem Gespräch mit dem europäischen Spitzenkandidaten der AfD zuzuhören. Es handelt sich um Maximilian Krah, der in den letzten Wochen einige Schlagzeilen gemacht hat, und der insbesondere auf YouTube bekannt für seine sehr provokativen Auftritte ist. Der Journalist Thilo Jung hat ihn auf seinem Kanal “JUNG und naiv” ausführlich befragt.

Warum habe ich das getan? Nun Krah ist wohl einer der intellektuell interessantesten Kräfte (Volljurist) innerhalb der AfD-Führung und es ist davon auszugehen, dass er sein politisches und rhetorisches Potenzial in den nächsten Jahren noch sehr öffentlichkeitswirksam zugunsten seiner Partei einbringen wird. Es erschien mir daher sehr interessant, einmal in Ruhe zu analysieren, wie dieser Mensch so tickt.

Entstanden ist ein sehr  heterogenes Bild eines Menschen mit großen intellektuellen Kapazitäten, einem ausgeprägten Selbstbewusstsein und überdurchschnittlichen kommunikativen Fähigkeiten. Wenn dieser Mensch zuspitzt und provoziert, tut er dies aus einem strategischen Kalkül heraus – und sicher nicht, weil er seine Impulse nicht steuern kann.

Während ich ihm in seiner Argumentation in Teilbereichen von “Sex und Gender” tatsächlich gut folgen konnte (weil er sich dort an Wissenschaft und Logik hielt), erwies sich Krah insbesondere im Bereich von Klima und Nachhaltigkeit, bzgl. Europa und gegenüber Trump und Ukraine als geradezu grotesk neben der Spur.

Klar ist jedenfalls: Mit diesem rechten Vollblut-Politiker muss man auch in den nächsten Jahren rechnen. Unterschätzen sollte man ihn ganz sicher nicht.

(Zu weiteren Tages-Gedanken)

“Woke – Psychologie eines Kulturkampfes” von Esther BOCKWYT

Bewertung: 4 von 5.

Wokeness ist nicht nur als kulturelles Phänomen im Trend, sondern hat sich inzwischen auch als Thema im aktuellen Sachbuch-Markt etabliert. Inzwischen überwiegen die kritischen Perspektiven, die oft mit massiven Warnungen vor den gesellschaftlichen Folgen eines ungebremsten Woke-Aktivismus verbunden sind.
Wenn sich eine Autorin eine psychologische Betrachtung der Wokeness-Bewegung auf die Fahnen schreibt, lässt das aufhorchen: verspricht dies doch eine zusätzliche Analyseebenen, also eine Art Meta-Perspektive auf die zugrundeliegenden Dynamiken.
Kann BOCKWYT diese Erwartung erfüllen?

Auf der quantitativen Ebene überrascht zunächst die starke Gewichtung des Darstellungs-Teils. Es wird in diesem Buch keinerlei Wissen über die verschiedenen Facetten des Gegenstandes vorausgesetzt – im Gegenteil: Ca. die Hälfte des Textes wird darauf verwendet, die Entstehung, die weltanschaulichen Grundlagen, die Einzelbereiche und die Ausdrucksformen von “Woke-Sein” ausführlich und differenziert zu beschreiben. Dabei geht die Autorin so weit ins Detail, dass man ohne Zögern von einer substanziellen Einführung in die Thematik sprechen kann; inhaltliche Fragen bleiben da – z.B. in dem extrem informativen Kapitel über Sex und Gender – nicht offen.

BOCKWYT macht keinen Versuch, den Gegenstand ihrer psychologischen Untersuchung zunächst wertungsfrei darzustellen. Vielmehr wird von Anfang an deutlich, dass die Autorin zu den Kritikern und Gegnern eines raumgreifenden Woke-Aktivismus gehört. Ihr Anliegen, den zugrundeliegenden psychischen Mechanismen auf die Spur zu kommen, findet daher nicht in einem wissenschaftlich-neutralen Kontext statt, sondern ist letztlich ein Teil des Versuches, den beobachteten Folgen und Gefahren entgegenzuwirken. Diese sieht die Autorin insbesondere in der kulturellen Spaltung der westlichen Gesellschaften, die durch eine Beschränkung von Denk- und Redefreiheit, extreme und totalitäre Tendenzen in der Bewegung und der aktiven Ausgrenzen und “Canceln” Andersdenkender entstanden ist bzw. weiter droht.
BOCHWYT weist wiederholt darauf hin, dass ihre Kritik und ihre Warnungen keineswegs den ursprünglichen, grundlegenden Zielen einer Bewegung gilt, die sich dem Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus und für Toleranz und Vielfalt verschrieben hat.

Unterscheidet sich dieser Text bis hierhin nicht prinzipiell von ähnlichen Publikationen, kommt jetzt mit der psychologischen Analyse ein Alleinstellungsmerkmal ins Spiel. Gefragt wird: Was treibt die Wokeness-Kämpfer/innen innerlich an? Was führt vielleicht auch zu den Übertreibungen bzw. Auswüchsen in Sichtweisen und Verhalten?
Die spannendste Frage ist dabei wohl: Gibt es spezifische emotionale oder psychodynamische Muster, die man als typisch für die Persönlichkeit besonders engagierter Wokeness-Protagonisten ansehen kann – oder trifft man eher auf allgemeine Faktoren, die sich letztlich auf jede Form von radikalem Engagement anwenden ließe?

BOCKWYTs psychologische Analyse setzt sich mit den Aspekten Narzissmus (insbesondere im Sinne einer extremen Kränkbarkeit), Zwanghaftigkeit (gestrenges Über-Ich), Aggressivität (Lust an der Zerstörung), Negativverzerrung (kognitiver Fehlschluss), histrionische Begeisterung (unreife Überschwänglichkeit) und mit gruppenpsychologischen Dynamiken (Gruppendenken, Radikalisierung) auseinander.
Grundlage für ihre Betrachtungen sind dabei keine (sozial)psychologischen Forschungsbefunde, also etwa vergleichende Studien zwischen mehr oder wenigen woken Personengruppen. Vielmehr schöpft die Autorin aus einem breiten Fundus an – oft unspezifischen – Erkenntnissen und Theorien, die sie per Analogieschluss auf die woke Bewegung anwendet. Dabei reicht das Spektrum von philosophisch-soziologisch fundierten Thesen, über die Sozialpsychologie, die kognitive Verhaltenstherapie bis zur Psychoanalyse.
Das Ergebnis ist ein – aus ihrer Sicht – typisches Muster von Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Denkstrukturen, die sich als Haltungen und Handlungen woker Menschen manifestieren. Vieles davon ist unmittelbar plausibel, manches wirkt auch ein wenig konstruiert. Anregend ist es auf jeden Fall.

Das Buch ist in einem gut verständlichen, journalistisch-orientierten Sachbuch-Stil gehalten. Es setzt keine spezifischen Fachkenntnisse, wohl aber eine Bereitschaft und Fähigkeit zur konzentrierten Themen-Fokussierung voraus.
Ohne Zweifel hat es einen Preis, dass BOCKWYTs Buch in einem insgesamt parteilich-kämpferischen Stil verfasst ist. So entsteht unvermeidlich der Eindruck, dass die wissenschaftlichen Betrachtungen so ausgewählt und gemixt wurden, wie es der inhaltlichen Mission der Autorin dient. Das macht ihre Aussagen nicht falsch oder wertlos; das Vermeiden der ein oder anderen Zuspitzung hätte aber der Glaubwürdigkeit doch gut getan.
Andererseits gibt es Stellen im Text, in denen sich BOCKWYT ganz explizit einer Überwindung von Gräben widmet – insbesondere in dem versöhnlichen Schlusskapitel.

Fassen wir zusammen:
Dieses Buch bietet zunächst eine sehr informative und breite Darstellung des Phänomens “Wokeness” – getragen von einer kritischen Grundhaltung gegenüber den (nicht bestreitbaren) Auswüchsen dieser kulturellen Bewegung. Der Versuch, zugrundeliegende Motive, Denkmuster und psychodynamische Prozesse psychologisch-wissenschaftlich zu analysieren, bietet viel Stoff für vertieftes Nachdenken und (kontroverses) Diskutieren. Allerdings handelt es sich eher um eine suchende, hypothetische Sammlung von erklärenden Facetten als um eine – oder gar die – “Psychologie eines Kulturkampfes”. Auch wenn es spannende Hinweise auf typische woke Muster gibt: Die diskutierten emotionalen und kognitiven Muster und deren Potenzierung in Dynamiken von Gruppenbildung lassen sich ganz überwiegend auf jede Gruppierung anwenden, die sich leidenschaftlich einem Thema verschrieben hat.
Als generelle Erkenntnis kommt rüber: Auch die erstrebenswertesten und edelsten Ziele (z.B. der Schutz von Minderheiten) geben Raum und Gelegenheit für das Ausagieren von menschlichen Grundbedürfnisse (wie z.B. Selbsterhöhung, Wutregulation, Aggression, Zugehörigkeit, Selbstwirksamkeit). Das gilt sowohl für gemäßigte, als auch für übersteigerte Intensitäten solcher – vom Prinzip her sinnvoller – Tendenzen.
Sich individuell und gesellschaftlich gegen maßlose Forderungen und Reglementierungen zu Wehr zu setzen – auch dazu ermutigt dieses Buch. Der stellenweise etwas kämpferische Ton wird nicht allen gefallen, schmälert aber nicht den Informationswert.

“Im Moralgefängnis” von Michael ANDRICK

Bewertung: 1.5 von 5.

Warum – so fragt sich die interessierte Leserschaft – muss ein Autor, der für sich reklamiert, einen Beitrag zur Stärkung der Demokratie und des gesellschaftlichen Zusammenhalts leisten zu wollen, sein Buch in einer so wütenden, polemischen und durchweg zugespitzten Sprache verfassen?
Schon ein Blick auf das Buchcover markiert das Problem: Der provokante Titel steht im diametralen Gegensatz zum einladenden Untertitel; leider hat sich der Autor weitgehend für das maximale Getöse entschieden – und übertönt damit sogar die Teile seiner Ausführungen, die eine Beachtung wert wären.
Auch wenn das Überwinden der emotionalen Abneigung gegenüber dem Wutbürger-Sprachstil nicht leicht fällt, soll hier auch eine Auseinandersetzung mit dem Inhalt erfolgen.

ANDRICK sieht unsere Demokratie gefährdet – durch den Infekt “Moralisierung” des privaten und öffentlichen Diskurses; er nennt dieses Virus plakativ “Moralin”, spricht auch von “Moralin-Seuche”, “Moralin-Injektion”, “Moralitis”, “Regime des Moralismus”, “Moralitis-Epidemie”, “Wahnwelt der Fundamentalisten” usw. Zuletzt droht gar die “lebensverstümmelnde Unfreiheit”. Der Autor hat es gern sprachgewaltig…
Was meint er? ANDRICK beobachtet eine eine strukturelle Fehlentwicklung in der politischen Kommunikation, die durch folgende Aspekte gekennzeichnet sei:
– Legitime Meinungsfragen würden zu Auseinandersetzungen um (wissenschaftliche) Wahrheit vs. Lüge bzw. Gut vs. Böse umgedeutet; Sachfragen würden zu Gesinnungsfragen gemacht.
– Die Vertreter der vermeintlich unmoralischen (falschen) Position würden persönlich verunglimpft (Wechsel vom Inhalt auf die persönliche Ebene) und ihnen werde das Recht auf eine gleichberechtigte Teilnahme am Ringen um den besten Weg abgesprochen (Ausgrenzung).
– Es entstehe eine gesellschaftliche Stimmung der Kontrolle und Einschränkung von Gedanken und Meinungen, an der dominante Interessensvertreter, Politik und Medien mitwirkten – bis zu einer “volkspädagogischen” Bevormundung.
– Nach und nach bilde sich so ein kollektiver Angst- und Stresspegel, der zu einem “Befürchtungsregiment” führen und sich bis hin zu einer Angstneurose steigern könnte.

Ohne Zweifel spricht der Autor hier Prozesse und Dynamiken an, die eine soziologische und sozialpsychologische Betrachtung verdienen würde. Insbesondere in der “wokeness”-Bewegung und der darauf beruhenden “cancel-culture” lassen sich entsprechende Anhaltspunkte finden.
Das Problem ist nur: Sobald ANDRICK konkret wird, verliert er das “rechte Maß” (nicht im politischen Sinne) und lässt erkennen, dass seine Analysen auf Bewertungsmustern beruhen, die außerhalb einer Blase von Corona-Leugnern und Lügenpresse-Beschwörern wohl nur schwer zu vermitteln sind. Speziell die staatlichen Anstrengungen, angemessen auf die (neue und unzweifelhaft bedrohliche) Pandemie zu reagieren, haben den Autor offensichtlich geradezu traumatisiert: Statt reale Fehler und deren Ursachen zu untersuchen, versteigt sich ANDRICK auf die These, dass sich im “Corona-Regiment” eine “totalitäre” Politik gezeigt hätte, mit “gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit gegen Ungeimpften”. Bei dem erspürten vermeintlich “denunziatorischen Verfolgungsgeist” darf natürlich dir Verweis auf die entsprechenden Vorgänge in der NS-Zeit nicht fehlen…
Kann man, soll man, darf man das noch ernst nehmen?

ANDRICK setzt sich auch skeptisch mit der Frage auseinander, ob es überhaupt legitim sei, sich auf Wahrheit, Fakten oder Wissenschaft zu beziehen. Dabei stellt er den Sinn von “Faktenchecks” eindeutig in Frage: diese seien kaum als unabhängige Instanzen zu betrachten und oft sei auch die Frage, ob es objektive Fakten gäbe, durchaus offen.

ANDRICK missioniert in diesem Buch für den unzensierten Meinungsstreit zwischen gleichberechtigten Akteuren in einem weltanschaulich neutralen, pluralistischen Umfeld. Begrenzende Spielregeln betrachtet er mit Misstrauen: So weist er z.B. Vorwürfe zurück, bestimmte Äußerungen stellten eine “Hassrede” dar und seien deshalb unakzeptabel: dies unterstelle eine – nicht objektiv beweisbare – zugrundeliegende Gesinnung.
Dass sich ANDRICK auch an der Gender-Sprache abarbeitet, bedarf kaum der Erwähnung.

Richtig spannend wäre es gewesen, wenn man in einem Buch über Moral in der Politik eine ernsthafte Diskussion darüber gefunden hätte, welche Rolle diese denn legitimer Weise spielen könnte oder gar müsste. Zwar spricht ANDRICK kurz an, dass es auch echte Moralfragen gäbe, macht aber keine Aussagen darüber, wie denn damit zu verfahren wäre.
Es wäre sicher sehr aufschlussreich gewesen zu erfahren, ob der Autor in der Klimafrage den Hinweis auf bestehende ethisch-moralische Verantwortung auch für kommende Generationen gelten lassen würde. Wenn er das (was überraschend wäre) bejahen würde: Dürften sich dann Klimaaktivisten auf diese Moral berufen? Dürfte ein lupenreiner Egoismus in dieser Frage unmoralisch genannt werden? Welche Auswirkungen hätte das auf gesellschaftliche Bewertungen und Entscheidungen? Wäre das auch ein Beispiel für das “Moralgefängnis”?

Der Autor und sein Buch haben durchaus auch lichte Momente. Einige Betrachtungen gehen tatsächlich ein wenig in die Tiefe und ließen – in einem anderen Umfeld – durchaus produktive Diskussionen zu. Beschrieben werden das Ideal eines freien, unzensierten demokratischen Willensbildungsprozesses, das Aussteigen aus kommunikativen Spaltungsdynamiken und die Bedeutung von gegenseitigem Respekt. Positiv ist auch zu vermerken, dass zumindest erwähnt wird, dass man auch auf der konservativen Seite des politischen Spektrums nicht automatisch vor der Moralisierungs-Mechanismus gefeit ist (wenn auch nahezu alle Bespiele dem Lager der links-grünen Weltverbesserer stammen).
Insgesamt bekämpft diese Publikation eine in bestimmten Fällen durchaus kritikwürdige Tendenz zur Ausgrenzung unliebsamer Positionen mit einem untauglichen und wenig vertrauenserweckenden Mittel: mit Zuspitzung, Übertreibung und Polemik.