“Die elfte Stunde” von Salman RUSHDIE

Bewertung: 4 von 5.

Nachdem der große Erzähler sich nach dem – beinahe tödlichen – Attentat auf sich zunächst mit dieser traumatischen Erfahrung auseinandergesetzt hat, legt er jetzt einen Band mit 5 Erzählungen vor. Sie unterscheiden sich hinsichtlich Länge, Stil und Inhalt, weisen aber auch Gemeinsamkeiten aus, die sich im Titel des Buches widerspiegeln: In Elfte Stunde spannt RUSHDIE einen Bogen über fünf sehr unterschiedliche Geschichten, die alle um späte Lebensphasen, Bedrohung und das Ringen um ein letztes Maß an Freiheit kreisen. Es treten alte Männer, Künstlerfiguren und Schriftsteller als Protagonisten auf; es geht um Tod, Erinnerung, Rache und Sprache.

In „Im Süden“ sitzt dieser späte Moment in einem Mietshaus einer südindischen Großstadt: Zwei sehr alte Nachbarn, Junior und Senior, hängen in einer jahrzehntelangen Hassliebe aneinander fest, während im Hintergrund eine nationale Katastrophe heraufzieht. Die Geschichte ist eher bedächtig, beinahe klassisch-realistisch erzählt, mit leiser Ironie und einem genauen Blick auf Routinen, kleine Bosheiten und die komische Seite der Vergänglichkeit – ein eher zurückgenommener Rushdie, der seine Figuren empathisch über Dialoge und Alltagsdetails ausleuchtet.

„Die Musikerin von Kahani“ führt nach Mumbai in die Welt der Superreichen, der Gurus und der Kunst. Im Zentrum steht Chandni, ein musikalisches Wunderkind, dessen Talent von einem patriarchal geprägten Umfeld vereinnahmt und deformiert wird: von einem Milliardärsclan, der in ihr vor allem eine „Gebärmaschine“ sieht. Stilistisch schlägt Rushdie hier deutlich magisch-realistische Töne an – die Musik scheint in die Wirklichkeit einzugreifen –, gleichzeitig arbeitet er mit satirischen Überzeichnungen, grellen Bildern und scharfen Kontrasten zwischen Luxus, religiöser Pose und innerer Verwüstung.

„Saumselig“ verlegt die „elfte Stunde“ in ein traditionsreiches englisches College, das sofort Assoziationen an Oxford oder Cambridge weckt. S. M. Arthur, ein verstorbener Gelehrter, erwacht als Geist und spukt durch die altehrwürdigen Gemäuer; nur eine junge indische Studentin kann ihn sehen und hören. Hinter dieser Geistergeschichte steht jedoch ein sehr diesseitiges Thema: die lebenslange Verdrängung und gesellschaftliche Ächtung von Homosexualität. Arthurs Biografie erscheint als Protokoll einer existenziellen Beschädigung durch homophobe Normen und institutionelle Heuchelei. Stilistisch verbindet der Text klassische Campus-Atmosphäre mit Elementen der Spukgeschichte und einem feinen, melancholischen Humor, der durchaus auch überraschende Wendungen ermölgicht.

„Oklahoma“ verschiebt die Perspektive stärker in den literarische Kosmos. Ein Schriftsteller sucht in den USA nach Wahrheit und Legende rund um einen älteren Mentor, dessen vermeintlichen Selbstmord und mögliche zweite Existenz. Berichte, Manuskripte und Erinnerungen widersprechen einander, Anspielungen auf Kafka und die Literaturgeschichte öffnen immer neue Ebenen. Die Erzählung ist komplex und findet auf mehreren Dimensionen statt: teils Roadmovie, teils Detektivgeschichte, teils Reflexion über Autorschaft und Identität. Der Stil ist entsprechend: fragmentarisch, selbstreflexiv, immer wieder durchsetzt von literarischen Bezügen. Nicht ganz so glatt zu lesen…

„Der alte Mann auf der Piazza“ schließlich spielt in einem mediterranen Umfeld: Ein alter Mann sitzt Tag für Tag auf der Piazza, während um ihn herum Aktivisten, moralische Wächter und mediale Stimmen über Sprache, Schuld und Grenzen des Sagbaren streiten. Im Zentrum stehen Redefreiheit, Cancel-Kultur und die Frage, was vom öffentlichen Gespräch übrig bleibt, wenn Sprache permanent überwacht und sanktioniert wird. Stilistisch nähert sich Rushdie hier der Parabel an: verdichtet, symbolisch, mit erkennbarer Tendenz zur Zuspitzung.

So ergeben die fünf Texte zusammen ein Mosaik spätester Lebensmomente – alte Körper, späte Wahrheiten, bedrohte oder unterdrückte Existenzen.

Im Vergleich zu den großen, opulenten Romanen Rushdies wirkt Elfte Stunde fast überraschend zugänglich. Vor allem die ersten drei Geschichten sind – für seine Verhältnisse – geradezu schlicht erzählt: weitgehend frei von dem überbordenden Arsenal an Anspielungen auf Kulturen, historische Ereignisse, Kunstwerke und politische Konstellationen, das frühere Texte für manche Leser schwer verdaulich gemacht hat. Rushdie verzichtet hier weitgehend auf das barocke Ausstellen seines immensen kulturellen, historischen und theologischen Wissens. Die Geschichten lassen sich wie „normale“ Kurzgeschichten lesen: linearer, konzentrierter, weniger verspielt. Dadurch verlieren sie zwar einen Teil jener ausschweifenden, funkelnden Überfülle, die man mit seinem Werk verbindet, gewinnen aber deutlich an Zugänglichkeit.
Dieser stilistische Rückbau bedeutet allerdings keine Einbuße an literarischer Qualität. Im Gegenteil: Gerade in der reduzierteren Form tritt die Souveränität des Erzählers umso klarer hervor. In jeder Geschichte spürt man das sprachliche Können, die Variationsbreite seiner Tonlagen und die Lust am Spiel mit Erzählperspektiven und Strukturen. Elfte Stunde ist daher weniger ein „abgespeckter“ Rushdie als ein disziplinierterer – ein Autor, der seine Mittel kennt und sie bewusst dosiert, ohne seine Handschrift zu verleugnen.
Speziell in den beiden letzten Geschichten verlangt der Autor von seinem Publikum dann doch etwas ab – aber RUSHDIE-Fans werden das gerne in kauf nehmen.

(Transparenz-Hinweis: An der Ausformulierung dieser Rezension war eine KI beteiligt).

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