“Zu Besuch am rechten Rand” von Sally Lisa STARKEN

Bewertung: 4 von 5.

Das Buch der Journalistin, Autorin und Podcasterin STARKEN erschien wenige Tage vor der Bundestagswahl 2025. Es darf bezweifelt werden, dass dies der ursprüngliche Zeitplan war; da kam wohl das Ampel-Aus in die Quere.
Aber das Buch wurde auch sicherlich nicht mit dem primären Ziel der Beeinflussung einer Wahlentscheidung geschrieben: Das Motiv lag in der Bedürfnis, eine vertiefende Analyse eines gesellschaftlichen Trends vorzulegen: der verstärkten Zuwendung zu rechtspopulistischem Gedankengut und der dieser Stimmung repräsentierenden Partei.

Die Publikation bewirbt sich auf der Buchrückseite und auf dem Klappentext als Reise in die rechten Randzonen von Deutschland und als Ergebnis eigener Erkundungen und Gespräche. Das ist auch nicht verkehrt, weil von solchen Kontakten (natürlich) auch berichtet wird.
Überraschend ist allerdings die Gewichtung: Der Austausch mit Experten, der Bezug auf Forschungsergebnisse bzw. Veröffentlichungen und eigene strukturierende Betrachtungen nehmen einen weit größeren Raum ein, als das zu erwarten gewesen wäre.
Das macht das Buch nicht weniger wertvoll, aber ein bisschen Mogeln ist schon dabei.
Jedenfalls rechtfertigt die insgesamt doch recht geringe Zahl an geschilderten Einzel-Kontakten nicht die in Aussicht gestellte Besonderheit dieses Buches. Es ist in weiten Teilen eben doch eine politisch-soziologische Analyse – auf der Basis von persönlichen Eindrücken, Expertengesprächen und Datenmaterial.

Inhaltlich ist der Text ohne Zweifel sehr informativ und auf der Höhe des gesellschaftlichen und medialen Diskurses. Die Autorin versteht es gut, die unterschiedlichen Facetten des Themenbereiches einzufangen, zu ordnen und nachvollziehbar in gut verständlicher Sprache darzustellen. Insgesamt wirkt der Text eher wie ein journalistisches Sachbuch, als dass der persönliche Erlebnischarakter im Vordergrund stände.
Sie strukturiert ihre Betrachtungen nach Themenbereichen wie der zeitlichen, geografischen und demographischen Entwicklung, spricht die erfolgreiche Social-Media-Strategie, die zentrale Bedeutung des Migrationsthemas und das Phänomen des Protest-Wählertums an. Am Ende geht es um Strategien für Gespräche mit Menschen, die man noch nicht an den rechten Rand “verloren” wähnt. In diese Kapitel sind dann jeweils beispielhafte Begegnungen mit realen Gesprächspartnern eingestreut.

In Bezug auf die eigene Position und das politische Ziel des Buches lässt die Autorin kein Zweifel entstehen: Es geht hier nicht um eine neutrale wissenschaftliche Publikation. Der Text richtet sich an Gleichgesinnte, die auch ganz selbstverständlich geduzt werden. Das gemeinsame Ziel, den Rechtspopulismus und Rechtsradikalismus zu bekämpfen, wird vorausgesetzt.
Die Autorin ist ganz eindeutig darum bemüht, keine unüberwindbare Mauern aufzubauen; sie stellt offene Fragen, ihr geht es um ein echtes Verständnis von Sichtweisen, die ihr in ihrem privaten Alltag nicht vertraut sind. Sie dämonisiert nicht, sie wertet nicht ab. Sie sucht nach Antworten, die es nur geben kann, wenn man sich auf das Bezugssystem des Gegenübers einlässt.

Was man jedoch auch durchweg spürt: Bestimmte Haltungen (z.B. zur Migration) sollen und können zwar verstanden und biografisch bzw. sozial eingeordnet werden; die Möglichkeit, dass sie auch “richtig” (angemessen, sachgerecht) sein könnten, schimmert aber an keiner Stelle durch. Man darf in diesem Buch nicht erwarten, dass das Weltbild der Autorin an irgendeiner Stelle auch nur ein bisschen ins Wanken kommt.
Man darf leider auch nicht erwarten, dass der mögliche Anteil von links-progressiv-aktivistischen Forderungen bzw. Einflussnahmen an der Rechtsverschiebung des gesellschaftlichen Klimas (selbst)kritisch analysiert wird. Wenn STARKEN auch so ziemlich jede Spur von möglicher Verursachung verfolgt: Den Blick für eine Mitverantwortung durch eine mögliche Überforderung der Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich des zugemuteten Wandels (z.B. bei der Berücksichtigung diverser Minderheitsgruppen) hat sie nicht.

Was bleibt ist ein informatives Sachbuch – mit einem persönlichen Touch – zu einem gesellschaftlich extrem relevanten Thema. Letzteres wird sich vermutlich leider – dieser Text wurde am 23.02.25 vor der Bekanntgabe der Ergebnisse der Bundestagswahl geschrieben – nicht so schnell verändern.

“Mein Ein und Alles” von Gabriel TALLENT

Bewertung: 3 von 5.

Es geht hier um einen in den USA und Frankreich sehr erfolgreichen Debüt-Roman eines kalifornischen Schriftstellers, den dieser nach achtjähriger Recherche 2017 im Alter von ca. 30 Jahren veröffentlichte. Das Buch wurde insbesondere daher stark beachtet und diskutiert, weil es den massiven und andauernden Missbrauch eines vorpubertären Mädchens durch ihren alleinerziehenden Vater in sehr eindringlicher und drastischer Form schildert.

Einem Roman, der sich der Macht- und Beziehungsdynamik einer gewaltsamen Missbrauchssituation und dem Leiden des ausgelieferten Opfers widmet, begegnen wohl viele potentielle Leser erstmal mit Interesse und Sympathie. Literarisch stellt sich die Frage, mit wieviel psychologischer Tiefgründigkeit die Persönlichkeit des Täters analysiert wird und wie feinfühlig und empathisch die körperlichen und seelischen Verletzungen des Opfers erlebbar gemacht werden.

Zunächst kurz zum Handlungsrahmen: Die Geschichte spielt in einem sehr ländlich-urwüchsigen Teil von Kalifornien, wo Vater und Tochter nach dem tragischen Tod der Mutter weit entfernt von einer urbanen Zivilisation leben. Im ersten Teil der Geschichte ist noch der (väterliche) Großvater in der nahen Umgebung präsent. Die Busfahrt zur Schule stellt für die junge Turtle die einzige Verbindung zur Außenwelt dar; sie ist allerdings dort nicht sozial eingebunden und letztlich ihrem einsiedlerisch lebenden Vater völlig ausgeliefert.
Der Autor konfrontiert uns sehr schnell mit der harten Wirklichkeit dieses Lebens in dieser Wildnis: Diverse Waffen bilden praktisch von der ersten Seite ab einen zentralen Bestandteil des Alltags und Turtle ist seit ihrer Kindheit im Umgang mit Messern und diversen Schusswaffen selbstverständlicher und besser vertraut als “normale” Altersgenossen mit ihrem Lieblingsspielzeug. Der waffenverliebte und ganz offensichtlich psychisch auffällige Vater bildet seine Tochter geradezu systematisch zu einer auf alle Eventualitäten vorbereitete Einzelkämpferin aus.

Aus fachlicher Sicht betrachtet steht im Zentrum dieser Missbrauchs-Konstellation die – sowohl für den Täter, als auch für das Opfer – unauflösbare Verquickung zwischen einer hoch-toxischen Form von pathologischer “Liebe” und massiver zerstörerischer Gewaltausübung bzw. Abhängigkeit. Ohne Zweifel ist gehört die Darstellung der lähmenden Ambivalenz dieser emotionalen Gefangenschaft, die dem Mädchen die Flucht aus ihrem Martyrium verunmöglicht, zu den Stärken dieses aufwühlenden Romans.
Der psychologische Einblick in die Täterpersönlichkeit fällt weniger überzeugend aus – zumindest, wenn man mehr verlangt, als eine eindeutige Darstellung einer gravierenden Persönlichkeitsstörung.

Der Schlüssel zu der Intensität der Schilderungen liegt in der geradezu physisch spürbaren Kraft der eingesetzten, extrem bildhaften, präzisen und gleichzeitig wortgewaltigen Sprache. TALLENT hat ein wirklich bemerkenswertes Talent (das Wortspiel bot sich an), Alltagsszenerien, intensive Naturphänomene und vor allem Gewalt (und ihre Folgen) in einer Plastizität auszumalen, dass sich einem die passenden Bilder geradezu zwangsläufig aufdrängen: Wozu so etwas verfilmen, wenn die Sprache schon alles fertig liefert?

Das Problem: Dem Autor selbst ist seine Begabung nicht verborgen geblieben! Statt diese allerdings wohl dosiert und dramaturgisch passend komponiert in seinen Plot einfließen zu lassen, leert TALLENT sein sprachliches Füllhorn in einer überschießenden Dauerberieselung über seine Leserschaft aus. Das Ergebnis: Ein chronisches Intensitäts-Overload!
So bietet z.B. der – für rechte USA-Gruppierungen typische – perverse Waffenfetischismus des Vaters sicher ein lohnendes Feld für eine knackige Darstellung; der Autor liefert uns allerdings auf hunderten Seiten eine permanente Konfrontation mit einem ganzen Arsenal von verschiedensten Schusswaffen – einschließlich ausführlicher Einblicke in Munitionssorten, Mechanik und Wartung. Ähnlich ungebremst verfährt der Autor mit Kampfszenen oder mit bestimmten Unbilden der Natur.
Kurz gesagt: TALLENT merkt nicht, wann es genug ist!

Natürlich gibt es in dem Handlungsverlauf eine Entwicklung, noch ein paar Nebenfiguren und einen Spannungsbogen. Schon nach den ersten Seiten wird niemand mehr überrascht sein, wenn ein paar der permanent präsenten Waffen in einem irgendwie gearteten Show-Down zum Einsatz kommen wird. Man wird – nach dem bisher Gesagten – nicht mit einem leisen und schnellen Ablauf rechnen können…

Wer (vorrangig) ein möglichst permanent hochgetriebenes Emotionserlebnis im leidvollen Bereich des psychischen und sexuellen Missbrauchs sucht, kann mit diesem kraftvollen literarischen Erstlingswerk möglicherweise glücklich werden. Viele andere Leser/innen werden darauf hoffen, dass TALLENT beim nächsten Versuch seine Begabung zurückhaltender, überlegter und zielgenauer einsetzt.

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