“Logik” von Wesley C. SALMON

Bewertung: 4.5 von 5.

Es muss schon einiges passieren, bevor ich mich einem 50 Jahre alten Sachbuch zuwende.
In diesem Falle ist dieser Umstand schnell erklärt: Es geht um das wahrlich zeitlose Thema “Logik”. Hier kommt es ganz sicher nicht auf die Aktualität an, sondern auf die didaktischen Kompetenzen bei der Darstellung. Und auf das Preis-/Leistungsverhältnis – das bei einem Reclam-Büchlein fast immer unübertreffbar ist.

Auf fast 300 Seiten breitet der amerikanische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker die Grundzüge der Logik aus. Damit bewegt er sich in einer Range, die zwischen einer oberflächlichen Schnupper-Einführung und einem wissenschaftlichen Lehrbuch liegt; er spricht also ernsthaft interessierte Laien an, die sich nicht gleich für Wochen von der realen Welt verabschieden wollen.

In der Regel macht man sich über die Disziplin der Logik nicht viel Gedanken: Man findet logisches Denken und Argumentieren wichtig, weiß ein wenig um ihren Zusammenhang mit Mathematik und Sprache – und wäre doch vermutlich schnell überfordert, wenn man aus dem Stehgreif mal ein fünfminütigen Logik-Vortrag halten müsste.
Logik ist irgendwie immer dabei, und doch nie so richtig präsent.

Genau das verändert SALMON mit seinem Buch. Schnell wird den Lesenden klar, wie die Grundprinzipien der Logik unser Denken, unsere Alltagssprache, unsere Diskussionen und speziell den Bereich der Wissenschaft geradezu pausenlos durchdringen.
SALMON macht die Regeln, die dabei meist implizit angewendet werden, explizit. Man könnte auch sagen: Er seziert mit analytischer Sorgfalt die formalen Strukturen, die hinter Prämissen, Behauptungen, Begründungen und Schlussfolgerungen jeglicher Art stecken. Dazu befreit er abgeleitete Schlussfolgerungen von ihrem Inhalt und macht deutlich, dass sich ihre Richtigkeit allein aus der korrekten Anwendung formaler Regeln ergibt. Und weil man von dem Inhalt abstrahieren kann, lassen sich logische Regeln auch – ähnlich wie die Mathematik – in Formeln darstellen.
Konsequent weiterverfolgt ergeben sich so recht komplexe Beweise, Wahrheitstafeln und Diagramme.

Nach einer kurzen allgemeinen Einführung teilt sich der Text in die beiden Teilbereiche “Deduktion” (wo sich die Gültigkeit der Schlussfolgerungen sicher aus der Wahrheit der Prämissen ableiten lässt) und “Induktion” (wo nur nur Wahrscheinlichkeits-Aussagen gemacht werden können). Aus den Prämissen “Jedes Säugetier hat ein Herz” und “Alle Pferde sind Säugetiere” lässt sich deduktiv schließen, dass jedes Pferd ein Herz hat.
Aus der Prämisse “Jedes bisher beobachtbare Pferd hatte ein Herz” lässt sich induktiv schließen, dass jedes Pferd ein Herz hat. Im zweiten Falle geht es also vor allem um den Umgang mit wissenschaftlichen Hypothesen.

Natürlich bleibt es nicht bei solch übersichtlichen Aussagge-Strukturen. Dem Autor gelingt es aber trotzdem in vorbildlicher Weise, sowohl im Bereich des “gesunden Menschenverstandes” verhaftet zu bleiben (durch den konsequenten Einsatz von Alltagsbeispielen), als auch die grauen Zellen ordentlich zum Glühen zu bringen.
Man muss sich beim Lesen dieses Buches tatsächlich irgendwann entscheiden: Geht es um Orientierung und einen vertieften Eindruck oder will man wirklich einsteigen und jede Aussage bzw. Formel gedanklich durchdringen. Im zweiten Falle wird der sympathisch locker geschriebene Text sehr schnell zu eine. herausfordernden Arbeitslektüre.
Das Schöne ist: Beide Wege schaffen eine lohnendes Leseerlebnis; man kann auch sehr gut zunächst den ersten Weg wählen, um dann zu entscheiden, ob man die harte Tour braucht bzw. möchte.

In einem letzten, kürzeren Kapitel widmet sich SALMON der (engen) Verbindung zwischen Sprache und Logik. Wir erfahren etwas über “Objektsprache” und “Metasprache”, den unterschiedlichen Charakter von “Definitionen” und “analytische”, “synthetische” und “kontradiktorische” Aussagen.
Diesem Kapitel merkt man an, dass es eher als eine (notwendig erachtete) Ergänzung des Hauptteiles dient; dem Anspruch eines eigenständigen und abgerundeten Themenbereich kann es nicht gerecht werden.

Insgesamt legt der Logiker SALMON ein sehr logisch aufgebautes Buch über Logik vor – wer wollte da meckern?!

09.05.2024 GRÜNEN-Bashing als Volkssport

Ich kann es kaum noch ertragen, dass Vertreter der GRÜNEN in jeder Talkshow mit dem Vorwurf konfrontiert werden, sie würden die Menschen überfordern und gängeln (zuletzt wieder am 08.05. bei Maischberger). Es ist eine Stimmung entstanden, in dem jeder Versuch, die – angeblich allseits akzeptierten – Klimaziele in praktische Politik umzusetzen, als willkürliche Schikane diffamiert wird.
Ich ärgere mich inzwischen nicht nur über die dreisten Anschuldigungen, sondern auch über die defensiven Reaktionen darauf. Manchmal hört es sich so an, als ob sie selbst nicht mehr daran glauben würden, dass lang erkämpfte Maßnahmen oder Auflagen absolut richtig und notwendig sind (auch in der Landwirtschaft). Als ob sie sich dafür entschuldigen müssten, dass sie die einzigen sind, die sich ernsthaft damit befassen, dass Nachhaltigkeit auch in reale Politik umgesetzt wird.
In dieser Sendung, in der es um die aktuellen Gewalttaten gegenüber politischen Mandatsträgern ging, hat Aiwanger mehrfach die AfD und die GRÜNEN als zwei Pole von “Extremismus” genannt. Soweit ist es gekommen! Angeblich kritische Journalistinnen lassen das durchgehen…


 

“The Moral Landscape” von Sam HARRIS

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Philosoph, Neurowissenschaftler und Schriftsteller ist einer der wirkmächtigsten links-liberalen Intellektuellen in den USA. Seine Bekanntheit verdankt er vor allem seinen zahlreichen öffentlichen Debatten mit anderen Geistesgrößen, die auf seinem eigenen YouTube-Kanal, in anderen digitalen Formaten bzw. in Veranstaltungen stattfinden.
Der Atheist und Meditations-Lehrer HARRIS bekennt sich zu einer säkularen humanitären Ethik, in der Religionen vorrangig nicht als Lösung, sondern als Teil unserer moralischen Probleme gesehen werden.

In diesem Buch wagt sich HARRIS an die Frage heran, ob und wie weit ausgerechnet die Wissenschaften geeignet sein könnten, ein allgemeingültiges Wertesystem zu schaffen und uns so als Wegweiser für unser moralisches Handeln zu dienen. Da diese Überlegungen sehr grundsätzlicher Natur sind, spielt es keine Rolle, dass das Erscheinen des Buches schon ein paar Jahre zurückliegt.

Der Autor hält die strickte Trennung zwischen der empirisch/wissenschaftlichen Welt der Fakten und der philosophisch/geistig/religiösen Welt von Ethik und Moral für nicht stichhaltig. Auf der einen Seite seien auch moralische Konzepte, Regeln, Empfindungen und Verhaltensweisen ein ganz normaler Gegenstand von wissenschaftlicher Forschung – von der Evolutionsbiologie, über Gesellschafts-, Kultur- und Sozialwissenschaften bis zur Neurowissenschaft. Darüber hinaus – und hier fühlen sich viele andere provoziert – ist HARRIS überzeugt davon, dass sich objektive (zumindest kulturübergreifende) Maßstäbe dafür finden lassen, welche Regeln bzw. Verhaltensmuster zu einem “besseren” moralischen Ergebnis führen. In diesem Sinne spricht er auch von “moralischen Wahrheiten”. Auf die Beiträge von religiösen Glaubenssystemen oder spirituellen Weisheiten sei man in der “Landschaft der Moral” keineswegs angewiesen.
Dabei zeigt sich HARRIS als ein klarer Gegner des Kulturrelativismus: Vor dem Hintergrund der Maxime der “Leidvermeidung” erscheint es ihm z.B. nicht akzeptabel, Menschenopfer. Sklaverei und Genitalverstümmelung als kulturelle Eigenarten zu akzeptieren.

HARRIS argumentiert sehr grundsätzlich. Da er weiß, dass er sich auf kontroversem Gebiet befindet, nimmt er häufig die möglichen Gegenargumente schon mit in seine Darstellung auf. Das hat den Vorteil, dass man auch die Gegenposition schon ausformuliert kennenlernt.

Der Autor schlägt vor, dass das menschliche Wohlbefinden in einem multidimensionalen Raum moralischer Landschaften dargestellt werden kann, in dem die Gipfel die höchsten möglichen Zustände des Wohlbefindens und die Täler die schlimmsten möglichen Zustände des Leidens repräsentieren. Diese moralische Landschaft sei nicht relativ oder subjektiv, sondern objektiv und könnte – wie schon gesagt – wissenschaftlich untersucht werden. Handlungen, die das Wohlbefinden fördern, seien (objektiv) moralisch gut, während Handlungen, die Leiden verursachen, moralisch (objektiv) schlecht seien.

Natürlich ist HARRIS nicht so naiv, davon auszugehen, dass er mit ein paar relativ einfachen Kernthesen die Jahrtausende währende Auseinandersetzung um die Entstehung und Begründung von Moral aus den Angeln heben könnte. Er stellt sich der Komplexität der Thematik und taucht in die Tiefen der unterschiedlichen Sichtweisen ein.
Ausführlich diskutiert u.a. die Frage nach der Herkunft von “Werten”: Für HARRIS erscheint es abwegig zu sein, dass es ein Wertesystem geben könnte, dass sich nicht in Wohlbefinden bzw. Leid von bewussten Geschöpfen widerspiegeln würde.

Seine mit diesem Buch verbundene Mission dient weniger der Verkündung einer neuen Wahrheitslehre, sondern dem Versuch, all die Möglichkeiten auszuschöpfen, die uns mit einer Nutzung all unser bisher erzielten Erkenntnisse zur Verfügung stehen. Bevor wir vor den Detailfragen kapitulieren (für die es vielleicht tatsächlich keine wissenschaftlich begründbaren Antworten gibt), sollten wir die großen, prinzipiellen und objektiv entscheidbaren Herausforderungen angehen. Mit Bildung, Rationalität und Dialog könnte ein schrittweiser moralischer Fortschritt gelingen.

Als besondere Zugabe enthalten spätere Auflagen des zuerst 2010 erschienen Buches ein Kapitel, in dem der Autor auf die bekanntesten Kommentare und Kritiken seines Textes bzw. seiner Thesen reagiert. Es gelingt ihm darin sehr überzeugend, die Schwachstellen seiner “Gegner” herauszuarbeiten und sie in vielen Punkten der intellektuellen Unredlichkeit zu überführen.

Dieses sehr anregende und viele grundsätzliche Fragen des Humanismus berührende Buch gibt es leider nicht in deutscher Übersetzung. Da HARRIS (wie viele andere amerikanische Autoren) in einem gut verständlichen, eher journalistisch-geprägten Englisch schreibt, ist es halbwegs geübten Lesern gut zugänglich. Das schränkt andererseits den Charakter des Buches als wissenschaftliches Fachbuch nicht ein – was sich nicht zuletzt an dem extrem umfangreichen Anmerkungs- und Literaturverzeichnis ablesen lässt).
Der Aufbau des Textes könnte allerdings an einigen Stellen noch klarer strukturiert sein; gelegentlich findet man sich in Argumentationsschleifen wieder, die man als schon abgehakt in Erinnerung hat. Bei einigen Aspekten, die HARRIS offenbar unbedingt noch in dem Buch unterbringen wollte, wäre vielleicht weniger mehr gewesen. Aber das sind nur Feinheiten, die den Wert des Buches nicht ernsthaft tangieren.

“Wahrheiten und Mehrheiten” von Peter STROHSCHNEIDER

Bewertung: 3.5 von 5.

Der Autor – ein im deutschen Wissenschaftsbetrieb einflussreicher Germanist – legt eine Publikation vor, die nicht nur das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Demokratie gründlich ausleuchtet, sondern auch für eine Begrenzung des Geltungsanspruchs der Wissenschaften im gesellschaftlichen Diskurs plädiert.
Es ist anzuerkennen, dass der Autor diese Parteilichkeit schon im Untertitel offenlegt.
STROHSCHNEIDER will der (vermeintlichen) Gefahr entgegentreten, dass sich unter dem Deckmantel eines absoluten und endgültigen Wahrheitsanspruchs eine Verschiebung hin zu einem “autoritären Szientismus” vollziehen könnte, in dem dann durch eine illegitime Selbstermächtigung der Wissenschaftlichkeit die bewährten Aushandlungs- und Entscheidungsregeln unserer pluralistischen Demokratie eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt wären.

Dieses Buch ist alles andere als ein kämpferisches Pamphlet: STROHSCHNEIDER analysiert und argumentiert auf einem hohen sprachlichen und intellektuellen Niveau.
Die Leserschaft lernt eine Menge über die Komplexitäten des Wissenschaftssystems und der politischen Willensbildung.
Entsprechend seiner Zielsetzung deckt er z.B. Schwächen und Widersprüche bei Klima-Aktivisten auf, die ihren wissenschaftlichen Status in zweifelhafter Weise dazu benutzen, bestimmte politische Einzelentscheidungen zu begründen. Besonders kritisch setzt sich der Autor auch mit Karl Lauterbach auseinander, der in seinem Buch (“Bevor es zu spät ist“) für eine stärkere Präsenz von wissenschaftlicher Kompetenz in der Politik plädiert.

Ein Schwerpunkt des Textes befasst sich mit der prinzipiellen Frage, welchen Stellenwert Wahrheit, Evidenz oder Fakten gegenüber der freien politischen Meinungs- und Mehrheitsbildung haben soll bzw. darf.
Hat die Mehrheit das Recht, sich für kontrafaktische, dumme oder gefährliche Alternativen zu entscheiden? Auf welchen Gebieten sollen welche Disziplinen mit welchen Vertretern Gehör finden? Als Berater oder als (mit-)Entscheider? Droht da vielleicht die Expertokratie? Gibt es überhaupt die eine Wissenschaft? Sind nicht alle Erkenntnisse sowieso vorläufig? Steht Wissenschaft nicht auch in Abhängigkeiten, Interessenskonflikten und Machtkämpfen?
Um es kurz zu sagen: Der Autor legt sein ganzen Gewicht in die Waagschale der Demokratie und weist weitergehende Ansprüche der Wissenschaft zurück.

Die Covid-Pandemie und die Klimawende eignen sich natürlich besonders gut dafür, sich die Wechselwirkung zwischen den beiden Systemen konkret anzuschauen; das nutzt der Autor gründlich aus.
STROHSCHNEIDER leugnet weder die Bedrohung durch den Klimawandel (und anderer ökologischen Risiken), noch relativiert er die Pandemie. Aber er identifiziert die bereits grundsätzlich diskutierten Schwächen bzw. Gefahren einer Wissenschafts-Dominanz auch in diesen Bereichen (und wiederholt sich dabei ein wenig).
Als leidenschaftlicher Verteidiger der demokratischen Prozesse lässt er den Hinweis auf “Not- bzw. Ausnahmesituationen” nicht gelten (was sich wiederum gegen Lauterbachs Argumentation richtet).
Zugutehalten muss man STROHSCHNEIDER, dass er sich auch mit der Querdenker-Fraktion kritisch auseinandersetzt – allerdings nicht ohne einen Hinweis auf die Mitverantwortung des vermeintlich grenzüberschreitenden Wissenschaftsbezugs.

Auch wenn man dem Autor sicher nicht den Vorwurf einer generellen Undifferenziertheit machen kann: Es entsteht der Eindruck, dass sein persönliches Wertesystem deutlich stärker durch die Bedrohung demokratischer Spielregeln als durch die drohende Klimakatastrophe in Wallung gerät. Sein hochtheoretisches Abwägen klingt doch ein wenig nach Elfenbeinturm eines Gelehrten, der von der realen Dramatik der ökologischen Krise wohl nicht aus dem Schlaf gerissen wird.
Bei aller verständlichen Kritik an einer unreflektierten Selbstermächtigung vermeintlich omnipotenter Wissenschaftler: STROHSCHNEIDER vergisst doch ein wenig, dass auch eine Wissenschaft mit Schwächen, Widersprüchen und begrenztem Wahrheitsanspruch immer noch mit Abstand das beste und erfolgreichste System darstellt, sich der Wirklichkeit und ihren Gesetzmäßigkeiten zu nähern. Die Tatsache, dass der Autor in dem Text (gefühlt) auf jeder fünften Seite auf die Vorläufigkeit von Erkenntnissen hinweist, stärkt nicht gerade seine Argumentationskraft.
Kritisch ist auch anzumerken, dass STROHMEYER etwas locker mit den verschiedenen Entscheidungsebenen umgeht: Er tut wiederholt so, als ob sich Wissenschaftler permanent anmaßen würden, jede Einzelmaßnahme streng empirisch – und damit unangreifbar – aus der Faktenlage ableiten zu wollen. Den meisten Klimawissenschaftlern würde es völlig ausreichen, wenn die (längst vollzogene) Verpflichtung auf die Klimaziele endlich unwidersprochene und unhinterfragte reale Politik würde. Auf diesem Hintergrund läuft auch das Schlusskapitel ziemlich ins Leere, in dem der Autor eine saubere (aber kooperative) Arbeitsteilung zwischen den beiden Bereichen vorschlägt. Die meisten Wissenschaftler würden da wohl kaum widersprechen.

So bleibt am Ende ein gemischtes Bild: Wer in dem unübersichtlichen Gelände von Wissenschaft und Politik nach niveauvoller und facettenreicher Weise nach Orientierung sucht, dem/der macht STROSCHNEIDER hier ein attraktives Angebot. Jede zukünftige Diskussion wird davon mit Sicherheit profitieren.
Man muss allerdings in kauf nehmen, dass die Prioritäten vom Autor klar gesetzt sind: Er glaubt nicht daran, dass der Zeit- und Problemdruck eine Neuverteilung der Einflussfaktoren erforderlich macht.
Also lieber die Kipppunkte reißen als den Fakten zu viel Macht im Spiel der Kräfte geben?!

“Moralspektakel” von Philipp HÜBL

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Philosoph HÜBL hat vor einigen Jahren ein großartiges Buch über die emotionalen und rationalen Grundlagen der Moral geschrieben (“Die aufgeregte Gesellschaft“, 2019). Mit seinem neuen Buch bleibt er dem Thema verbunden und liefert eine kritische Analyse der aktuellen gesellschaftlichen Tendenzen, in denen moralische Fragen dazu missbraucht werden, Anerkennung und Status zu generieren, Andersdenkende vom politischen Diskurs auszuschließen, Macht auszuüben und die gesellschaftliche Stimmung zu polarisieren.
Damit reiht sich das Buch in die aktuellen Betrachtungen zu den Phänomenen “Wokeness” und “Cancel Culture” ein – die vom Autor in den weiter gefassten Begriff “Moralspektakel” integriert werden.

Es fällt schnell auf, dass HÜBL wohl so ziemlich mit all den modernen Begrifflichkeiten vertraut ist, die man im Umfeld des moralisch aufgeladenen Diskussionsklimas vorfindet. Das ist schonmal informativ und hilfreich.
Darüber hinaus kommt es den Lesenden entgegen, dass sie einen gut strukturierten und didaktisch sorgfältig aufbereiteten Text angeboten bekommen. Obwohl er mit Hinweisen auf empirische Untersuchungen nicht geizt und einen beeindruckenden Anhang (mit Anmerkungen, Literatur-, Namens- und Sachregister) liefert, tritt der Autor nicht als nüchterner Wissenschaftler auf. HÜBL versteckt seine Position nicht, an jeder Stelle wird deutlich, dass er hier für seine Sichtweise wirbt.

In einem Einleitungskapitel legt der Autor seinen wesentlichen Gedankenlinien schon recht umfangreich dar. Das gibt den Leser/innen Orientierung, schafft aber auch die Grundlage für einige spätere Redundanzen.

HÜBL steigt ein mit einem historischen Rückblick auf die moralischen Maßstäbe und Diskussionen der letzten Jahrzehnte und beschreibt eine deutliche Verschiebung in Richtung einer zunehmender Empfindsamkeit, einer Ausweitung von Themen/Anlässen und einer gesteigerten emotionalen Aufladung. Da Gesellschaften “objektiv” eher offener und toleranter geworden seien, könne man angesichts des Klagens über Moraldefizite von einem “Moralparadox” sprechen.
Ein zweiter Blick gilt den allgemeinen Grundlagen von Ethik und Moral: HÜBL betrachtet biologische, evolutionäre, philosophische, kulturelle und psychologische Bausteine sowohl unseres Moralempfindens, als auch der Alltagsmoral. Dabei kommen auch (kognitive) Verzerrungen in Wahrnehmung und Urteilen zur Sprache, ebenso wie unsere – tief verwurzelte – Neigung, uns über Moral selbst aufzuwerten und unseren sozialen Status zu sichern bzw. zu erhöhen.
Auf soziologisch-kultureller Ebene arbeitet der Autor unterschiedliche Moralkulturen heraus: Ehrenkulturen, Würdekulturen und Opferkulturen zeigen typische Werte-Muster, die für das moralische Klima entscheidend sind. Der Autor sieht uns gerade auf einem (inzwischen übertriebenen) Weg in einer Kultur der Verletzlichkeit und Fürsorge, in der manchmal eine geradezu pathologische Sorge bestehe, selbst geringste (von den vermeintlichen Opfern selbst oft gar nicht registrierte) Benachteiligungen bestimmter Minderheiten-Gruppen zu übersehen.

HÜBL sieht in der großen Bedeutung der eigenen Moral für die Definition der Identität ein Grund dafür, dass die moralische Außendarstellung – unter Einfluss der sozialen Medien – inzwischen eine überbordende Rolle spielt. Der Wettbewerbe um Status und Einfluss wird – so ist HÜBL überzeugt – heute bevorzugt auf der Ebene der (vermeintlichen) moralischen Überlegenheit ausgetragen: sein “moralisches Kapital” zu vermehren sei heute ein zentrales Ziel für Individuen, Unternehmen und gesellschaftliche Gruppen. Dabei seien an allen Ecken Trittbrettfahrer und Etikettenschwindler zu finden; moralische Empörung und Effekthascherei machten sich insbesondere in der digitalen Welt breit. Der Drang zur perfekten moralischen Reinheit führe im Extrem zur permanenten Selbstgeißelung als Angehöriger einer privilegierten Gruppe.

In einem zweiten Teil seines Buches wendet der Autor seine Analysen auf aktuelle gesellschaftliche Ereignisse an: Er spricht von Opfer-Hochstablern, von links- und rechtsgerichtetem Autoritarismus, von Trollen und Narzissten, von Einschüchterungskultur und Shitstorms. Und natürlich von Wokeness, Cancel-Culture und dem Unterschied zwischen (“inklusiver”) Sprache und Realität.
Generell gilt: HÜBL mag einfach keine Moral-Überheblichkeit – insbesondere, wenn das eigene Verhalten den – oft ins Uferlose gesteigerten – Ansprüchen an andere nicht gerecht wird. Da gilt es dann, hinter dem Moralspektakel die tatsächlichen Motive und Strategien zu erkennen.

Nachdem sich der Autor noch einige Kernbegriffe des moralischen Diskurses kritisch zur Brust genommen hat, stellt er die Schwächen des Konzeptes der “Intersektionalität” (der Addition einzelner Diskriminierungsmerkmale) dar: Die hier konstruierten Opferhierarchien hielten der Realitätsüberprüfung oft nicht stand. Da fällt dann auch mal ein kritisches Wort zur wissenschaftlichen Güte gewisser Gender-Studies, zu der Bereitschaft, wissenschaftliche Standards zu relativieren, wenn damit dem “indigenen Wissen” einer kolonialisierten Kultur geschmeichelt wird und zu der Aufnahme von Wokeness-Ansprüchen in die Kriterien für wissenschaftliche Veröffentlichungen.
Von das aus ist es nicht mehr weit zu der Schlussfolgerung, dass es oft der linksliberale Mainstream mit seiner reflexhaften Toleranz auch für die Positionen radikaler Aktivisten ist, der als Gegenbewegung einen rechtskonservativen Roll-Back erzeugt.

Der anregende – und stellenweise durchaus auch leicht provokante – Text wird durch acht nachvollziehbare Vorschläge gekrönt, die dem Moralspektakel das Wasser abgraben sollen: Da geht es um Universalität, Faktenbezug, Offenheit der Diskussion und eine vernunftbezogene moralische Bescheidenheit.

HÜBL wird sich mit dieser Publikation in den progressiven Kreisen sicher nicht nur Freude/Freundinnen machen; manche seiner Statements hinterlassen sicher den ein oder anderen Kratzer. Dass er das in kauf nimmt, ist ihm hoch anzurechnen.
Die Seiten gewechselt hat der Autor mit diesem streitbaren Text nicht: Indem er die Übertreibungen bekämpft, will er letztlich die aufgeklärten, toleranten und freiheitlichen gesellschaftlichen Entwicklungen stärken und erhalten.