“Gewalt und Mitgefühl” von Robert SAPOLSKY

Bewertung: 4 von 5.

Der amerikanische Biologe, Neurowissenschaftler und Primatenforscher SAPOLSKY hat hier vor einigen Jahren ein Monumentalwerk vorgelegt, das auch einen Vielleser vor eine gewisse Herausforderung stellt. Auf insgesamt ca. 1000 Seiten (inkl. Anhang) fasst er in einer fast zwanghaft wirkenden Gründlichkeit und Differenziertheit Forschungsbefunde zusammen, die den Zusammenhang zwischen dem menschlichen Verhalten (insbesondere dem Sozialverhalten) und dessen biologischen Grundlagen beschreiben bzw. erklären.

Zunächst ist eine Begriffsklärung fällig: Der Begriff “Biologie” wird in diesem Buch in einem extrem weiten Sinne verstanden: Er beinhaltet alle wissenschaftlich untersuchbaren Einflussfaktoren, die sich in der Genetik, den Neurowissenschaften, der Anthropologie, der Tierforschung, der Psychologie und der Soziologie finden lassen. Es geht um die große Frage: Wodurch wird menschliches (Sozial-)Verhalten determiniert, was in unserer inneren und äußeren Umwelt beeinflusst also die Art, ob und wie wir kooperieren und uns bekämpfen – als Art und als Individuum, generell und in einer spezifischen Situation.
Umgekehrt würde das bedeuten: Was nicht durch dieses komplexe Zusammenspiel von beobachtbaren und messbaren Einflussgrößen erklärbar wäre, würde dann das Ergebnis einer “freien” Entscheidung sein.
Schon an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass der Autor diesen Spielraum für deutlich begrenzter hält, als es der Selbstwahrnehmung und der Alltagspsychologie entspricht.

Was das Lesen dieses akribischen Grundlagenwerkes so anstrengend macht, ist seine Genauigkeit und Differenziertheit. Immer wieder erwischt man sich beim Lesen dabei, dass man sich mal so eine richtig eindeutige Aussage wünscht, wie etwa: “Misshandlungserfahrungen in der Kindheit führen zu Gewalthandlungen im Erwachsenenalter”.
Der Autor macht deutlich, dass es zwar solche Zusammenhänge zweifelsfrei gibt, sie aber nur in Form von Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. Und zwar nicht deshalb, weil ein großer individueller Entscheidungsspielraum des Einzelnen bleibt (wie die meisten argumentieren würden), sondern weil es eine geradezu unendliche Zahl von weiteren Einflussfaktoren gibt, die – meist in einem komplexen Wechselspiel – das Gewaltverhalten auch beeinflussen (z.B. genetischen Prägungen, neurologisch verfestigte Erregungskreisläufe oder Besonderheiten im Hormonsystem).
Da SAPOLSKY sich als seriöser Wissenschaftler begreift, verschont er seine Leser/innen nicht mit all den “Wenns” und “Abers”. In der Regel beginnt eine Antwort auf die Frage nach einem Erklärungszusammenhang mit den Worten: “Es kommt darauf an.” (Also auf die weiteren Umstände).
Die Verhaltenswissenschaft ist komplex, die Kausalitätsketten sind verworren. Genau das verführt die meisten Menschen dazu, im Zweifelsfall eben doch das autonome “Ich” des Menschen als hauptsächliche Ursache für sein Verhalten zu postulieren.

Das Buch betreibt nicht nur Grundlagenforschung. Es reflektiert auch die Auswirkungen, die eine naturwissenschaftliche Betrachtung menschlicher Verhaltensursachen für das gesellschaftliche Zusammenleben und seine Regeln bzw. Institutionen hat. Es überrascht jetzt sicher niemanden mehr, dass SAPOLSKY auch hier irritierende Antworten und Lösungsvorschläge parat hat.

Wer sich auf diese Lese-Herausforderung einlässt erhält einen extrem weiten Einblick in den Forschungsstand der für menschliches Verhalten relevanten Fachdisziplinen (Stand 2017). Eingerahmt wird dieser Überblick von grundlegenden und schafsinnigen Reflexionen des Autors, die über die Summierung von Einzelbefunden weit hinausgehen.
Da SABLOTSKY dabei auch noch ein humorvoller und durchweg “cooler” Typ ist, bleibt das Lesen keineswegs eine trockene Angelegenheit.
Wenn nur die Zusammenhänge nicht so kompliziert wären…

Auf SAPOLSKYs für den Herbst angekündigtes Buch über Willensfreiheit (also ihre Nicht-Existenz) werde ich mich bereits am Tag seines Erscheinens stürzen. Einige Tage später werde ich davon an dieser Stelle berichten.

“Blue Skies” von T. C. BOYLE

Bewertung: 4 von 5.

Wenn die Verrücktheiten der amerikanischen Lebensweise auf die volle Dröhnung des Klimawandels treffen – dann könnte sowas entstehen, wie es BOYLE in seinem neuen Roman genüsslich ausmalt.

Der Autor tut erstmal alles dafür, dass sein Buch nicht gleich als Klimaroman zu erkennen ist. Er erzählt von den hippen Tendenzen, sich mit Hilfe von Insektenzucht möglichst fleischarm zu ernähren und von Schlangen, die als Haustiere und als eine Art Identitäts- und Image-Booster gehalten werden. In diesem etwas schrägen Kontext lernen wir die Protagonistin Cat, und dann nach und nach ihren Partner und ihre Familie kennen, wobei ihre Mutter (Ottilie) und ihr jüngerer Bruder (Cooper) besondere Bedeutung erlangen.
Rein strukturell geht im Weiteren in dieser Familie um Hochzeit, Schwangerschaft und Mutterschaft, Beziehungskrisen, hochdramatische persönliche Schicksalsschläge, familiäre Unterstützung und Bewältigungsversuche.

In zunehmendem Umfang wird diese Handlungsebene (die sich weiter mit dem Thema Schlangen herumplagt) von den Auswirkungen des Klimawandels unterwandert bzw. eingenommen. In den beiden Schauplätzen (Florida und Kalifornien) geht es um Dürre und Brände bzw. um Regen und Fluten; aber auch die Auswirkungen der Erwärmung auf das Wandern und Aussterben von Tier- und Pflanzenarten.
Irgendwann übernehmen dann das Klima endgültig die Regie über das familiäre Geschehen.

BOYLE seziert mit einer schonungslosen Akribie die Widersprüche und Absurditäten, mit denen das “American Way of Life” auf die dramatischen Umwälzungen reagiert: So bleibt z.B. das morgendliche Bad im Pool und der Besuch hochpreisiger Restaurants eine ganze Weile unberührt von den Um- und Zusammenbrüchen in den Umweltbedingungen ringsum.
Und auf ein Schmiermittel ist immer und überall Verlass: Alkohol! Der Autor zelebriert geradezu die unfassbare Selbstverständlichkeit, mit der letztlich alle Protagonisten sich des Alkohols bedienen – als eine Art permanente Krücke, die das Leben unter unsäglichen Bedingungen noch halbwegs ermöglicht.

BOYLE trägt gerne dick auf; er ist kein Freund der leisen Töne. Seine Figuren wirken fast alle etwas überzeichnet – aber das ist kein Versehen, sondern sein Stil. Das muss an mögen – sonst kann schnell nervig werden.
Wer einen reinrassigen, ausgewiesenen Klima-Roman erwartet, wird möglicherweise etwas enttäuscht sein: Der Autor ist schon sehr in seine Rahmenhandlung (die mit den Schlangen) verliebt. Sein Zielpublikum besteht nicht aus Weltverbesserern, denen die jeweilige Handlung mehr oder weniger egal ist, wenn nur die Botschaft stimmt. Er will mit seinen Figuren und dem Plot in einer Art und Weise überzeugen, die auch ohne das Klima-Thema funktionieren würde. Und genau auf dieser Basis wird es dann so unausweichlich – weil es eben rein objektiv unvermeidlich ist.

Die Klimakatastrophe macht einfach alles andere platt. Vermutlich werden wir es erst glauben, wenn sie uns mit vergleichbarer Wucht trifft. An BOYLE wird das nicht liegen; er hat uns gewarnt.
(Ob man dazu so viel über Schlangen schreiben muss, ist Geschmackssache…).

“Das Ende des Romantik-Diktats” von Andrea NEWERLA

Bewertung: 3.5 von 5.

Die gute Nachricht vorweg: NEWERLA bekämpft die romantische Liebesbeziehung nicht, sie will diese in unseren Gedanken und Gefühlen fest verankerte Idee von der höchsten Form von Intimität und Liebe nicht sturmreif schießen und nicht abschaffen.
Aber Sie will ihren Exklusivitätsanspruch, ihre Monopolstellung für den Bereich bedeutsamer und tragender Beziehungen in Frage stellen. Diesem Ziel ist dieses engagierte Plädoyer gewidmet.

Die Autorin (eine Soziologin) steuert das zentrale Thema von verschiedenen Seiten aus an: Sie setzt das Konzept der Romantischen Liebe in einen historischen Kontext, weist auf die vielen Enttäuschungen auf der Jagd nach diesem Beziehungsideal hin und konfrontiert es mit den aktuellen Realitäten des Internet-Datings und der durch Algorithmen gesteuerten Partnersuche.
Ihre Analyse ist eindeutig: Die Fixierung auf diese eine Beziehungsform tut uns nicht gut! Nicht nur, weil sie einen für viele unerreichbaren Traum zum alleinigen Maßstab für Lebensglück definiert, sondern weil sie eine fatale Abwertung der vielen anderen Möglichkeiten beinhaltet, beglückende Beziehungen zu leben und zu gestalten.
Mit geradezu trotziger Energie rüttelt NEWERLA an den gesellschaftlichen Mustern und Normen, will neue Freiräume schaffen, alternative Konstellationen aufwerten. Sie akzeptiert nicht, dass die klassische monogame Liebesbeziehung der einzige Ort sein soll, in dem Nähe, Intimität, Verbindlichkeit und Verantwortung gelebt werden kann.
NEWERLA setzt insbesondere auf verschiedene Spielarten der Freundschaft (gerne auch mit +) und fragt wiederholt, wieso wir sowohl bei unseren intimste Geheimnisse als auch bei der Planung unserer Zukunft eher auf eine noch frische Liebe setzen als auf gewachsene und bewährte platonische Beziehung.
Nicht verborgen bleibt in dem Text, dass die Autorin Sympathien für unkonventionelle Spielarten von Intimität und Liebe hat und dabei auch für jede denkbare Kombination mit erotischen Aspekten offen ist. Sich von der Idee einer “ewig-währenden” Liebesbeziehung zu verabschieden, fällt ihr offensichtlich nicht besonders schwer. Es gelingt ihr aber gleichzeitig sehr gut, die Sehnsucht nach der “großen Liebe” mit einem gewissen Respekt zu behandeln und nicht auf den Müllhaufen der Beziehungsgeschichte zu entsorgen.

Doch ein wenig überraschend ist dann im Schlussteil des Buches die Wendung zu einer gesellschaftlichen Perspektive. Die Autorin sieht in einer Öffnung und Erweiterung von Beziehungskonzepten nicht nur einen privaten Ausweg aus dem “Romantik-Diktat”, sondern erkennt darin eine Blaupause für einen gesellschaftlichen Wandel. In dem Maße – so argumentiert sie – wie die abgeschlossene Privatheit der Romantischen Liebe geöffnet und erweitert werde für experimentelle und fließende Formen von ganz verschiedenen Verantwortungsgemeinschaften, könne sich ein Klima des pluralistischen, demokratischen, inklusiven und solidarischen Zusammenlebens ausbilden. Nicht allen wird dieser Schwenk so ohne weiteres einleuchten.
Durchaus konkrete Bedeutung könnten allerdings Bestrebungen bekommen, auch anderen Formen von verbindlichen und stützenden Beziehungskonstellationen einen rechtlichen Rahmen zu geben.

Der Schreibstil der Autorin passt zum peppig gestalteten Cover. Mit einer schnörkellosen, leicht lesbaren Sprache entstaubt NEWERLA die Liebesideologie des vergangenen Jahrhunderts. Sie nimmt zwar auf andere Literatur und auf einzelne Untersuchungen Bezug, setzt den Schwerpunkt aber auf eine flüssige Argumentationslinie – die Details lassen sich in den Anmerkungen nachlesen.

Guckt man kritisch auf diese durchaus anregende Publikation, könnte einem vielleicht auffallen, dass das Ganze tatsächlich von einer sehr überschaubare Zahl von Grundgedanken getragen wird. Diese hätten sicher auch problemlos in einen Essay gepasst – dann ohne die manchmal spürbare Redundanz.
Trotzdem hat natürlich die etwas breiter und ruhiger angelegte Argumentationslinie ihre Vorteile: NEWERLA kann ausholen, Beispiele anführen und ihren Thesen feinere Facetten zufügen. Das Buch lässt sich bequem in ein paar Stunden lesen – enthält aber jede Menge Reflexions- und Diskussionsstoff. Wobei sicherlich die persönlichen Aspekte von offeneren und vielfältigen alternativen Beziehungskonzepten leichter nachvollziehbar sein werden als die angedeuteten gesellschaftlichen Implikationen.

“Geschenkt” von Daniel GLATTAUER

Bewertung: 4 von 5.

Erzählt wir d eine nette, angeblich auf Tatsachen basierende Geschichte aus Wien, in der es um anonyme Geldzuwendungen an bedürftige Einzelpersonen oder wohltätige Initiativen geht, die sich gerade einer finanzieller Notlage ausgesetzt sehen.
Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein halb-gescheiterter Journalist (Gerold Plassek) mit einer gewissen Neigung zum Alkohol; er führt uns als Ich-Erzähler durch die Handlung.

Angereichert wird das Rätsel um die absenderlosen Wohltaten mit den familiären und beziehungsmäßigen Entwicklungen des Protagonisten, der sich zu Beginn der Story plötzlich in der Betreuungsverantwortung für den jugendlichen Sohn seiner Ex-Frau wiederfindet.
Die beiden Handlungsfäden sind eng miteinander verflochten und befruchten sich sozusagen gegenseitig.

Man bekommt ein bisschen mit aus der Welt des mehr oder weniger seriösen Journalismus. Eindeutig im Vordergrund steht aber die persönliche Erlebenswelt von Gerold, der durch das private und berufliche Geschehen ziemlich durcheinandergeschüttelt wird . In sofern handelt es sich um um so etwas wie einen (verspäteten) , der in Entwicklungsroman.

Das Ganze liest sich locker und flüssig, Vom Stil und Anspruch her handelt es sich um eine (selbst)ironische Urlaubslektüre- mit einem gewissen thematischen Tiefgang. Die Geschichte ist bzgl. des Spannungsbogens intelligent aufgebaut. Die vermittelten Botschaften sind allesamt menschenfreundlicher Natur.
Nervig sind – insbesondere in der ersten Hälfte des Romans – die immer wiederkehrenden Schilderungen kleiner oder größerer Trinkgelage mit einigen Kumpels, die er scheinbar zu jeder beliebigen Zeit in seiner Stammkneipe antrifft.

So richtig etwas falsch machen kann man mit diesem Roman (Baujahr 2014) eigentlich nichts. Stimmung und Botschaft sind insgesamt optimistisch und aufbauend. GLATTAUER ist ein Buch gelungen, das anregend und intelligent unterhält.

“Die spürst du nicht” von Daniel GLATTAUER

Bewertung: 4 von 5.

Der aktuelle Roman des Wiener Journalisten und Autors GLATTAUER wirft ein sehr individuell gesetztes Licht auf die Situation von geflüchteten Migranten, die zwar in einem Wohlstands-Land (in dem Fall Österreich) gestrandet sind, die aber im gesellschaftlichen und privaten Leben nahezu unsichtbar bleiben.

Der Plot schafft einen entlarvenden Kontrast zwischen der etablierten akademischen Mittelschichts-Welt zweier einheimischer Familien und der prekären Lebenssituation einer von zahlreichen Schicksalsschlägen gebeutelten somalischen Flüchtlingsfamilie.
In einen Toskana-Urlaub darf die 14-jährige Tochter(Sophie Luise) der Hauptfigur (einer einer GRÜNEN-Politikerin) ihre somalische Mitschülerin mitnehmen; diese kommt dabei unter uneindeutigen Umständen ums Leben.
Der Roman beschäftigt sich mit den emotionalen bzw. moralischen Konflikten und den medialen, juristischen und politischen Folgen, die mit der Bewältigung dieser Situation für die Politikerin und ihre Familie verbunden sind.

GLATTAUER zeichnet nicht nur ein weitgehend stimmiges (wenn auch überzeichnetes) Psychogramm der beteiligten Personen (insbesondere der beiden Ehepaare, die gemeinsam in der Toskana waren), sondern lässt parallel den Wahnsinn der (sozialen) Medien in sein Buch einsickern: Auf jede Pressemeldung zum Fortgang der Ermittlungen wird eine Serie typischer Online-Kommentare und darauf bezogene Erwiderungen eingearbeitet: das pralle Social-Media-Leben in Bestform.
Auch der juristischen Aufarbeitung des Falles schenkt GLATTAUER seine Aufmerksamkeit – in Gestalt eines Kampfes zwischen David (einem Looser-Anwalt) und Goliath (einem unsympathischen Staranwalt).

Ein separater Handlungsfaden spinnt sich um die Sophie Luise, die sich in ihrem emotionalen Ausnahmezustand in einen mysteriösen Chat-Partner verliebt. Sie gerät in einen Strudel, in dem auch Drogen eine Rolle spielen. Querverbindungen zum Hauptthema des Buches sind nicht ausgeschlossen…

Ohne Zweifel wirkt die Geschichte ein wenig konstruiert; auch der moralistische Zeigefinger ist hin und wieder deutlich sichtbar. Die Nebenhandlung zwischen Tochter und ihrem “Freund” lässt die ein oder andere Frage unbeantwortet.
Trotzdem bietet der Roman eine Menge Stoff zum Mitfühlen und Mitdenken. Er analysiert sehr klar die unterschiedlichen Strategien im Umgang mit einer moralischen Herausforderung und legt wirkungsvoll und gekonnt den Finger in eine gesellschaftliche Wunde: Geflüchtete Menschen leben zwar unter uns, haben aber in den eingespielten Abläufen unseres Alltags und unserer Medien so gut wie keine eigene Stimme.

Ein lesenswerter Roman, der intelligente und tiefgründige Unterhaltung liefert.

“Demokratie im Feuer” von Jonas SCHAIBLE

Bewertung: 5 von 5.

Der SPIEGEL-Redakteur Jonas SCHAIBLE geht in diesem Buch den entscheidenden Schritt weiter. Er legt ein Klimabuch vor, das nicht bei der Beschreibung des Klima-Notstandes und dem Beklagen der unzureichenden Maßnahmen stehen bleibt. Er zeigt auf, dass und wie sich unsere Demokratie verändern müsste, um den unvermeidbaren und weitreichenden Herausforderungen gerecht werden zu können.

SCHAIBLE legt sich zunächst mächtig ins Zeug, um die Dramatik der Situation klar und unmissverständlich zu beschreiben. Dabei analysiert er nicht nur die – inzwischen allseits bekannte – Klimadynamik selbst, sondern beleuchtet auch die unausweichlichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen (in Bezug auf Lieferketten, Energiesicherheit, Nahrungsmittelversorgung und Klimaflüchtlingsströmen). Doch damit nicht genug: Denkt man nämlich – wie der Autor – weiter, dann könnte auch die politische Stabilität unseres Gemeinwesens sehr schnell auf dem Spiel stehen. Der Rechtspopulismus mit seinen vermeintlich einfachen Antworten durch vermeintlich starke Führer lässt grüßen.

SCHAIBLE liegt unser demokratisches System sehr am Herzen. Er weist daher selbst angesichts der Dringlichkeit der Aufgabe und des bisherigen politischen Versagens den Gedanken (bzw. die zunehmend hörbare Forderung) zurück, einen autokratischen Weg einzuschlagen. Dieser Lösungsweg wäre ja alles andere als abwegig: Angesichts eines in weiten Teilen unbewohnbar werdenden Planeten bliebe letztlich kaum eine andere Wahl, als die effektivsten Mittel einzusetzen (weil irgendwann rein objektiv der Zweck die Mittel heiligen würde).
Doch der Autor bleibt standhaft: Er vertraut den inneren Kräften der Demokratie und misstraut den vermeintlich effizienteren autokratischen Strukturen.

Und jetzt wird es richtig spannend: Denn für SCHAIBLE ist eindeutig klar, dass sich unsere Demokratie verändern und an die aktuellen Herausforderungen anpassen muss. Ein neuer Freiheitsbegriff muss her: Es muss darum gehen, durch massives und rasches Handeln die zukünftigen Freiheitsräume zu sichern (statt an einem überholten, rein individualistischen Freiheitskonzept festzuhalten). Die Klimapolitik – so fordert er weiter – muss durch entsprechende Gesetze (mit Verfassungsrang) und geschützt durch unabhängige Institutionen (z.B. nach dem Modell der Zentralbanken) aus dem politischen Tagesgeschäft mit seinen Stimmungsschwankungen und Wahlkampfgetöse herausgenommen werden.
Der demokratische Streit kann und darf nur noch die Umsetzungsfragen betreffen – sonst läuft uns die Zeit davon und wir verlieren die Demokratie noch sehr viel grundsätzlicher.

Wenn man das alles liest, reibt man sich die Augen: Es wirkt so, als habe SCHAIBLE die z.T. groteske Diskussionen um die Wärmewende im Frühsommer 2023 vorausgesehen. Da wird im politischen Raum und in den Medien ganz bewusst eine Stimmung erzeugt und genutzt, die den mühsam aufgebauten gesellschaftlichen Konsens hinsichtlich der Klimaziele schwächen soll – nur um daraus kurzfristig parteipolitisches (und wirtschaftliches) Kapital zu schlagen. Genau diese Schwäche der Demokratie hat SCHAIBLE in diesem Buch im Blick; genau dafür macht er praktikable Vorschläge.
Es fragt sich nur, ob unsere demokratische Kultur die Kraft aufbringt, die notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen. Denn auf ein bisschen “Freiheit” müsste die Politik im Sinne einer verantwortlichen Selbstbeschränkung verzichten. Unter den gegenwärtigen Vorzeichen werden die demokratischen Prozesse es nicht hinbekommen.

Es bleibt noch zu sagen, dass SCHAIBLE ein gut lesbares, sachliches und abgewogenes Buch geschrieben hat (es ist sicher weniger emotional als diese Rezension).
Es ist – kurz gesagt – das Buch der Stunde.

“Der elektronische Spiegel” von Manuela LENZEN

Bewertung: 4 von 5.

In den aufgeregten Zeiten von ChatGPT legt die Wissenschaftsjournalistin LENZEN ein angenehm ruhiges und nachdenkliches KI-Buch vor. Vielleicht hat das ja etwas mit der ungewöhnlichen Perspektive zu tun: Der Autorin geht es nämlich nicht in erster Linie um die neuesten technischen Meisterleistungen der KI-Programmierer, sondern um grundsätzliche Fragen in dem komplexen Spannungsfeld zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz.

LENZEN bedient vorrangig die Meta-Ebene, in dem sie z.B. fragt:
– Was macht Intelligenz eigentlich aus?
– Ist es sinnvoll, das menschliche Gehirn nachzubauen?
– Oder kommen technische Systeme auf ganz anderen Wegen zu intelligenten Lösungen?
– Kann menschliches Lernen ein Modell für Maschinen-Lernen sein?
– Braucht Maschinen-Intelligenz einen Körper und einen physischen Kontakt zur Außenwelt oder reichen Simulationen?
– An welchen Fragestellungen begegnen sich Kognitionswissenschaftler und KI-Tüftler?
– Warum scheitert die KI so oft an den Banalitäten des Alltags?
– Wie eng ist die Verbindung zwischen Sprache und Intelligenz?
– Welche Einblicke verschafft die KI-Forschung in den Charakter menschlicher Intelligenz?

Diese und ähnliche Punkte werden keineswegs auf einer abstrakt-philosophischen Ebene diskutiert. LENZEN nimmt uns – nach einem kurzen historischen Exkurs – mit in die internationalen Zukunfts-Labore, in denen zahlreiche Teams dem Rätsel der Intelligenz auf die Spur kommen wollen: Sie arbeiten mit Sprachmodellen, bauen neuronale Netze nach, simulieren Denk- und Problemlösealgorithmen und bauen Roboter, die sich in mehr oder weniger natürlichen Umgebungen zurechtfinden sollen.

Besonders anregend ist das Buch immer dann, wenn überraschend “menschelnde” Befunde dargestellt werden: So fehlt den ausgefeilten Denkmaschinen ausgerechnet der banale “gesunde Menschenverstand”: genau das selbstverständliche Alltagswissen, von dem wir Menschen gar nicht merken, dass war es von Kindesbeinen an haben. Oder es stellt sich plötzlich heraus, dass es sinnvoll sein kann, die Genauigkeit von Sensoren beim Erlernen neuer Funktionen zunächst künstlich zu begrenzen (damit nicht zu früh auf Details geachtet werden kann). Und man stößt auf immer mehr Belege dafür, dass das Erwerben von Intelligenz eine erstaunlich körperliche Komponente hat: Echte Intelligenz spielt sich nicht in einem isolierten “Rechenzentrum” ab, sondern setzt Erfahrung mit einer realen Umgebung voraus.

LENZEN führt uns die meiste Zeit recht geschickt durch das Dickicht der unterschiedlichen Forschungsansätze, wechselt dabei immer wieder den Focus von der Metaebene zur Detailfragestellung.
Gegen Ende des Buches ist man aber nicht immer so ganz sicher, ob es nicht die ein oder andere Schleife zu viel gab. Bestimmte Gedanken wiederholen sich – und das sind dann Momente, in denen man sich eine noch etwas klarere und konsequentere Struktur wünschen würde.

Insgesamt liefert dieses Buch einen anregenden und wertvollen Beitrag zum Mega-Thema KI – gerade weil es kein technik-orientierter Text ist, sondern das Verstehen der menschlichen Intelligenz genauso wichtig nimmt wie den Einblick in die Entwicklung der faszinierenden Zukunftstechnologie.