Willkommen im Buch-Blog “Weltverstehen”

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Ich stelle “Wissensbücher” vor und begründe meine Bewertung ihrer Qualität und ihres Nutzens.
Schwerpunktmäßig sind das Sachbücher; gelegentlich aber auch Romane, die zum Verständnis unseres Daseins beitragen können.

Hier werden alle Beiträge chronologisch angezeigt.
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“Die Evolution der Gewalt” von Harald MELLER et al.


























Bewertung: 4 von 5.

Dies ist eines der Bücher für Menschen, die alles ganz genau wissen wollen.
Den drei Autoren (Historiker, Archäologe, Verhaltensforscher) würde es leicht fallen, ihre Kern-Erkenntnisse und Basis-Aussagen in einem Thesenpapier oder in einem kurzen Artikel nachvollziehbar darzustellen. Tatsächlich tun sie genau das an mehreren Stellen Ihres Textes und letztlich auch in ihrem Manifest-artigen Schlusskapitel.
Warum schreiben sie stattdessen ein 360-Seiten-Buch?
Weil sie ganz offenbar ein leidenschaftliches Interesse daran haben, jede ihre Aussagen und Schlussfolgerungen mit möglichst vielen und detaillierten Indizien und Fakten zu untermauern. Es geht Ihnen darum, nicht nur Ergebnisse zur kriegerischen Natur des Menschen darzubieten (wenn das auch vermutlich das Hauptziel war), sondern sie haben sich der Mission verschrieben, auch den mühsamen Weg der wissenschaftlichen Erkundung in allen Facetten zu beschreiben.
Und weil sie alles so akribisch und faktenverliebt ausführen und dabei auch immer wieder in die größeren Zusammenhänge einordnen, setzen sich die einzelnen Bausteine Ihrer Argumentationskette dann letztlich – wie im Untertitel erwähnt – zu einer (themenspezifischen) Menschheitsgeschichte zusammen.

Auf zwei Haupt-Pfaden verfolgen die Autoren die Spuren von Gewalt und Krieg:
– Als evolutionäre Anthropologen erkunden sie die biologischen Wurzeln unserer Spezies, auch auf dem Hintergrund unserer Verwandtschaft zu anderen Primaten.
– Aus zahlreichen archäologischen (später auch kulturellen) Zeugnissen entwickeln sie eine (in sich kohärente) Theorie der Gewalt- und Kriegsbereitschaft des Menschen.

Wie schon angedeutet: Es werden keine fertigen Hochglanzbilder präsentiert. Stattdessen schaut man zahlreichen weltweit tätigen Spezialisten förmlich dabei zu, wie sie aus winzigen Bruchstücken (z.B. Skelettfunden, Grabbeigaben und ersten Zeichnungen) ein zunehmend feiner strukturiertes Mosaik über die Rolle spontaner oder organisierter Gewaltausübung in der Menschheitsgeschichte zusammenfügen. Im wahrsten Sinne eine “Knochenarbeit”!

Die eigentliche Arbeit der Autoren lag darin, die kaum zu übersehende Zahl von Einzel(be)funden zu einer stimmigen Gesamt-Theorie zu bündeln.
In aller Kürze könnte sie lauten:
Über den weitaus größten Teil seiner Evolutionsgeschichte war der Mensch zwar kein gewaltfreies Wesen, aber er lebte ganz offensichtlich in recht egalitären und kooperativen Gemeinschaften, weitestgehend ohne organisierte Gruppengewalt. In dieser Hinsicht unterschied er sich offenbar eindeutig von seinen Vettern, den Schimpansen.
Zu einer wahrhaft kriegerischen Spezies entwickelte sich der Mensch durch die Veränderung sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Strukturen im Rahmen von allmählicher Sesshaftigkeit, Arbeitsteilung, Eigentumsbildung, Machtkonzentration und patriarchalen Gesellschaftsregeln
. Das alles spielte sich in den letzten 10 000 Jahren ab – also einem winzigen Bruchteil unserer Entwicklungsgeschichte.
Die Autoren weigern sich hartnäckig, aus dieser “Momentaufnahme” auf die grundlegende – und damit unveränderliche- kriegerische Natur des Menschen zu schließen – zudem der teilweise atemberaubenden Grausamkeits-Verherrlichung auch gegenläufige kulturelle Strömungen entgegenstehen.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass der Text – obwohl gut lesbar und didaktisch gekonnt geschrieben – gelegentlich auch Herausforderungen beinhaltet. Nicht jeder Leser wird sich wiederholt für die exakten Ausprägung von Spuren interessieren, die vermeintliche Waffen in Knochenfragmenten hinterlassen haben. Nicht jede Leserin wird Gefallen daran finden, gezeichnete oder schriftlich überlieferte Grausamkeits-Rituale exakt geschildert zu bekommen. Manchmal hat Detailverliebtheit auch einen Preis…

Dass die Autoren sich nicht nur ihre wissenschaftlichen Fähigkeiten und Sichtweisen präsentieren wollen, zeigt sich in ihren abschließenden “Zwölf Lektionen”: Dort fassen sie nicht nur ihre Befunde zusammen, sondern leiten daraus auch den Appell ab, sich den erkannten Einflüssen und Dynamiken in Richtung “Normalisierung des Krieges” engagiert zu widersetzen. Aus ihrer Sicht stehen die Chancen für diesen Weg gar nicht schlecht – weil wir eben nicht gegen eine unveränderliche kriegerische Natur ankämpfen müssen.
So kann dieses Buch nicht nur Wissen erweitern, sondern im besten Fall auch zum Einsatz für eine friedlichere Welt ermutigen.

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“Neurowissenschaften in der Kritik” von Eileen WENGEMUTH

(Vorbemerkung: Ich vergebe in dieser Rezension keine Sterne-Bewertung. Das wäre in sofern unfair, als dass ich hier eine wissenschaftliche Publikation (Dissertation) mit den (unpassenden) Maßstäben eines populärwissenschaftlichen Sachbuchlesers betrachte.
Meine Ausführungen zu dieses Buch sind daher in keiner Weise als Kommentierung der wissenschaftlichen Qualität zu verstehen.)

In dem spannenden Forschungsfeld zwischen Philosophie, Psychologie und Biologie gibt es kaum eine vergleichbar faszinierende Disziplin wie die Neurowissenschaft. In den letzten 20 – 30 Jahren hat sie auch in der Öffentlichkeit ein großes Interesse auf sich gezogen; dabei sind gelegentlich auch Kontroversen um die Deutungshoheit in grundsätzlichen Fragestellungen bekannt geworden.

Die Psychologin WENGEMUTH hat sich die Aufgabe gestellt, die Kritik an den so populären Neurowissenschaften in systematisch-wissenschaftlicher Form zu untersuchen. Dafür nimmt sie zunächst eine Literaturanalyse vor, die sie nach den von HOLZKAMP (1983) im Rahmen seiner “Kritischen Psychologie” konzipierten Kategorien gliedert.
Sie führt dann Experteninterviews mit 13 Neurowissenschaftlern (davon vier Frauen) aus Deutschland (10) und England (3) durch, die sie entsprechend ihrer Fragestellung und der gewählten Methodik auswertet. In diesen Befragungen will die Autorin erkunden, welchen Stellenwert die gesammelten Kritikpunkte im Forschungs- bzw. Arbeitsalltag der Wissenschaftler haben.

Die Bereiche der Kritik wurden wie folgt unterschieden:
– philosophische Aspekte (unklare Beziehung bzw. Kausalitäten zwischen mentalen und neurologischen Prozessen, widersprüchliche Dualismus-Konzepte, ungeklärte Rolle der Willensfreiheit)
– gesellschaftstheoretische Fragen (implizite Verstärkung von Machtverhältnissen und Ungleichheit; einseitig naturalistische Konzepte, Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs)
– Ebene der Konzepte und Begriffe (sprachliche und inhaltliche Unklarheit; mangelnde Güte der Operationalisierungen, salopper Umgang mit Metaphern)
– einzeltheoretische Punkte (insbesondere Methodenkritik)
Die einzelnen Themenbereiche werden von der Autorin mit einer bemerkenswerten Tiefe und Differenziertheit untersucht, die in dieser Genauigkeit von keinem “normalen” Sachbuch zu erwarten wäre. In dieser analytischen Aufarbeitung liegt ganz eindeutig die Stärke dieser Arbeit; sie lässt sich gut als Grundlage für zukünftige Diskussionen nutzen.

Es stellt sich insgesamt heraus, dass es keine einheitliche Haltung der Praktiker/innen zu den verschiedenen Kritikbereichen gibt. Je nach eigenem Wissenschaftsverständnis werden den Themen eine unterschiedliche Relevanz für den Arbeitsalltag zugeschrieben.

Wenn auch die Kritikpunkte von der Autorin sehr sorgfältig und mit Bezug zu vielen Einzelquellen herausgearbeitet werden, ruft die Publikation doch eine zentrale Enttäuschung hervor: Es findet keine eigene inhaltlich bewertende Auseinandersetzung mit den Vorwürfen an die Neurowissenschaften statt!
Wer also als Leser/in erwartet, dass die Kritik ihrerseits einer kritischen Bewertung unterzogen wird und sich aus dem Wechselspiel der Argumente eine eigene Meinungsbildung auf einem höheren Erkenntnisniveau ergeben könnte, bleibt ein wenig frustriert zurück.
Die interviewten Experten können dieses Manko nicht ausgleichen, da sie ja nicht vorbereitet in die Konfrontation mit den Kritikpunkten gehen. So wird den sorgsam formulierten und begründeten Thesen letztlich Spontanmeinungen entgegengesetzt – die dann wiederum von WENGEMUTH sortiert und eingeordnet werden.
So hat das Team “Neurowissenschaften” keine angemessene Chance auf Relativierung und Erwiderung und spielt in einer ganz anderen Liga als die “Kritik-Profis”.

Sprachlich bzw. stilistisch bewegt sich WENGMUTH ganz im Bereich der wissenschaftlichen Anforderungen. Daher kann man an diesen Text (natürlich) nicht mit den üblichen Ansprüchen eines gefälligen Sachbuch-Journalismus herangehen. Die vorgegebene strenge Gliederungsstruktur sorgt u.a. dafür, dass es zu einer gewissen Redundanz der inhaltlichen Aussagen kommt.

Die Arbeit von WENGEMUTH hat ihren Wert vorwiegend in der wissenschaftsinternen Analyse: Es wird exemplarisch gezeigt, welche Kritikpunkte an der eigenen Wissenschaft den Praktikern bekannt sind und wie sie dazu stehen. Zusätzlich wird durch weitere Erkundungen deutlich, wie sie die Rahmenbedingungen ihres Arbeitsfeldes wahrnehmen und bewerten.
Was leider nicht geboten wird, ist eine qualitativ ausgeglichene Auseinandersetzung über die so umfassend dargelegte Kritik. Dazu hätte die Autorin letztlich die Positionen derjenigen ins Feld führen müssen, die ihrerseits das ursprünglich Ziel der Kritik waren.
Das entsprach jedoch nicht ihrem Konzept und der Zielsetzung – und kann daher kein Grund für eine negative Bewertung sein.

(Nachbemerkung: Ich werde bei nächsten mal etwas sorgfältiger prüfen, ob eine wissenschaftliche Arbeit meine Erwartungen an ein informatives Sachbuch überhaupt erfüllen kann).

“Psychotherapie ohne Fachgedöns*” von Nike HILBER

Bewertung: 3.5 von 5.

Allgemeinverständlich über Psychotherapie aufzuklären, ist ein sinnvolles und lohnendes Unterfangen. Die sonst auf Instagram (22 Tsd. Follower) aktive Therapeutin hat sich entschlossen, nun auch das klassische Print-Medium für dieses Ziel zu nutzen.

Aufgrund der Affinität zur Social-Media-Szene erwartet man eine niederschwellige Heranführung an das Thema. Genau das wird von HILBER auch geboten: Sie holt die Interessenten und potentiellen Patienten in ihrem Alltagsleben und bei ihren Zweifeln, Ambivalenzen und Ängsten ab.
Perfekt ist in diesem Zusammenhang die lebensnahe Schilderung einer ersten Kontaktaufnahme im Rahmen einer psychotherapeutischen Sprechstunde. Sie nimmt die Perspektive des Patienten ein und zeigt so, dass sie als Therapeutin – stellvertretend für alle Fachkollegen – genau weiß, wie unsicher und ausgeliefert man sich in dieser ungewohnten Rolle fühlen kann.

Diesen Weg, einige typische Störungsbilder und therapeutische Abläufe exemplarisch zu schildern, behält die Autorin bei. Auf dieser Ebene lädt sie ein, sich mit der Patientenrolle zu identifizieren und das gesamte Geschehen zu entmystifizieren und zu normalisieren.
Ihre Botschaft: “Es passiert nichts Schlimmes, wir sind alle nur Menschen…”
Gleichzeitig beinhalten die Fallbeispiele natürlich auch Informationen darüber, was typische Gründe für das Durchführen einer Psychotherapie sein können. Positiv anzumerken ist in diesem Zusammenhang, dass HILBER der Versuchung widersteht, die Eingangsschwelle zu einer “Psychotherapie als Teil der Gesundheitsversorgung” übermäßig zu senken: Es wird insgesamt deutlich, dass es in einer (von der Krankenversicherung getragenen) Psychotherapie nicht um alltagsübliche Befindlichkeitsstörungen oder um eine allgemeine Persönlichkeitsentwicklung gehen kann.

Doch dieses Buch hat auch noch andere Facetten:
Etwas überraschend ist zwischenzeitlich die Breite und Intensität, mit der die Autorin in die theoretischen Grundlagen der psychodynamischen Therapie einsteigt. Die Häufigkeit, mit der Sie einzelne Aussagen auf Literaturquellen bezieht, erinnert schon fast an eine wissenschaftliche Arbeitsweise. Das wirkt natürlich kompetent und seriös, spricht aber vermutlich eine andere Zielgruppe an.
Was wiederum besser in das (niederschwellige) Gesamtkonzept zu passen scheint, sind die Elemente aus Ratgeber- bzw. Selbsthilfeangeboten: Unter der Überschrift “#reflexionfürdich” schlägt HILBER kleine – jeweils zum Thema passende – Übungen vor und gibt ergänzende praxisnahe Informationen.

Auch wenn man der Autorin über weite Strecken zugute halten kann, sowohl gut verständlich, als auch seriös über Störungsbilder und Psychotherapie aufzuklären, muss man doch in einem Bereich deutliche Abstriche machen: Zwar verheimlicht HILBER nicht, dass sie über eine spezielle Therapieschule bzw. Therapiemethode spricht (über “psychodynamische” Therapie). Sie macht aber keinen Versuch, diese Ausrichtung in die Gesamtlandschaft der psychotherapeutischen Angebote vergleichend einzuordnen.
Man erfährt schlichtweg nichts über die Konkurrenzangebote “Kognitive Verhaltenstherapie” oder “Systemische Therapie”) – weder geht es um Gemeinsamkeiten, noch um Unterschiede. Genau dies würde aber ganz sicher die avisierte Zielgruppe im Rahmen einer Entscheidungshilfe interessieren.
So wie das Buch geschrieben ist, entsteht für die uninformierte Leserschaft letztlich doch – zumindest zwischen den Zeilen – der Eindruck, dass man all die beschriebenen Hilfen eben (nur) im Rahmen einer “tiefenpsychologischen” oder “psychoanalytischen” Therapie erhalten könnte: Nur da geht es schließlich um das “Unbewusste”, das “freie Assoziieren” , um “Abwehrmechanismen” und die “Traumdeutung”. Dass andere etablierte Therapierichtungen ohne diese Konzepte auskommen, sollte wenigstens eine Erwähnung wert sein.

Betrachtet man allerdings eher die Zielgruppe der potentiellen Leser, die sich genau über diese Therapierichtung informieren wollen, kann das Gesamturteil sicher noch positiver ausfallen. Allerdings hätte das dann fairerweise auch Eingang in die Titelgebung finden müssen.

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“Hör zu!” von Michel FABER

Bewertung: 4 von 5.

Wenn man über die Anschaffung eines mittleren Wälzers von ca. 550 Seiten zum Thema “Musik” nachdenkt, möchte man vorher eine Ahnung davon haben, auf was man sich einlassen würde.

Die Antwort darauf soll mit einer Aufzählung von Inhalten beginnen, die dieses Buch nicht ausmachen. “Hör zu” ist nämlich keine
– historische Reise durch die Geschichte der Musik
– Einführung in die Musiktheorie
– systemattische Darstellung von Genres oder Stilrichtungen
– Bewertung einzelner Interpreten oder Werke
– Analyse von psychologischen oder neurowissenschaftlichen Prozessen
– soziologische oder ökonomische Betrachtung.
Was bleibt dann, worüber man sich in dieser Breite auslassen kann?

FABER, der zuvor als Romanautor aktiv war, hat ein extrem persönliches Buch über Musik geschrieben. Er macht erst gar nicht den Versuch, aus einem Expertenmodus heraus den Anschein von Allgemeingültigkeit zu erwecken. Er schreibt – eher in einem assoziativen als systematischen Stil – über so ziemlich alles, was ihm als leidenschaftlichen Musikhörer bedeutsam erscheint – und dabei ist Subjektivität sozusagen seine Richtschnur.
Grundlage für seine Ausführungen ist – über seinen privaten Musikkonsum hinaus – seine jahrzehntelange Verbundenheit mit einer Kultur- und Musikszene, die sich wohl ohne Übertreibung als “links-alternativ-progressiv” charakterisieren ließe.
Nicht unerwähnt lässt der Autor auch seine Zugehörigkeit zu einer Spielart der “Neurodiversität” – aber “Normalität” ist für FABER sowieso wohl eher ein abschreckendes Konzept.

Das Buch handelt von den verschiedenen Facetten und Funktionen, die Musik sowohl im persönlichen Leben als auch in der Gesellschaft haben kann: Es geht um Gefühle, um Identität, um Gruppenzugehörigkeit, um Konsum, Geschäft und Marktgesetze, um Abgrenzung, um Selbstfindung, …
Der Versuch einer Gliederung bezieht sich auf Themen wie “frühste musikalische Prägungen”, “die Rolle der Musik in den eigenen Jugenderinnerungen”, “die vermeintliche Überlegenheit der Klassik gegenüber der Pop-Musik”, “die Rolle von Kritikern und Musikzeitschriften”, “die Geschichte und Bedeutung der jeweiligen Speichermedien”, “der (unangemessene) Umgang mit den kulturellen Ursprüngen der Pop-Musik”; “die Männer-Dominanz in der Musikwelt”, “die Bedeutung der Lautstärke”, “die Arroganz der vermeintlichen Experten”, “das Glück des Singens”, usw.

Alle diese Themen werden nicht in der Systematik eines journalistischen Sachbuchs abgearbeitet, sondern in einem rasanten Slalom-Parcours, in dem Hunderte von Interpreten und Songbeispiele zur akustischen Illustration genutzt werden.
Anders als in der Einleitung angekündigt, gibt es natürlich doch klare Präferenzen des Autors – auch wenn er gleichzeitig immer wieder darauf hinweist, dass niemand das Recht habe, anderen einen Musikgeschmack vorzuwerfen.
Es wird z.B. deutlich, dass FABER keinen Zweifel daran hat, dass die kulturellen Beiträge der Beatles, der Beach Boys, eines Bob Dylan oder eines Marvin Gaye hinter dem Vermächtnis der großen Helden der Klassik nicht zurückstehen. Aber natürlich kämpft FABER leidenschaftlich für die verkannten Underdogs der Musikszene, z.B. auch für die Frauen.

Wer sich und sein Leben selbst mit und über Musik definiert, wird früher oder später durch dieses Buch eingefangen – durch Themen, verehrte Interpreten oder Lieblingsstücke.
Man sollte allerdings realistische Erwartungen an diese Hymne an die Musik haben: Ohne persönlichen Bezug zu der Soul-, Beat-, Rock- und Popwelt der letzten 60 Jahre ist dieser große Happen Musikbegeisterung nur schwer zu verdauen. Man muss dem Autor seine manchmal exzentrischen und weitschweifigen Exkurse verzeihen können; man muss Gefallen an seiner ungebändigten Assoziationsdynamik finden.
Dann macht nicht nur Musik etwas mit einem, sondern auch dieses Buch!

“Plädoyer für die Freiheit und gegen die Gleichheit” von Andreas EDMÜLLER

Bewertung: 3 von 5.

Das Cover dieses Buches wirkt fröhlich-verspielt, das Thema ist von großer Tragweite, der Stil ist (weitgehend) systematisch-analytisch, der Zugang ist philosophisch-politisch, die Positionierung ist extrem und provokant.
Es geht um das große Thema “Gerechtigkeit” – und dabei vor allem um die Frage, ob und wie weit organisierte Gesellschaften (Staaten) das Recht oder die Pflicht haben, Ungleichheiten zwischen ihren Mitgliedern durch Eingriffe in das “freie Spiel der Marktkräfte” auszugleichen.

In seinem sehr übersichtlich strukturierten Text nähert sich der Autor dem Thema, indem er zunächst über “objektive Normen” und mögliche Grundlagen einer philosophischen Staatstheorien nachdenkt. Es geht um “interessensgeleitete” Begründungen für die Übertragung von Macht an eine Zentralinstanz, die letztlich in “Vertragstheorien” der Staatsbildung münden.
EDMÜLLER wendet sich dann den etablierten Gerechtigkeitskonzepten der (von ihm aus betrachtet) “Gegenseite” zu, die vom Grundsatz her auf Ideen der Gleichheit basieren. Der Hauptteil seiner Darstellungen widmet EDMÜLLER nämlich der (vermeintlichen) Schwächung bzw. Widerlegung des Utilitarismus und der Ansätze von RAWLS und DWORKIN.
Der letzte Teil des Buches ist dann dem bevorzugten Gesellschaftsmodell gewidmet: dem libertären Minimalstaat, dessen Aufgabe es ist, die Freiheitsrechte des Einzelnen (insbesondere das Eigentumsrecht) auch weitestgehend gegen jegliche Ansprüche auf Nachteilsausgleich oder Gemeinwohlförderung zu verteidigen.

EDMÜLLER ist kein pauschalisierender Eiferer: Er vertritt seine – selbst als provokant und radikal eingeschätzte – Position auf der Basis einer differenzierten Argumentationslogik, die philosophische, formal-logische, politische und psychologische Aspekte berücksichtigt.
So baut er im Rahmen eines Systems von Axiomen und Grundüberzeugungen schrittweise ein Begründungsgerüst auf, das seinen Schlussfolgerungen den Anschein einer gewissen Zwangsläufigkeit verleihen soll.
Der Autor erweist sich dabei als guter Didaktiker: Er präsentiert seine Darstellungs- und Argumentationslinien auch auf der Meta-Ebene so transparent, dass die Leserschaft zu keinem Zeitpunkt die Orientierung verliert. Es gelingt im ausgezeichnet, die jeweiligen Kernpunkte der verschiedenen Konzepte fassbar zu machen. Das führt dazu, dass auch die von ihm inhaltlich abgelehnten Konzepte in einer bemerkenswerten Klarheit dargestellt werden. Allerdings spürt man dabei zunehmend die Konzentration auf die Aspekte, auf denen er sein Gegenmodell aufbauen will: Er arbeitet – mit bemerkenswerter Akribie – heraus, welche Begriffe sich als unzureichend definiert, welche Schlüsse als nicht solide abgeleitet und welche Konsequenzen als widersprüchlich oder unakzeptabel erweisen (jeweils aus seiner Sicht).

Für viele (potentielle) Leser/innen könnte sich so am Ende des Textes folgende Situation ergeben: Obwohl sich die Position des Autors (“Maximale individuelle Freiheit bei Verzicht auf jeden sozialen Gleichheitsanspruch”) scheinbar logisch zwingend aus der Argumentationskette ergibt, will man in dieser Gesellschaft, in der Ungleichheit geradezu als Inkarnation der Freiheit definiert wird, nicht wirklich leben! Irgendetwas fühlt sich extrem unstimmig an: Sollten sich doch in diesem so seriös und wissenschaftlich formulierten Text ein paar sehr subjektive Setzungen und Haltungen verbergen? Dient dieses ganze so formal und akkurat konstruierte Gebäude vielleicht letztlich doch nur dazu, ein extrem neo-liberales, auf dem Egoismus der Privilegierten fußendes Gesellschaftsmodell zu legitimieren?

Schauen wir uns ein Beispiel an: In EDMÜLLERs Angriff auf das bekannte Gerechtigkeitsmodell von RAWLS spielt die Unterscheidung zwischen “schicksalhaften” und “selbstverschuldeten” Ungleichheiten eine große Rolle. Geradezu süffisant macht der Autor darauf aufmerksam, dass es schließlich auf den “Eigenanteil” ankäme, mit dem jede/r auf die (tatsächlich ungleiche) Verteilung von Talenten und Privilegien reagieren könne.
Offenbar fehlt EDMÜLLER jegliches psychologisches Wissen bzw. Verständnis für den Umstand, dass auch solche Ressourcen wie Fleiß, Disziplin, Impulskontrolle, Durchhaltevermögen, Frustrationstoleranz nicht in der freien Verfügung von Menschen stehen, sondern ihrerseits von prägenden Faktoren abhängig sind – die ganz sicher nicht gleich und gerecht verteilt sind.
Später wird deutlich, dass der Autor gegenüber den Einschränkungen der Lebensziele privilegierter Menschen (den diese durch Beiträge zum Gemeinwohl erleiden müssen) eine wesentlich höhere Sensibilität zeigt, als er sie in Bezug auf tatsächlich benachteiligte Gruppen aufbringen kann.

Letztlich kommt die Idee auf, dass EDMÜLLER mit seinem Plädoyer (für Freiheit, gegen Gleichheit) vielleicht ungewollt ein starkes Gewicht für die – so heftig bekämpfte – Gerechtigkeitstheorie von RAWLS in die Waagschale geworfen hat: Man kann sich nämlich nicht vorstellen, dass der Autor unter Bedingungen, in denen er keine Informationen über seine persönlichen Voraussetzungen hätte, sich für die unerbittlichen Regeln seines Minimal-Staates entschieden hätte. Genau diesen “Schleier der Unwissenheit” fordert RAWLS aber in seinem berühmten Gedankenexperiment.
Letztlich kann daher dieses Buch – trotz aller formaler Stärken – inhaltlich nicht überzeugen. Ohne Zweifel bietet es aber interessantes und anregendes Trainingsmaterial für differenzierte Auseinandersetzungen in diesem Bereich der angewandten Philosophie.

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“Keine Zeit für Pessimismus” von Dirk ROSSMANN und Josef SETTELE

Bewertung: 4 von 5.

Der bekannte Unternehmer Dirk ROSSMANN ist ein umtriebiger Mensch, dem der Aufbau eines Drogerie-Imperiums als Lebensleistung ganz offensichtlich nicht ausreicht (auch das wird in diesem Buch zum Thema). Besonders öffentlichkeitswirksam wurden seine Aktivitäten durch 3 Umwelt-Thriller (die Oktopus-Reihe).
Mit seinem aktuellen Buch (2025) wechselt ROSSMAN das Genre: Dargeboten wird solider Wissenschaftsjournalismus in Form eines gut lesbaren Sachbuchs. Der Mitautor SETTELE (Biologe und Umweltforscher mit dem Spezialgebiet “Schmetterlinge”) ist dabei nicht als Ghostwriter tätig; stattdessen ergänzen sich offenbar die Textbeiträge beider Autoren.
Inhaltlich geht es beispielsweise um Mikroplastik, Mini-Wälder, Antibiotika-Forschung, Batterie-Optimierung und um ein Schulmodell. Insgesamt werden diese und andere Projekte in 10 Kapiteln vorgestellt; auch die Autoren gönnen sich jeweils ein Kapitel.

Von zahlreichen anderen Nachhaltigkeits-Büchern unterscheidet sich “Keine Zeit” insbesondere in einem Punkt: Hier werden die dargestellten Transformations-Ideen für Produkte, Herstellungsmethoden oder Zukunfts-Konzepte nicht als – mehr oder weniger austauschbare – Beispiele für bestimmte Trends angeführt. Durch die Breite und Tiefe der Präsentation bekommen die ausgewählten Themen bzw. Personen so etwas wie ein Eigenleben: Sie erheben sich aus der Masse von Initiativen, werden fassbar, bekommen Konturen und Individualität.
Ein weiterer Gewinn beinhaltet die gewählte Nah-Perspektive, in dem sie Motivationen, Prozesse und Strategien erkennbar macht: Die verschlungenen und kräftezehrenden Wege von einer Idee bis zur marktreifen Umsetzung werden so verstehbar; gleichzeitig entsteht ein Gefühl dafür, warum auch gute Ansätze oft scheitern.

Es fehlt noch ein Bezug zum Titel: Die Autoren wollen Pessimismus vertreiben und Optimismus säen. Das entspricht nicht nur ihrer persönlichen Grundhaltung, sondern hat ganz pragmatische Ziele: Der Glaube daran, dass eine bessere Zukunft möglich ist, schafft Motivation, weckt Tatendrang und wirkt sozial ansteckend. Auch deshalb gehen sie so in die Tiefe: Es soll deutlich werden, auf welchen psychologischen Mechanismen leidenschaftliches Engagement entstehen kann.
Auf dieser Basis wird dann auch ein wenig Kritik an den Weltuntergangs-Aktivisten (meine Formulierung) formuliert.

Die Autoren schaffen es in diesem Buch vorbildlich, den Weg zur Nachhaltigkeitswende aus dem Bereich der immer gleichen Schlagworte zu befreien und in lebendiger Form zu konkretisieren.
Angesichts dieser Leistung ist es sicher tolerierbar, dass die beiden älteren Herren am Ende des Buches ein wenig (selbstverliebte) Eigenwerbung betreiben. Man darf z.B. ruhig ein wenig stolz darauf sein, wenn man mit den Gewinnen seines Unternehmens eine ganze Reihe von gesellschaftlich relevanten Projekte unterstützt (statt sich einen Privatjet zu leisten).
Wenn man insbesondere an inhaltlichem und strukturellem Sachwissen interessiert ist, wird man vermutlich das ein oder andere private Detail oder bestimmte Anekdoten für verzichtbar halten. Dass dieses Buch andere – eher strukturelle und politische – Facetten der Nachhaltigkeits-Thematik weitgehend auslässt, kann kein ernsthafter Kritikpunkt sein: Der Anspruch auf eine umfassende Darstellung wird an keiner Stelle erhoben (und wäre auch eher unrealistisch).
Anders als bei den Oktopus-Thrillern (Bd. 1 / Bd. 2 / Bd. 3) kann hier jedenfalls eine uneingeschränkte Empfehlung ausgesprochen werden.

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“Adams Apfel und Evas Erbe” von Axel MEYER

Bewertung: 4 von 5.

Bei einem 10 Jahre alten naturwissenschaftlichen Sachbuch (erschienen 2015) stellt sich vorweg die Frage, ob nicht schon die mangelnde Aktualität gegen die Beschäftigung mit dieser Publikation spricht.
Ich will im Folgenden u.a. begründen, warum ich darauf mit “nein” antworte – und es deshalb auch nicht bereue, dieses Buch gelesen zu haben.

Der international bekannte Zoologe (spezialisiert auf Genetik und Evolutionsbiologie) legt in diesem durchaus schwergewichtigen Band (375 Textseiten) zunächst einmal eine Einführung in die allgemeine Genetik vor. Diese ist zwar für Laien gut verständlich geschrieben, geht aber hinsichtlich der Informationstiefe deutlich über einen wissenschaftsjournalistischen Standard hinaus. Das ist kein Text, in dem man zur Entspannung kurz vor dem Schlafengehen ein wenig schmökert.

Vermittelt wird solides Basiswissen in klassischer Genetik, das sich dann schrittweise auf die biologischen Grundlagen der Geschlechtlichkeit fokussiert. Auch hier geht es deutlich unter die Oberfläche: Der (durchaus komplizierte) Zusammenhang zwischen der Chromosomen-Ausstattung und der Entwicklung eines männlichen bzw. weiblichen Körpers wird in aller Differenziertheit betrachtet.
In einem weiteren Kapitel werden die – insgesamt sehr seltenen – Abweichungen und Ausnahmen erklärt, ebenso wie die Versuche, im Grauzonen-Bereich zu sinnvollen Entscheidungen zu kommen.
Die Leserschaft erfährt auch, wie genau sich weibliche und männliche Gene einen Wettbewerb um Dominanz in der Nachkommenschaft liefern, wie es um die biologischen Grundlagen von Monogamie bzw. Promiskuität bestellt ist und wie die biologischen Grundlagen von Attraktivität bei der Partnerwahl aussehen.
Der Erblichkeitsforschung nähert sich der Autor schwerpunktmäßig beim Thema “Intelligenz”, erklärt dabei auch methodische und statistische Grundlagen.

In den letzten Kapiteln des Buches stehen dann die Fragen rund um die biologische Verankerung von Geschlechtsunterschieden zwischen Männern und Frauen im Mittelpunkt.
Dem Autor ist nicht nur bewusst, dass er damit ein vermintes Gelände betritt, sondern er steigt ganz bewusst und engagiert in die gesellschaftlichen Kontroversen um die relative Macht von Biologie und Kultur ein. Seine Botschaft ist eindeutig: Er stellt sich konsequent dem Zeitgeist entgegen, verteidigt die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse gegen die Angriffe durch Wokeness-Aktivismus, stellt sogar ganz offen die wissenschaftliche Seriosität vieler “Gender-Studies” in Frage.

Auch in diesem Themenspektrum (Gender, Geschlechtsrollen, Transgender, Homosexualität, Gendermainstreaming) bezieht sich MEYER zwar über weite Teile auf Fakten und Befunde, geht in seinen gesellschaftlichen und politischen Schlussfolgerungen aber an einigen Punkten deutlich darüber hinaus. In diesen Momenten wird deutlich, was den Autor ganz persönlich umtreibt, was ihn motiviert hat, dieses Buch zu schreiben: Er will einerseits die wissenschaftlichen Standards in einem Bereich verteidigen, dem er seit Jahrzehnten seine Schaffenskraft gewidmet hat. Zusätzlich versteht er sich auch als politischer Mensch, der ganz direkt gesellschaftlichen Entwicklungen entgegentreten will, die er als ideologisch motiviert bewertet (z.B. einer umgekehrten Geschlechterdiskriminierung zum Nachteil von Männern).

Mit diesem Buch erhält man eine beachtliche Menge von gut aufbereitetem (Grundlagen-)Wissen über einen Themenkomplex, der – zusammen mit der digitalen KI-Revolution – die Zukunft unserer Spezies entscheidend prägen wird. Auch wenn hier nicht die neuesten Befunde der letzten Jahre eingegangen sind, eignet sich der Band als solide Informationsquelle über die grundlegenden Mechanismen der Genetik.
Mit der Fokussierung auf die Geschlechter-Frage berührt der Autor eine Diskussion, die seit der Veröffentlichung noch an Intensität zugenommen hat. Dass sich MEYER hier nicht mehr (nur) als neutraler Wissenschaftler zeigt, kann man verständlich, sympathisch oder vielleicht sogar notwendig finden. Man könnte es aber auch ein wenig bedauern, dass er es durch ein paar wenige – vielleicht etwas zu kämpferische – Formulierungen der “Gegenseite” erleichtert, ihn als “konservativen Antifeministen” zu brandmarken.
Es wäre tatsächlich sehr schade und extrem ungerecht, dieses extrem faktenreiche und (ganz überwiegend) differenzierte Werk in die Kulturkampf-Ecke zu verbannen.

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“Gar es ohne Bares” von Sebastian MAAS

Bewertung: 4.5 von 5.

Um in dem unüberschaubaren Markt der Kochbücher auf sich aufmerksam zu machen, muss man schon irgendein Alleinstellungsmerkmal liefern. Sebastian MAAS macht es über die Low-Budget-Schiene. Ihm kommt dabei der segensreiche Umstand zupass, dass er bei SPIEGEL-online eine Kolumne hat (die dort “Kochen ohne Kohle” heißt.

Doch es geht dem Redakteur und Hobby-Koch nicht nur um den Nachweis, dass auch eine extrem knappe Haushaltskasse eine kreative und abwechslungsreiche Ernährung ermöglicht. Auch unabhängig von der Knete zeigt MAAS ein Herz für seine Zielgruppe: junge Leute, die in ihren WGs die ersten Verselbständigungs-Schritte in Richtung Selbstversorgung machen.
Der Autor schafft einen entsprechenden Kontext, in dem er seine Rezepte in kleine Geschichten aus dem Studenten- und WG-Alltag einbettet. Dabei kann er immer wieder aus dem Fundus eigener Erfahrungen schöpfen: Der Koch-Lehrer kommt daher als Szene-sicher und authentisch rüber.

Doch auch auf der Informationsebene macht MAAS zusätzliche Zielgruppen-affine Angebote: Seine Handlungsanweisungen sind ausführlich und setzen keine Grundkenntnisse voraus. Darüber hinaus definiert er die notwendige Küchen-Minimalausstattung, gibt Hinweise für Einkauf, Lagerung und Resteverwertung.
Auch an die Ästhetik wird gedacht: Farbfotos von Zutaten und/oder dem fertigen Gericht sind vorhanden. Das erhöht nicht nur die Motivation, sondern schafft auch zusätzliche Sicherheit und gibt Anregungen für die Darbietung der Speisen.

Da Geld eine zentrale Rolle spielt, vermeidet MAAS weitgehend exotische Zutaten aus der Feinkost-Ecke. Das hindert ihn aber nicht daran, seine Rezepte breit aufzustellen und international auszurichten. Schnell wird der Leserschaft deutlich, dass Sparen auch etwas mit Selbermachen zu tun hat: So wird dann schonmal der Teig für Fladenbrote oder Scherennudeln in Eigenarbeit hergestellt.
Als kleinen Gag erlaubt sich der Autor, die Rezepte nach dem Portionspreis zu sortieren: Die Ein-Euro-Gerichte gibt es am Ende des Monats (kurz bevor das nächste Bafög kommt).

Insgesamt kann man das Projekt von der Idee und Umsetzung als sehr gelungen bewerten. Man merkt dem Text auf jeder Seite an, dass der Autor nicht nur praktische Lebenshilfe, sondern auch Spaß am Selberkochen vermitteln wollte.
Ein tolles Geschenk zum Einzug in die erste eigene Bude!

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“Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins” von Peter GODFREY-SMITH

Bewertung: 4 von 5.

Wenn ein Philosoph ein naturwissenschaftliches Interesse an den biologischen Quellen des Bewusstseins hat und nebenher noch leidenschaftlicher Taucher mit einem Schwerpunkt in der Kraken-Erforschung ist – dann kann es unter günstigen Umständen zu einem Buch wie diesem kommen! Und zwar genau dann, wenn dieser Tausendsassa auch noch das Talent hat und die Motivation aufbringt, seine Erlebnisse, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen in allgemeinverständlicher Form zu vermitteln.

GODFREY-SMITH webt seinen literarischen Stoff aus folgenden Einzelfäden:
– Wir bekommen eine Einführung in die Systematik der biologischen Stammbäume und werden so im Turbotempo durch die Geschichte des Lebens geleitet.
– Der Autor berichtet von diversen Unterwasser-Begegnungen mit einer der interessantesten und geheimnisvollsten Tiergattungen, den Kraken. Die spannendste Frage dabei: Findet Kommunikation zwischen zwei Arten statt, deren Entwicklungs-Wege sich vor ca. 600 Millionen Jahren getrennt haben?
– Wir lernen diese so fremd wirkenden Kreaturen sowohl aus evolutionsbiologischer Perspektive, als auch in ihrem natürlichen Verhalten kennen und erfahren insbesondere, dass die Natur hier einen ganz anderen Weg gewählt hat, Intelligenz zu erzeugen. Dabei greift GODFREY-SMITH (natürlich) auch auf allgemeine Ergebnisse der Kraken-Forschung zurück.
– Der Autor nimmt uns mit in seine grundsätzlichen Überlegungen zum Entstehen von verschiedenen Bewusstseins-Stufen: Für ihn gibt es fließende Übergänge zwischen ersten Formen des Fühlens in einfachen Organismen und dem selbstreflexiven Bewusstsein der Primaten.

Es ist eine ungewöhnliche Mischung von Themen und Zugangswegen: Auch innerhalb der Kapitel finden immer wieder mal ein Wechsel von Perspektiven statt: Gerade noch geht es um hoch-abstrakte Bewusstseins-Theorien – und schon findet ein neuer Tauchgang statt, in dem es um ehr konkrete Verhaltensbeobachtungen geht.

Immer wieder spürbar ist dabei die ganz einzigartige Faszination, die von einem Lebewesen ausgeht, dessen Welt- und Selbsterfahrung schon auf basaler biologischer Ebene eine solch prinzipielle Andersartigkeit aufweist: Da ist ein dezentrales Nervensystem, das den Krakenarmen eine erstaunliche Autonomie ermöglicht; da gibt es die Fähigkeit der Krakenhaut zu spektakulären Farbenspielen (die von den Tieren selbst offenbar gar nicht wahrgenommen werden können); da gibt es den irritierenden Umstand, dass diese so differenzierten und vielseitigen Organismen nur eine sehr kurze Lebenserwartung haben; da gibt es erstaunlich raffinierte Verhaltensweisen, die Kraken unter den Bedingungen einer Gefangenschaft zeigen.
Eine Sehnsucht bleibt offenbar unerfüllt: Kraken zeigen Menschen gegenüber kein Spiel- und soziales Bindungsverhalten, wie dies z,B. zwischen Delfinen und Menschen zu beobachten ist. Das Welterleben der Kraken scheint deutlich “autistischer” zu sein als man es sich bei so intelligenten Kreaturen wünschen würde; kommunikative Aspekte spielen in Begegnungen meist nur eine kurze, oberflächliche Rolle.

So ist man am Ende des Buches auf mehreren Ebenen schlauer geworden: Man weiß mehr über Evolution, über Kraken, über Unterwasserforschung und über Bewusstsein.
Man hätte diesen Erkenntnisgewinn sicher auch auf getrennten Wegen erlangen können. Dass uns der Autor diese besondere Mischung verabreicht, ist vor allem dann ein attraktives Angebot, wenn man sich für alle diese Inhalte interessiert.
Umgekehrt gilt: Wer sich in erster Linie mit dem Thema “Bewusstsein” beschäftigen will, dem wird es sicher irgendwann zu viel mit der Kraken-Beobachtung…


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“Philosophie für alle” von Christian TIELMANN

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buch wurde unter dem Titel “Meilensteine der Philosophie” schon im Jahr 2009 erstmals veröffentlicht. Für die Inhalte dieser Publikation spielt Aktualität allerdings keine Rolle.

Die Konzeption dieser Heranführung an den wuchtigen Gegenstand “Philosophie” lässt sich wie folgt beschreiben:
In 20 Kapiteln werden 18 große Denker (es sind alles Männer) aus der gesamten (abendländischen) Philosophiegeschichte vorgestellt. Zwei weitere Kapitel widmen sich einer Thematik: dem sog, Universalienstreit und der Willensfreiheit.
In diesen Texten wird weitgehend darauf verzichtet, eine zusammenfassende Darstellung bzw. Bewertung der jeweiligen Denkschule zu präsentieren. Was ebenfalls entfällt, sind Hinweise auf Bezüge und Querverbindungen zwischen den Kapiteln oder eine Einordnung hinsichtlich der übergreifenden Grundfragen der Philosophie. TIELMANN legt auch keinen Fokus darauf, die vorgestellten Denker und ihre Theorien in einen zeitgeschichtlichen Bezug zu stellen.
Was bekommt man stattdessen?
Der Autor konzentriert sich darauf, einen exemplarischen Teilaspekt der jeweiligen Lehre herauszugreifen und ihn einer Feinanalyse zu unterziehen. Dabei “übersetzt” und hinterfragt TIELMANN die Vorannahmen, die Klarheit von Definitionen, die Stichhaltigkeit von Argumenten und Widerspruchsfreiheit von Schlussfolgerungen. Er führt also vor, wie einzelne philosophische Aussagen geradezu mikroskopisch seziert werden können.
Dabei hält sich der Autor mit seinen eigenen fachlichen Bewertungen nicht zurück, zeigt also auch, dass Philosophie keine streng objektive Wissenschaft sein kann.

Da sich das Buch an philosophische Anfänger richtet, irritiert gelegentlich die Auswahl der betrachteten Aspekte. Zwar liegt es nahe, dass Platons Ideenlehre und Aristoteles Ausführungen zum glücklichen Leben zum Thema werden; dass TIELMANN sich allerdings ausgerechnet die Musiktheorie von Adorno vornimmt oder sich damit beschäftigt, wie Foucault “Autorenschaft” definiert, macht ein wenig ratlos.
Mit dem Abschlusskapitel über “Willensfreiheit” begibt sich der Autor in einen interdisziplinären Bereich und versucht sich an der philosophischen Bewertung neurowissenschaftlicher Experimente und Theorien (u.a. von Singer und Roth). Hier wirkt seine Schlussfolgerung – die erwartungsgemäß zugunsten der Willensfreiheit ausfällt – doch ein wenig oberflächlich und subjektiv; so wird z.B. die Frage der psychologischen Determiniertheit kaum gestreift.

Insgesamt präsentiert TIELMANN eine Einführung in die Philosophie, die eine nachvollziehbare Auswahl prägender Denker vorstellt und einen praktischen Einblick in die Methode der Text- und Theorieanalyse verschafft. Es gelingt ihm immer wieder, Begrifflichkeiten und Konzepte aufzuschlüsseln und zu hinterfragen und so einen vertieften Einblick in die Denk- und Argumentationsstrukturen zu geben. So sammeln sich Mosaiksteinchen, die eine grobe Idee davon vermitteln, was Philosophie inhaltlich und methodisch ausmacht.
Man sollte aber als Leser/in nicht erwarten, dass sich aus diesen Einzelstücken ein gut erkennbares Gesamtbild ergibt: Dafür fehlt es an Passungen und Verbindungen zwischen den Elementen. Auch muss man bei dieser Betrachtungsweise in kauf nehmen, dass keine Einbettung in kulturelle, wirtschaftliche oder politische Rahmenbedingungen erfolgt.

So kann zwar “Philosophie für alle” einen sinnvollen Beitrag zur Annäherung an dieses Menschheitsthema leisten, sollte aber um Quellen ergänzt werden, die weniger episodenhaft und exemplarisch, sondern eher verbindend und strukturiert vorgehen.

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