“Warten auf Bojangles” von Olivier BOURDEAUT

Ein kleiner französischer Roman, auf den ich sicher nie gestoßen wäre, wenn er mir nicht von einem lieben Menschen geschenkt worden wäre.
In Frankreich war dieser Debüt-Roman offenbar eine kleine literarische Sensation. Konnte ich das beim Lesen nachvollziehen?

Zunächst einmal führt einen der Autor, der als Ich-Erzähler aus der Sicht eines Kindes schreibt, in eine wirklich ausgefallene Familien-Situation. Es wird ein Paar beschrieben, das ein extrem anti-bürgerliches Leben führt und sich statt an Regeln und Konventionen fast ausschließlich an der Maximierung von Genuss und Lebensfreude orientiert – und dabei vor keiner Ausschweifung Halt macht. Die entscheidende Rolle hat dabei die Frau/Mutter, die ihre Lust an Tanz, Musik und rauschhaften Zuständen in einem sowohl faszinierenden als auch selbstzerstörerischen Umfang auslebt.
Das alles wird sehr liebevoll und mit fast grenzenloser Toleranz beschrieben – denn sowohl der Ehemann als auch das Kind versuchen – solange wie eben möglich – das Bild von einer lebenslustigen und charismatischen Person aufrecht zu erhalten.

Doch wie könnte es anders sein: Irgendwann nehmen die Schattenseiten Überhand und das ach so genussvolle Lebenskonzept entpuppt sich als das, was es eben die ganze Zeit auch schon war: eine Gradwanderung diesseits und vor allem jenseits der Grenze zum Wahnsinn.

Das Lesevergnügen besteht vor allem darin, sich auf das Ausmaß der “positiven Umdeutung” einzulassen, das in dieser Familie aufrecht erhalten wird. So hat man den Eindruck, es geht um die Schilderung von etwas extravaganten “Orginalen” – wo doch das Scheitern und der Untergang schon unübersehbar sind.

Ob wohl der Autor von autobiografischen Erfahrungen berichtet?
Das würde man gerne wissen.

“Ikarien” von Uwe TIMM

Ein sehr besonderes Buch – auf das mich ein guter Freund hingewiesen hat.

Ich versuche mal zum Einstieg die Leser-Zielgruppe zu beschreiben:
Die potentiellen Leser sollten insbesondere bereit sein, sich geduldig auf einen eher langsam ablaufenden Prozess der Annäherung und des Verstehens einzulassen. Sie sollten offen sein für indirekte und verschlungene Wege des Erkenntnisgewinns und eine gewisse Frustrationstoleranz mitbringen – da die Kurven und Umwege nicht immer gut ausgeschildert sind. Man sollte ein wenig schwindelfrei sein, weil der Wechseln zwischen Detailverliebtheit und den ganz großen Grundsatzfragen manchmal sehr plötzlich erfolgt…

Was kann man gewinnen, wenn man diese Ressourcen mitbringt und bereit wäre, sie für diese Buch einzusetzen?

Geboten wird ein ungewöhnlich tiefer  und vielschichtiger Einblick in eine zeitgeschichtlich, politisch und wissenschaftlich spannendes und bedeutsame Fragestellung:
Wie kam es dazu, dass deutsche Wissenschaftler und Mediziner vor und während der Nazi-Zeit sich der Vernichtung “lebensunwerten” Lebens verschrieben haben und unter dem Leitmotiv “Reinhaltung und Optimierung der arischen Rasse” unfassbare Verbrechen begangen haben.

Die Antwort, die das Buch darauf zu geben versucht, besteht nicht etwa in einer systematischen Analyse der nationalsozialistischen Ideologie, sondern in der akribischen Nachzeichnung der Lebensläufe von zwei Freunden. Es geht also um die persönliche, individuelle Perspektive; gesellschaftliche Entwicklungsverläufe werden gespiegelt und somit nachvollziehbar gemacht an Einzelschicksalen.

Dieser schon an sich literarisch anspruchsvoller Ansatz wird vom Autor dann noch in eine komplexe Rahmenhandlung eingewoben: Ein deutschstämmiger US-Offizier bekommt im Rahmen seines Recherche-Auftrags einen ungewöhnlich intimen Kontakt zu einem der beiden Protagonisten, der sich von seinem zum Rassenwahn driftenden Freund zwischendurch abgesetzt hatte. In der Befragung dieses Zeitzeugen entsteht dann nach und nach ein facettenreiches Bild, das über Jahrzehnte von der gemeinsamen Suche nach einer idealen Gesellschaft (am Beispiel einer Modell-Gemeinde in den USA) bis zu den brutalsten Menschenversuchen in Nazi-Kliniken führt.
Zwischendurch werden immer wieder existentielle philosophische und politische Grundsatzfragen thematisiert – manchmal fast beiläufig in einem Bericht über irgendein früheres Gespräch versteckt.
Ganz nebenbei bekommt man auch noch einen  – durchaus auch unterhaltsamen – Einblick in die Versuche der amerikanischen “Siegermacht”, sich einen Einblick in die Denk- und Empfindungswelt des Nazi-Deutschlands zu verschaffen.

Was vielleicht deutlich wird: Es ist ein anspruchsvolles Buch, für das man sich Zeit nehmen muss. Das ist der Grund, warum ich oben zunächst die Zielgruppe umschrieben habe.
Es ist ein Buch, das einen Facette des Nazi-Unrechtssystems auf eine faszinierende Weise beleuchtet und damit einen wahrhaft literarischen Kontrast zu einem historisch-analytischen Zugang schafft.
Dafür wird einem eine gewisse Mühe abverlangt – aber das sagte ich ja schon….

“Nächste Ausfahrt Zukunft” von Ranga YOGESHWAR

Nun also das vierte aktuelle Zukunftsbuch (hier die ersten drei); diesmal vom dem sympathischen Physiker und Wissenschaftsjournalisten Yogeshwar, bekannt vor allem aus der Sendung “Quarks und Co”. Dieser Mensch begleitet mich jetzt eine gefühlte Ewigkeit durch mein Leben und hat offensichtlich die Pille für die ewigen Jugendlichkeit geschluckt.

Was bietet er nun auf seiner Zukunftsreise?
Man könnte kurz sagen: Alles!

Vielleicht möchte man es doch ein wenig differenzierter:
Natürlich wird zunächst mal – und das kann man ja schon fast voraussetzen – kein wesentliches Zukunftsthema ausgelassen. Natürlich geht es um Digitales, Genetik, Klimawandel, Umweltzerstörung, Wirtschaft, Energie, Verkehr, Weltraum, Turbokapitalismus, Migration, Landwirtschaft und um den verunsicherten und überforderten Menschen auf seinem einzigartigen und gefährdeten Planeten.

Doch die erlebte Vollständigkeit bezieht sich nicht nur auf das Themenspektrum. Der Autor bietet auch eine Vielzahl von Perspektiven und Zugängen an: Er berichtet von Reisen und Interviews, fügt (eigene)Tagebuchaufzeichnungen ein, erklärt auf seine routinierte Art auch komplexe Zusammenhänge und spart auch nicht mit persönlichen Bewertungen und Warnungen. Er ist immer als engagierte Person, als Wissenschaftler und Bürger, spürbar und versteckt sich nicht hinter vermeintlich objektiven Gegebenheiten.

Zwei weitere Besonderheiten des Buches möchte ich nennen:

  • Yogeshwar schafft immer wieder die Klammer zwischen dem (vermeintlich) Bekannten und den neuesten Erkenntnissen und Trends. Er sammelt seine Leser erst mal dort ein, wo er sie mit ihrem Informationsstand vermutet; dabei geht er auf Nummer sicher und spricht noch mal vieles aus, was man so oder anders schon gehört oder gelesen hat. Das ist für viele sicher auch ein wenig redundant. Aber er bleibt dort nicht stehen, sondern führt den Leser bis an die Orte, wo jetzt gerade ganz konkret die Zukunft erfunden wird. Das schafft ein Gefühl der aufgeklärten Ahnung: man hat eine Idee, worum es gehen könnte und worauf es hinauslaufen könnte.
  • Der Autor spart zwar nicht mit bedenklichen Informationen oder eindeutigen Warnungen – trotzdem behält er eine optimistische Grundperspektive. Er sieht und beschreibt (erste) Anzeichen der ein oder anderen Trendwende, freut sich z.B. über Gegenbewegungen zum Digitalisierungswahn – ohne dabei technikfeindlich zu sein.

Mein Resümee:
Yogeshwar hat das richtige Buch für diejenigen geschrieben, die einen breiten und leicht verdaulichen Einstieg in eine aktuelle Gesamtsicht der Welt suchen und dabei die unauffällig, aber bestimmt führende Hand des wohlmeinenden und menschenfreundlichen Autors gerne akzeptieren. 
Hier wird man aufgerüttelt, aber nicht schockiert; hier werden menschliche Fehlentwicklungen gezeigt, aber keine Feindbilder definiert.
Lasst uns zusammen die Welt retten – aber seit dabei nett zueinander!
(ja, wenn nur alle so nett wären wie Ranga….)

“Tyll” von Daniel KEHLMANN

Ich bin auf dieses ganz neue Buch von Kehlmann durch einen geradezu enthusiastischen Beitrag im “heute-journal” gestoßen. Den bekannten Vorläufer “Die Vermessung der Welt” (2009) habe ich damals mit großem Genuss gelesen.

Kehlmann nimmt den Leser mit auf eine intensive und emotionale Reise in eine historische Situation und leuchtet diese in einer bewundernswerten Tiefe und Detailbesessenheit aus.

Man erfährt etwas über das Leben, Denken und vor allem über das Leiden der Menschen im Dreißigjährigen Krieg und hat dabei das Gefühl, in einige Situationen und Ausschnitten geradezu mit dem Vergrößerungsglas oder sogar mit dem Mikroskop zuzuschauen, geradezu einzutauchen. Die Themen, die berührt werden, sind die Jagd auf Ketzer und Hexen, die bittere Armut der einfachen Leute, große Politik in Form von Konflikten zwischen den – entweder katholischen oder protestantischen – Herrscherhäusern, erste Ansätze von Wissenschaft (noch ganz nah bei der Scharlatanerie) und die Welt des Fahrenden Volkes, zu dem auch die Titelfigur Tyll gehört.

Der Lebenslauf dieses Seiltänzerin, Jongleurs und Zirkusdirektors stellt in diesem historischen Roman den roten Faden dar, der allerdings nicht in einer strengen chronologischen Ordnung erzählt wird, sondern in wiederholten Zeitsprüngen.

Meine Bewertung?

Die Stärke des Buches ist in gewisser Weise auch seine Schwäche. Einige Ausschmückungen gingen mir persönlich zu sehr ins Detail, ich erlebte sie als weitschweifig. Ich hätte lieber noch ein paar andere Szenen geschildert bekommen, statt einzelne Situationen in einer fast erschlagenden Genauigkeit und Ausführlichkeit.

Am meisten habe ich von der durch das Buch aktualisierten tiefen Dankbarkeit profitiert, zu einer besseren Zeit an einem besseren Ort leben zu dürfen als den geschilderten Menschen damals zuteil wurde. Es ist wirklich ein unglaubliches Privileg, dieser Willkür, dieser Gewalt und dieser Unwissenheit nicht ausgeliefert zu sein. Natürlich kann man dieses Bewusstsein – wie gut man es hat – auch dadurch bekommen, dass man sich in der aktuellen Welt umschaut. Dazu reicht eine Tagesschau. Und trotzdem verschafft dieser historische Vergleich eine grundsätzlichere Perspektive.

Die Menschheit hat sich – zumindest in großen Teilen der Welt – wohl doch ein bisschen weiterentwickelt!

Wir sollten peinlich darauf achten, diese Errungenschaften – Menschenrechte, Demokratie, Wissenschaft, Aufklärung, Gewaltenteilung, Rechtsstaat – nicht zu verspielen.

Wie sich das Leben ohne all diese Errungenschaften anfühlen könnte, das zeigt Kehlmanns Tyll sehr plastisch und eindrücklich.

“Sozusagen Paris” von Navid KERMAN

Eigentlich stand ein anderes Buch dieses Autors auf meiner Leseliste. In diesem Buch setzt er dem Rock-Musiker Neil Young ein literarisches Denkmal. Und tatsächlich taucht der Musiker am Ende des hier besprochenen Romans noch in Erscheinung und eines seiner Lieder wird in den Gedankengang einbezogen.

Doch es geht hier nicht um Rockmusik – es geht um Liebe, genauer gesagt um die bürgerliche Ehe und was sie oft mit der Liebe macht.

Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: ein Romanautor – und damit meint der Autor tatsächlich sich als reale Person – trifft auf einer Lesereise eine Frau, in die er dreißig Jahre zuvor kurz aber heftig verliebt war. Sie reden eine ganze Nacht, insbesondere über ihre eheliche Beziehung und warum sie trotz allem weiter besteht. Zwischendurch erfährt man auch ein wenig über die ehelichen Erfahrungen des Autors selbst.

Was ist nun das Besondere dieses Buches? Warum sollte man es lesen oder besser nicht lesen?Ich möchte zwei Aspekte herausstellen, die vielleicht die Entscheidung erleichtern könnten.

Der Autor gibt sich als Freund und Kenner der klassischen Liebesliteratur zu erkennen. Man könnte auch sagen: Wesentliche Teile seines Buches beinhalten Zitate aus berühmten Ehe- und Liebesromanen von STENDHAL, PROUST, FLAUBERTund BALZAC. Mit diesen Zitaten arbeitet er, kommentiert sie, lässt seine Gedanken ergänzend durch die berühmten Vorbilder ausdrücken. Man ist erstaunt (wenn man die Originale so wenig kennt wie ich), mit welcher Klarheit und Eleganz die noch heute gültigen Grundthemen schon damals formuliert wurden. Wenn man so etwas mag und „alten Meister“ liebt, ist man hier gut aufgehoben.

Das zweite Merkmal des Buches ist seine Selbstbezogenheit. Der Autor macht sich selbst, das Schreiben, die (fantasierte) Auseinandersetzung mit seinem Lektor und seine Rolle als Romanschriftsteller permanent zum Thema. So ist dieser Roman auch ein Buch über das Romanschreiben. Der Autor guckt sich zu, wie er sich beim Schreiben zuguckt. Das kann man interessant und spannend finden – insbesondere, wenn man selbst schreibt. Man kann es auch ein wenig überzogen und selbstverliebt finden.

Und was ist nun mit der Liebe in der Ehe? Ist sie möglich oder doch nicht? Auf Dauer?

Nun, es wäre ein schlechtes Buch von einem schlechten Autor, wenn es darauf eine eindeutige Antwort gäbe. Die Skepsis ist groß und schlägt manchmal in Resignation um. Die Alternativen sind nicht besonders reizvoll. Und vielleicht lohnt sich der Versuch ja doch.

Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind …. (in diesem Fall natürlich der Leser)

(Das Buch über Neil Young werde ich trotzdem lesen und das zitierte Lied habe ich während der letzten Seiten mitlaufen lassen).

Katalonien II

Ich bin am Tag der sog. Unabhängigkeitserklärung des katalonischen Parlaments zufällig vor Ort, auf Besuch bei einer Freundin. In einem kleinen Dorf in der Nähe von Girona, der zweitgrößten Stadt Kataloniens.

Wir verfolgen den ganzen Tag gespannt die Nachrichtenlage. Dann passiert es: Die beiden Parteien fahren die größten Geschütze auf – ab sofort ist alles möglich. Der Zug hat sich in Bewegung gesetzt; besser: Zwei Züge nehmen Fahrt auf, aufeinander zu, auf einer eingleisigen Strecke.

Betrifft mich das? Werde ich wie geplant in der nächsten Woche nach Hause fliegen können? Wird meine Freundin das Land verlassen müssen, weil deutsche Jugendämter in dieser Situation keine Maßnahmen mehr verantworten können?

Was ist mit den Menschen hier? Gestern machte ich einen Spaziergang, eine Stunde nach Verkündigung der Ablösung von Spanien. Die Leute strichen ihre Haustüren und reparierten ihre Autos. Die katalonischen Fahnen hängen müde an manchen Häusern. War was?

Alle Leute verlassen sich darauf, dass ja nichts Ernstes passieren kann. Das Leben muss doch weitergehen. Der Alltag ist doch stärker als die Politik. Hat jemand ein Gefühl dafür, dass man gerade mutwillig eine insgesamt gute und friedliche Lebenssituation aufs Spiel setzt? Größtenteils, um einer vagen Idee, einem diffusen Freiheitsgefühl nachzujagen? Man vergleicht sich in einer naiven Realitätsverzerrung mit Situationen und Menschen, bei denen es wirklich etwas ging oder geht. Um Unterdrückung, Not, Perspektivlosigkeit.

Für mich ist es unverständlich. Und verantwortungslos. Ich freue mich, dass gerade die Sonne aufgeht. Ich hoffe auf den Sieg der Vernunft. Überall. Und ich hoffe auf eine problemlose Heimkehr in der nächsten Woche.

(Es ist übrigens schön hier)

“Ein amerikanischer Traum” von Barack OBAMA

Warum bespreche ich ein Buch, das ich niemandem wirklich zum Lesen empfehlen würde?

Weil es von Barack Obama geschrieben wurde, dem amerikanischen Präsidenten, auf den Donald Trump folgte.

Ich war immer ein Obama-Fan – auch in der Zeit, als er als große Enttäuschung oder Mogelpackung  belächelt und kritisiert wurde, weil er angeblich entweder nicht geschickt genug taktierte oder nicht radikal genug war.

Ich habe nie verstanden, warum man ihn mitverantwortlich dafür machte, dass sich das rechte, klerikale, rassischste und superreiche Amerika gegen ihn verbündete mit dem einzigen Ziel, ihn scheitern zu sehen. Ich konnte nie begreifen, warum nicht jedem bewusst war, was für ein kaum glaubhaftes Glück es für die USA und die Welt war, einen so intelligenten, charaktervollen und ethisch denkenden Menschen an der Spitze einer Weltmacht zu haben.

Jetzt, wo man weiß, wie schnell so etwas ins Gegenteil kippen kann, gibt es langsam ein Gefühl dafür.

Dieses Buch, in dem Obama 1995 seine komplexe Familiengeschichte erzählt, unterstreicht eindrucksvoll, mit was für einem differenzierten und vielschichtigen Menschen wir es zu tun hatten. Das Buch handelt von seiner rastlosen Suche nach der eigenen Identität in den unterschiedlichen Verästelungen seiner wahrhaft multi-kulturellen Wurzeln. Parallel zu seiner Biografie reflektiert er die schwierige und von Widersprüchen geprägte Herausforderung, als schwarzer Bürger Amerikas seine Rolle und seinen Platz zu finden.

Trotzdem rate ich davon ab, dieses Buch tatsächlich auch zu lesen. Es ist einfach zu detailliert und damit auch zu weitschweifig – zumindest wenn man selbst (z.B. als weißer Mitteleuropäer) von den angesprochenen Themen nicht unmittelbar betroffen ist. Natürlich gibt es immer wieder auch zusammenfassenden Betrachtungen und Schlussfolgerungen – aber sie gehen unter in einem Wust von minutiösen Schilderungen von Personen und Begebenheiten.

Was bleibt ist die Gewissheit, dass ein Mensch amerikanischer Präsident war, der von dem jetzigen Amtsinhaber wirklich unfassbar weit entfernt ist. Dass diese beiden extremen Verkörperungen von dem, was Amerika sein kann, an der wichtigsten Schaltstelle der Welt unmittelbar aufeinanderfolgen, ist eine wahrlich verrückte Pointe der Geschichte.

“Die vierzig Geheimnisse der Liebe” von Elif Shafak

Diese Rezension ist eine echte Herausforderung für mich: Was schreibt man über ein Buch, dessen Inhalt und Sprachstil einem so fundamental fern liegt und fremd ist?

Natürlich könnte ich es mir leicht machen und diese große innere Distanz dafür nutzen, einen Verriss zu formulieren, mich vielleicht sogar lustig zu machen oder arrogant über bestimmte Aspekte zu erheben. Das würde mir tatsächlich nicht wirklich schwer fallen.

Aber wäre es angemessen und fair?

Vielleicht erstmal zum Buch selbst: Der Aufbau folgt der bekannten Struktur „Buch im Buch“. Eine in der Gegenwart spielende Rahmenhandlung (über eine von ihren „wahren“ Gefühlen entfremdete westliche Wohlstandsgattin und Mutter) umschließt eine Geschichte über die dramatische Beziehung eines Sufi-Derwisches zu einem islamischen Gelehrten im 13. Jahrhundert. Die Klammer zwischen diesen beiden Welten wird durch den  – zunehmend realen – Kontakt zwischen der zu sich selbst findenden Frau und dem schon bei sich angekommenen Autor dieses Romans gebildet. Es wäre ein Wunder, wenn man sich den Rest nicht denken könnte…

Doch worum geht es inhaltlich; was will das Buch vermitteln?

Das kommt auf die Betrachtungsebene an.

Aus eine religiösen Perspektive betrachtet ist das Buch ein Plädoyer für einen sanften und humanen Islam, in dem der persönliche Weg zum Glauben als wichtiger erachtet wird als die buchstabengetreue und durch Autoritäten überwachte Befolgung von formalen Vorschriften. Es geht um Toleranz, um innere Haltungen und gütige Bescheidenheit. Glaube und Spiritualität werden als demütige Suche und nicht als in Stein gemeißelte Selbstgewissheit dargeboten.

Erweitert man den Bezugspunkt, dann geht es um grundsätzlichere Einstellungen zum Leben: Was zählt ist – natürlich – nicht materieller Wohlstand oder ein durchgetaktetes und auf die Erreichung langfristiger Ziele ausgerichtetes Leben, sondern die Besinnung auf den Augenblick, das achtsame Umgehen mit sich selbst und der Natur und die gelassene Annahme der schicksalhaften Fügungen des Lebens (denen grundsätzlich natürlich ein Sinn zuerkannt wird).

Das klingt doch alles ganz nett und annehmbar. Stimmt. Es ist insgesamt ein positives, menschenfreundliches Buch. Aber es ist für einen Leser, der sich einem rationalen Weltbild zugehörig fühlt, auch eine ziemliche Zumutung. Warum?

Nun, mich störte weniger die vorhersehbare und extrem klischeebehaftete Rahmenhandlung; damit kann man leben. Schwieriger zu verdauen ist schon die unerschütterliche Selbstverständlichkeit, mit der einzig und allein ein spirituell-religiöser Zugang zur Welt ausgebreitet wird. Auch das kann ja eine erhellende Perspektiverweiterung sein, wenn man sich mal ganz bewusst inspirieren lassen will. Wenn dann aber das Ganze noch in einer – für westliche Verhältnisse – extrem ungewohnten Sprache erzählt wird, dann stellt sich die Frage der Durchhaltebereitschaft. Vielleicht ist es meine bedauernswerte Fixierung auf die nüchterne Rationalität meines kulturellen Backgrounds, die mich diese Sprache als so unerträglich kitschig-schwülstig empfinden lässt. Kann ja alles sein – aber es ist nun mal so!

Wird man durch dieses Buch inspiriert?

Ja, natürlich enthält dieses Buch eine Reihe von Lebensweisheiten. Der Anspruch, es seien nun genau diese 40 Regeln relevant für ein beglückendes Leben in Liebe zu Gott und den Menschen, ist sicherlich nicht ernsthaft zu begründen. Das von Selbstzweifel ungetrübte Postulieren dieser Weisheiten erinnert dann doch ein wenig an die Wahrheitsüberzeugung, die eigentlich ja in diesem Buch kritisiert wird.

Schlussfolgerung: Man sollte als Leser dieses Buches schon relativ nahe dran sein, an dieser Art zu denken und zu sprechen. Sonst wird das Buch eher zu einem – verstörenden und anstrengenden  – Ausflug in eine fremde und unbekannte Welt. Sich davon wirklich berühren zu lassen, wird dann nicht ganz einfach sein.

“Golden House” von Salman RUSHDIE

Die meisten Menschen meiner Generation kennen Salmon Rushdie als Symbolfigur für die unbarmherzige Intoleranz der Islamisten. Er wurde bereits unter dem Kohmeini-Regime 1989 mit einer Fatwa belegt und damit offiziell zur Tötung freigegeben, weil seine „Santanischen Verse“ angeblich den heiligen Koran beleidigt hätten. Seitdem lebt der Autor unter permanenter Bedrohung und Polizeischutz.

Rushdie hat inzwischen eine ganze Reihe erfolgreiche Romane veröffentlicht, einige davon habe ich auch gelesen.

Sein aktueller Roman reicht bis in die unmittelbare Gegenwart – thematisiert dabei insbesondere die Veränderungen in den USA vor und nach der Trump-Wahl. Das Buch ist komplex und vielschichtig bzgl. der angesprochenen gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Themen: neben dem politischen Klima (in Indien und der USA) wird insbesondere die Gender-Debatte (in allen verrückten Varianten), die allgemeine Suche nach Identität, die organisierte Kriminalität, der Kulturbetrieb (insbesondere im Filmbereich) und das komplexe Netz familiärer Beziehungen und Verstrickungen thematisiert. Natürlich fehlt auch die Suche nach Liebe nicht.

Eingebettet werden diese inhaltlichen Aspekte in eine Dreifach-Handlung: Erzählt wird die Familiengeschichte eines ursprünglich aus Indien stammenden steinreichen Unternehmers und seiner drei Söhne (1. Ebene), die wiederum von dem Ich-Erzähler zum Gegenstand seiner (z.T. sehr persönlichen) Erkundung und Erforschung gemacht wird (2. Ebene), wobei dieser Prozess von eben jenem Erzähler auch noch auf der Meta-Ebene betrachtet und reflektiert wird (3. Ebene).

Doch damit nicht genug! Wer Rusdie nicht kennt, wird sicherlich zunächst erschlagen sein von seiner Wortgewaltigkeit, die den Leser immer wieder heraus- und öfters auch überfordert. Das muss man wollen.
Der Autor ist sowas wie ein Welt-Intellektueller, der sich gleich in einer ganzen Anzahl von Kulturen grandios auskennt und sich aus all diesen Quellen in einer unnachahmlichen Souveränität bedient. Das führt dazu, dass man sich manchmal ganz klein und hilflos vorkommt, weil man entweder nur halbverstehend-staunend darüber hinweg liest (oder hört) oder erstmal eine Recherche-Zeit einplanen muss, um der Bedeutung der Begrifflichkeiten und ihrer Bezüge halbwegs gerecht zu werden. Dieser Mensch kennt scheinbar alle nur erdenklichen Geschichten, Sagen, Bücher, Filme, Musikstücke oder was sonst menschliche Kultur erschaffen hat und greift nach Lust und Bedarf auf all dies zurück, wenn es ihm zur Ausschmückung eines Gedankens dient.
Das ist anstrengend – aber auch faszinierend und letztlich eine unnachahmliche Lese-Erfahrung.

Natürlich ist der Erzähler (und damit auch der Autor) nicht werte-neutral! Dieses Buch ist (wie das gesamte Wirken von Rushdie) der Humanität, der Vernunft und der Aufklärung gewidmet. Damit ist natürlich Trump (der sich im Buch hinter einem anderen Namen versteckt) der natürliche Gegner.

Mit dem Buch tritt man in ein ganzes Universum ein, das einem mit all seiner Komplexität in Beschlag nimmt. Zusammengehalten wird es durch die Hauptfiguren und letztlich durch das Schicksal des Ich-Erzählers. So schafft es Rushdie, all seine breitgefächerten Botschaften zu vermitteln und dem Leser doch das Gefühl eines zusammenhängenden „Roten Fadens“ zu geben – also doch so etwas wie eine Ordnung in einer total chaotischen Welt zu schaffen (vielleicht sogar mit einem akzeptablen Ende?).
Und genau das ist die literarische Kunst, die Rushdie so perfekt beherrscht: seine Weltsicht und seine Apelle so zu verpacken, dass sie zum Lesen und zum Weiterlesen motivieren.

Und am Ende hat man sich so an diese unglaublich überbordende Intensität dieses Lese-Kosmos gewöhnt, dass im eigenen – so vergleichsweise überschaubaren – Leben fast sowas wie Entzugserscheinungen auftreten könnten….

“Die den Sturm ernten” von Michael LÜDERS

Lüders hat ein politisches Sachbuch zum Syrienkrieg geschrieben mit dem Anspruch, eine alternative Perspektive zu den in unseren Mainstream-Medien gängigen Bewertungs- und Erklärungsmustern zu bieten. Diesen Anspruch löst der Autor ohne Zweifel ein.

Was sind seine Grundaussagen?

  • Der Nahe Osten ist seit der Kolonialzeit ein Spielball von politischen und wirtschaftlichen Interessen. Praktisch alle aktuellen Konflikte lassen sich als „logische“ Ergebnisse dieser Einflussnahmen durch – insbesondere europäische und amerikanische – Mächte erklären.
  • Es gibt keinen „moralischen“ Unterschied zwischen dem politischen Handeln des Westens und der Einflussnahme anderer Beteiligter (z.B. der Russen). Die vermeintliche „Werteorientierung“ des Westens entpuppt sich bei genauerer Analyse der Motive und Zusammenhänge als Mogelpackung.
  • Die klare Unterscheidung zwischen den „Guten“ und den „Bösen“ im Syrienkonflikt ist eine unhaltbare Vereinfachung der westlichen Politik bzw. der Medien. Konkret: Die Sympathieträger des syrischen Aufstandes gegen Assad („Stichwort „Arabischer Frühling“) stellen eine verschwindend kleine, einflusslose Minderheit dar. Die wirklich mächtigen Gruppierungen unterscheiden sich bzgl. ihres menschenverachtenden Vorgehens nicht von dem des Regimes.
  • Den Sturz von Assad erzwingen zu wollen, ist weder (völkerrechtlich) legitim noch für die Zukunft des Landes sinnvoll. Es gibt z. Zt. keine Alternative, die irgendeine positive Perspektive verspräche.
  • Die deutschen Medien berichten einseitig und geben – gewollt oder ungewollt – die politische Propaganda der westlichen Regierungen weiter.

Ohne Zweifel belegt der Autor seine Thesen und Schlussfolgerungen mit einer Fülle von historischen Fakten. Er gibt sich dabei keine besondere Mühe, die Darstellung dieser Fakten von seinen Bewertungen zu trennen; das nehme ich ihm aber nicht übel.
Insgesamt wirkt seine Argumentation glaubwürdig – auch wenn ich angesichts der Tragweite seiner Schlussfolgerungen manchmal ein deutliches Zögern empfinde. Es ist einfach auch ziemlich desillusionierend, wenn man in dieser ungefilterten Form auf die „nackten Tatsachen“ gestoßen wird.

Trotzdem stört mich ein Aspekt in seinen Ausführungen: Es gibt eine Art umgekehrte Parteilichkeit. In dem Bestreben, die von ihm als einseitig pro-westlich bewertete Sichtweise zu relativieren (bzw. zu widerlegen), legt er – zumindest stellenweise – eine genau entgegengesetzte Schablone an. So werden zwar die Übergriffe und Grausamkeiten der einen Seite (Assad und seine Helfershelfer) keineswegs geleugnet, dieses Vorgehen wird aber oft als eine Art unvermeidliche Konsequenz der Fehlentscheidungen des Westens dargestellt. Es ist eine Sache, Fehler und Doppelmoral des Westens an den Pranger zu stellen; eine andere Sache ist es, damit Menschenverachtung der anderen Seite in einen Kontext von „Zweitrangigkeit“ (und kultureller Eigenart) zu stellen.
Darüber hinaus bin ich einfach nicht bereit zuzugestehen, dass die westlichen Bemühungen, den Syrienkrieg zu begrenzen und zu beenden, niemals und von niemandem ernsthaft moralisch motiviert waren. Selbst wenn es – in Bezug auf die großen historischen Zusammenhänge – letztlich durchweg um kalte Interessens- und Machtpolitik ging und geht, gibt es nach meiner Überzeugung doch immer wieder handelnde Personen (auch Politiker), denen das Leid der Menschen nicht gleichgültig sind. Und diese Form der Werteorientierung würde ich – auch nach der Lektüre dieses Buches – noch immer eher in den westlichen Demokratien vermuten als bei Assad und Putin. Diese Sichtweise schließt der Autor leider in einer unakzeptablen Eindeutigkeit aus!

Insgesamt ist das Buch jedoch informativ und anregend; eine lohnende Lektüre, wenn man bereit ist, sich für einige Stunden auf die Details der Problematik einzulassen und man seinen Horizont erweitern will.