Was auf uns zukommt…

Ich fand diese Werbung bemerkenswert.
Sie markiert für mich so etwas wie einen beginnenden Kulturkampf.

Natürlich haben wir uns im vergangenen Jahr bereits daran gewöhnt, dass es eine neue Trennlinie in unserer Gesellschaft gibt. Nach “links” vs. “rechts”, “arm” vs. “reich” und “Willkommenskultur vs. Abschottung” geht es spätestens seit Greta um “Klimaschutz” vs. “Klimaleugner”.
Nachdem das Thema monatelang die Talk-Shows, die Medien allgemein und die Esstische vieler Familie belagert hat, ist es jetzt im Zentrum unserer Gesellschaft angekommen: in der Werbung!

Es ist kaum zu glauben: Das demonstrative Festhalten an dem von Wissenschaftlern und Klimaaktivisten in Frage gestellten Lebensstil (SUV, Fliegen und Fleisch) wird gerade zu einem Markenzeichen für die “anderen” – für diejenigen, die sich nichts verbieten und nichts madig machen lassen wollen.
Nicht mit schlechtem Gewissen – nein mit stolz erhobenem Haupt bekennt man sich zu einer neuen Identität. Und diese Zielgruppe ist offenbar werbetechnisch relevant.

“Lass die Moralisten und Miesmacher über den Weltuntergang schwadronieren”, so hört man heraus, “wir wissen zu leben und wollen das auch nicht verstecken.”

Es wird einiges auf uns zukommen, in den nächsten Jahren. Auf jeden Fall eine Polarisierung. Sogar in der Werbung…

Systemsprenger

Ein ganz anderer Film. Eher eine Fortbildung als ein normaler Spielfilm.

Strukturell betrachtet geht es um das schwierige und oft leidvolle Dreieck von Familie, Jugendhilfe und Psychiatrie. Es geht um die mehr oder weniger hilflosen Versuche, die “passsende” Maßnahme für ein Kind zu finden, das nicht zu Hause leben kann. In einer Situation, in der kein Angebot wirklich passen kann.
Auf individueller Ebene wird eindrucksvoll die verzweifelte Suche eines neunjährigen Mädchens nach Liebe, Bindung und Halt in aufrüttelnde Bilder übersetzt. Das lässt niemanden kalt.

Dieses Mädchen sprengt alle Systeme, weil die zuständigen Systeme (Jugendhilfe und Psychiatrie) nur Pseudo-Lösungen anbieten; zumindest für dieses Mädchen.
Bei ihr kommen mehrere Faktoren zusammen: Die abgrundtiefe Enttäuschung über eine Mutter, die für sie nicht Mutter sein kann; eine untherapierte Traumatisierung, die immer wieder zu unkontrollierbaren Impulsdurchbrüchen führt und eine unbändige Lebensenergie, die tragischer Weise immer wieder destruktive Ausdrucksformen findet.
Gemeinsam halten diese Bedingungen eine Dynamik aufrecht, die alle beteiligten Institutionen und Personen überfordert. So werden dann in Hilfeplangesprächen immer wieder neue Lösungen gesucht – wo doch alle Beteiligten wissen, dass jedes Scheitern die Möglichkeiten einer Verbesserung erschweren. Hilflose Helfer in einem hilflosen System.
Die einzige Erfahrung von Macht und Kontrolle, die dieses Mädchen in diesem Leben erleben kann, ist das kompromisslose Aufbegehren: Wenn ihr schon die Erfahrung zeigt, dass niemand sie wirklich auf Dauer aushalten kann, dann sich wenigstens als die fühlen, die Auslöser und Zeitpunkt bestimmt!

Der Film versucht zu zeigen, was so ein Kind wirklich sucht und braucht; welche Not und welche ungestillten Bedürfnisse und Sehnsüchte hinter dem hemmungslosen Ausagieren von Wut und Enttäuschung stecken.
Dabei geht es einmal um die endlosen Versuche, doch noch zur mütterlichen Liebe zu finden, sie letztlich zu erzwingen. Ohne Erfolg.
Es gibt aber einen Lichtblick: Ein cooler, tougher Schulbegleiter lässt sich von dem Mädchen anrühren und schlägt eine Individualmaßnahme vor, die er sonst nur für die harten Jungs anbietet: ein paar Tage in einer abgeschiedenen Hütte im Wald.
Hier entsteht sie dann doch: die wirkliche Beziehung, das bedingungslose Aushalten in einer Begegnung ohne Ausweichmöglichkeit. Das Mädchen spürt Halt, wird weich, kann sich fallen und tragen lassen.
Letztlich scheitert auch dieser Hoffnungsschimmer an den Grenzen der beteiligten Personen unter den gegebenen Bedingungen.

Genug zur Handlung.
Hat dieser aufrüttelnde Film besondere Stärken oder Schwächen?
Eigentlich steht diese Frage angesichts der dramatischen Inhalte eher im Hintergrund.
Um es kurz zu sagen: Der Film ist ohne Zweifel sehr gut gemacht. Die kindliche Darstellerin spielt absolut faszinierend. Passend, aber glücklicherweise relativ sparsam, werden filmische Effekte eingesetzt, um bestimmte Bewusstseinszustände des Mädchens darzustellen. Ansonsten spricht die Handlung für sich.
Natürlich findet man nicht jede einzelne Szene stimmig: So ist es schon ein wenig klischeehaft, dass nach einem Scheitern einer Maßnahme das Mädchen ihre in Tränen zusammengebrochene Sozialarbeiterin tröstet. Auch die Tatsche, dass das weggelaufene Mädchen ohne weitere Suchmaßnahmen eine Nacht im winterlichen Wald verbringt, ist vielleicht nicht ganz realistisch.
Aber auf solche Details kommt es letztlich nicht an.

Und die Systemfrage? Können Jugendhilfe und Psychiatrie einpacken, wenn das Urbedürfnis nach bedingungsloser Annahme durch die Eltern oder Ersatz-Bezugspersonen nicht erfüllbar ist?
Sicher nicht. Aber der Film zeigt, dass in bestimmten Konstellationen wirklich alle therapeutischen und pädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, wenn es eine Chance auf eine gute Entwicklung geben soll. Wird ein Baustein – hier die Traumatherapie – weggelassen, kracht die Hilfskonstruktion vielleicht immer wieder ein.
Der Grundbotschaft des Filmes kann man sicher nicht widersprechen: Nur ein auf Dauer verlässliches Beziehungsangebot kann so ein Kind ansatzweise “heilen” – und allzu oft scheitert dies an den Systemgrenzen.

Der Film weckt keine Hoffnungen. Das ist vielleicht insgesamt eine realistische Sichtweise.
Trotzdem ist es natürlich ein wenig schade, dass es kein Beispiel für ein Gelingen gibt. Natürlich gibt es auch positive Verläufe, in denen hoch-engagierte Fachkräfte in Therapie, Individualbetreuungen, professionellen Pflegestellen oder Auslandsmaßnahmen eine tolle Arbeit machen.
Aber das wäre dann vielleicht ein anderer Film….


Der Distelfink (nach einem Roman von Donna Tartt)

Es ist ein aktueller Film; er läuft noch in den Kinos (Stand 30.09.19).
Ich rate: Schaut ihn euch an!

Ist es sinnvoll – so könnte man sich fragen -, einen Film zu sehen, dessen Handlung man schon zweimal als Hörbuch genossen hat?

Ja, es ist sinnvoll. Literaturverfilmungen leben davon, sich an einer Vorlage zu orientieren. Für viele Menschen entsteht die Motivation zum Kinobesuch genau aufgrund der vorherigen Leseerfahrung. Man weiß, was kommt und wie es ausgeht. Aber man ist gespannt auf die filmische Umsetzung und darauf, wie eigene Fantasien mit den realen Kinobildern korrespondieren.
Aber natürlich haben auch diese Filme den Anspruch, für sich selbst zu stehen und einen Genuss auch für diejenigen zu schaffen, die unvorbereitet kommen.

Ich fand das Buch “Distelfink” grandios und habe das an anderer Stelle auch begründet. Auf den Film war ich entsprechend gespannt, habe aber versucht meine Erwartung in Grenzen zu halten. Man will ja allzu großen Enttäuschungen vorbeugen. Nach wenigen Minuten war klar, dass es nicht darum gehen würde, Frustration zu managen, sondern Begeisterung und Ergriffenheit.

An diesen Film stimmt (fast) alles. Die Atmosphäre, die Figuren, die emotionale Dichte, die Botschaft.
Und obwohl das Buch so unglaublich treffend wiedergegeben wird, hat man das Gefühl, dass das Medium Film voll zur Geltung kommt. Statt “nur” einen abgefilmter Roman zu betrachten, darf man eine eigene Kunstform genießen. Das gelingt insbesondere dadurch, dass der Aufbau der Geschichte in stark veränderter Form dargeboten wird: Aus der weitgehenden Chronologie der literarischen Vorlage wird ein durch Zeitsprünge kunstvoll aufgebautes Puzzle. So wird aus dem vermeintlichen Nachteil des Mediums (der Verkürzung und Komprimierung) ein geniales Stilmittel, mit dem man schrittweise in die inhaltlichen Zusammenhänge eingeführt wird.

Distelfink ist ein leiser Film. Es geht darum, die emotionale Dynamik der Figuren sichtbar und verstehbar zu machen.
Da ich die Versuchung des Mediums kenne, visuelle Effekte zu nutzen und zu zelebrieren, habe ich mit einiger Sorge den Handlungssequenzen entgegen gesehen, die sich dafür angeboten hätten.
Volle Punktzahl! Alles, was hätte Action-Kino werden können, wurde auf das zum Verständnis notwendige Minimalmaß reduziert. Sehr beeindruckend!

Ich bin kein Fachmann für Schauspieler oder Regie-Details. Mein Maßstab ist die Gesamt-Wirkung.
Ich kann nur sagen: Wer das Buch liebt (oder lieben würde), der/die wird auch diesen Film mögen. Sie sind aus gleichem Holz geschnitzt.

Leider kann ich nicht beurteilen, was dieser Film auslöst, wenn man nicht schon vorher so tief in die Distelfink-Welt eingetaucht war.
Ich würde es aber gerne von euch erfahren (z.B. durch einen Kommentar an dieser Stelle).
 

“Allein gegen die Schwerkraft – Einstein 1914 – 1918” von Thomas De PADOVA

Ich gebe es zu: Es war ein Spontankauf vom Wühltisch.
Aber der Vollständigkeit halber soll das Buch in meiner Liste doch kurz Erwähnung finden.

Der Autor verfolgt das Ziel, die bahnbrechenden Beiträge des mathematischen Genies Albert Einstein zur theoretischen Physik in den zeitgeschichtlichen Zusammenhang des ersten Weltkrieges zu stellen.
Zu diesem Zweck beschreibt er seine Schaffensjahre in Berlin, wo man dem aus er Schweiz stammenden Gelehrten optimale Bedingungen für seine Arbeit in Aussicht gestellt hatte.
Mit großer Gründlichkeit beschreibt der Autor die Verflechtung folgender Ebenen:
– die schrittweise und an Umwegen reiche Ausarbeitung der Allgemeinen Relativitätstheorie
– die privaten Lebens- und Beziehungsverhältnisse von Einstein (zwischen zwei Frauen)
– die komplizierten Beziehungen zu den prägenden Vertretern der Berliner wissenschaftlichen Community
– den Einfluss des Kriegsereignisse auf die Gelehrten-Szene und auf Einstein selbst

Was hatte ich nun davon, mich auf ungefähr 280 Seiten mit dieser – nicht unbedingt alltagsnahen – Thematik zu befassen?
Nun – zuallererst ist mir Einstein als (zeitgeschichtliche) Person näher gekommen und sympathischer geworden. Er war nicht nur ein genialer Denker (ähnlich wie der kürzlich verstorbene Stephen Hawking), sondern auch ein prinzipiengesteuerter, unabhängiger kritischer Bürger, der mit seiner pazifistischen und humanistischen Haltung der – leider auch in Gelehrtenkreisen verbreiteten – nationalistischen Kriegseuphorie dauerhaft widerstand.
Auch einige Facetten der Relativitätstheorie sind mir nun vertrauter als vorher – wobei dankenswerter Weise die Bezüge zum aktuellen Forschungsstand (insbesondere in der Astro-Physik) immer wieder mal verdeutlicht werden (Stichworte: “Schwarze Löcher” und “Gravitationswellen”).

Ich will aber nicht verhehlen, dass für einen “Normalverbraucher” wie mich die Detailtiefe der Ausführungen – insbesondere was die privaten und beruflichen Beziehungen Einsteins zu seinem Umfeld angeht – oft weit über die tatsächliche Bedürfnislage hinausgeht. So genau muss das alles wohl kaum jemand wissen, der sich nicht gerade hauptberuflich oder hobby-leidenschaftlich mit den angesprochenen Themen auseinandersetzt.

So kann ich dieses Buch wohl nur Menschen empfehlen, die gerne intensiv in zeitgeschichtliche  Zusammenhänge eintauchen und nicht darüber nachdenken (müssen), ob sie die dafür investierte Zeit wirklich “über” haben.
Für diese Leser trägt dieses Buch sicher ein Stück zum Weltverständnis bei.
(Im Nachhinein bin ich nicht ganz sicher, ob ich wirklich zu der Zielgruppe gehöre).

“Der Ernährungskompass” von Bas Kast

Nein, ich schließe mich nicht einer Diät-Mode oder einer Ernährungs-Ideologie an. Ich finde auch nicht, dass bewussteres Essen jetzt das wichtigste Thema überhaupt wäre.
Ich berichte nur über ein sehr lesenswertes Buch.

Der Journalist Bas Kast hat etwas getan, was ich als einen wirklich gewinnbringenden Service empfinde: Er hat sehr viele (sicher nicht alle – wie von den Werbetextern etwas großspurig behauptet) Studien ausgewertet, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Ernährung auf der einen und Gewichtsreduktion, Gesundheit und Lebenserwartung auf der anderen Seite befassen. Sein Ausgangspunkt war nicht das Bedürfnis, Argumente für eine bestimmte  – von ihm bevorzugte – Ernährungsweise zu sammeln. Kast stellt glaubhaft dar, dass ihm das Ergebnis seiner Recherchen ziemlich egal war: Er wollte nur wissen, wie denn die wissenschaftliche Faktenlage nun tatsächlich aussieht. Vor allem: Wie sich die Widersprüche zwischen den geradezu feindlichen Diät-Lagern – insbesondere zwischen den Aposteln des “möglichst wenig Fett” und des “möglichst wenig Kohlenhydrate” aufklären lassen.

Die Art, wie der Autor seine ambitionierte Aufgabe angeht, ist aus meiner Sicht außerordentlich gut gelungen. Befunde und Zusammenhänge werden unaufgeregt, sachlich und mit einem bemerkenswerten Tiefgang dargestellt und bewertet. Kast nimmt die Leser sogar mit bis in die Feinheiten des Zellstoffwechsels – ohne den roten Faden zu verlieren oder in ein Fachchinesisch zu verfallen.
Wenn man sich auf all die Informationen einlässt, bekommt man sehr viel mehr als ein paar gut begründete Ernährungs-Tipps. Man fühlt sich aufgeklärt; man hat einen Blick hinter die Kulissen geworfen. Auch wenn man vielleicht nicht jede Einzelheit abspeichern wird: Es bleibt der Eindruck, hier hat jemand die Materie zu durchdringen versucht und hat einen Weg gefunden, dies nachvollziehbar zu vermitteln.
Sympathisch ist dabei, dass Kast auch mit Unsicherheiten und Widersprüchen umgehen kann. Er steht dazu, wenn nur vorläufige Aussagen möglich sind. Er macht deutlich, wenn er – bei einer unklaren Datenlage –  seine persönlichen Schlussfolgerungen zieht. Er missioniert nicht, hat aber den Mut zu klaren Empfehlungen.

Natürlich werde ich an dieser Stelle keine Zusammenfassung der Ratschläge geben; das kann man an anderer Stelle nachlesen. Es geht auch gar nicht so sehr darum, dass man so viel Neues lernt (für mich war es trotzdem eine ganze Menge). Ich habe am meisten davon profitiert, dass die Art des Umgangs mit dem Modethema Ernährung so erfrischend un-ideologisch und damit überzeugend und motivierend ist.

Auf meine persönliche Ernährungsgewohnheiten hat dieses Buch – zumindest in dem bisherigen Beobachtungszeitraum – mehr Einfluss gehabt als alles, was ich jemals zuvor gehört oder gelesen habe.
Gibt es für ein Ratgeber-Fachbuch ein größeres Kompliment?

“4 3 2 1” von Paul AUSTER

Darf man sich als Hobby-Rezensent wirklich an so ein Monumental-Werk eines der profiliertesten lebenden Schriftstellers heranwagen?
Ja – man darf. Man darf zu allem eine Meinung haben – dabei erhebe
ich natürlich in keiner Weise den Anspruch, auf irgendwelche literaturwissenschaftlichen Kompetenzen zurückgreifen zu können.

Vermutlich habe ich noch nie so lange ungeduldig auf ein Buch gewartet. Nach dem – von den meisten Kritikern gefeierten – Erscheinen des Romans vor genau einem Jahr wollte ich es gerne als Hörbuch genießen. Irgendwann im Spätherbst habe ich dann aufgegeben: Ich wollte es endlich persönlich kennen lernen! Also doch lesen – ca. 1300 Seiten!

Der beste – und gleichzeitig naheliegenste – Zugang zu diesem Buch ist die Frage nach dem seltsamen Zahlen-Titel. Die Antwort legt die Grundidee und das Grundkonzept dieses ur-amerikanischen Entwicklungsromans offen: Das Leben des Archie Ferguson wird in vier verschiedenen Versionen erzählt. Von einem identischen Startpunkt aus – definiert durch die Vorgeschichte seiner Eltern, deren Herkunftsfamilien und Verwandten zum Zeitpunkt seiner Geburt – ranken vier Lebensläufe bis ins junge Erwachsenenalter. Erzählt wird das überwiegend brav chronologisch in jeweils vier, später drei parallelen Kapiteln (1.1, 1.2, 1.3, 1.4; 2.1 …usw.). Warum irgendwann eine Kapitel-Version leer bleibt, vermag man sich mit etwas Fantasie auszumalen…

Bevor es also überhaupt um Personen, Geschichten und Themen geht, steht schon mal eine sehr prinzipielle philosophische Idee im Raum: Lebensläufe werden durch eine nicht zu überblickende Zahl von Umständen, Gegebenheiten und Zufällen bestimmt. Prinzipiell könnte in einem noch so kleinen Ereignis die entscheidende Weichenstellung für den weiteren Lebensweg stecken. Alles was auf diesem einen Geschehen (Begegnung, Unfall, verpasster Termin, usw.) aufbaut, wäre sonst schlichtweg nicht geschehen. Letztlich könnte sich daraus ein anderes Leben ergeben…
AUSTER beschränkt sich auf vier alternative Erzählungen – er hätte natürlich auch 23 oder 3785 Varianten wählen können. Er spielt in diesen vier Biografien mit dem Verhältnis zwischen Konstanz (bestimmte Bedingungen bleiben ja gleich oder ähnlich) und Verschiedenheit (aufgrund von eingeführten Unterschieden bei Personen und Ereignissen).

In welche Welt führt uns Paul AUSTER? Es ist die Welt der 50iger bis 70iger Jahre im Ostküsten-Amerika. Die Welt des Schmelztiegels, in dem Einwanderer ganz unten anfangen und der nächsten Generation mit viel Einsatz gute Startchancen schaffen. Die Welt des wachsenden Wohlstands einer weißen Mittelschicht, in der bald die Autos, das TV-Gerät, der Grillabend und das Tennis-Match dazugehören. Die Welt der zunehmenden Entfremdung zwischen den Generationen, exemplarisch dargestellt am Kampf um Bürgerrechte für Schwarze und die erbitterte Auseinandersetzung um den Vietnam-Krieg. Die Welt des Baseballs als Kristallisationspunkt für Heldengeschichten und einmalige emotionale Höhepunkte.
Das alles und noch viel mehr ist der zeitgeschichtliche Hintergrund für die handelnden Personen, die in diesem Umfeld leben, sich entwickeln, lernen und lieben.

Mehr als alles andere zeigt uns aber AUSTER seine – so darf man wohl ungestraft annehmen – persönliche Lieblingswelt: die Literatur.
Ferguson befindet sich – letztlich auf allen seinen vier Wegen – im engen Kontakt mit Menschen, die schreiben, die (unglaublich viel!) lesen, die über Literatur unterrichten, die Bücher verlegen, übersetzen, verkaufen, lieben….
Natürlich werden die meisten Fergusons auch selbst Journalisten, Übersetzer, Schriftsteller….
Angesichts der – ungelogen – Hunderten genannten und angepriesenen Autoren und Werken wurde mir schon fast schwindelig. Man bekommt irgendwann das Gefühl, ein hoffnungsloser literarischer Analphabet zu sein – so selbstverständlich wird man mit dem Kanon der relevanten Literatur der letzten 200 Jahre konfrontiert. Und die Menschen (zumindest einige) dort in dem Buch scheinen das alles zu lesen (gelesen zu haben). Unfassbar!

Ja: Es geht auch um Liebe – hetero- und homosexuelle, um Freundschaft, um Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, um das ganze pralle Leben. Aber es ist immer ein intellektuelles Leben, ein Leben von Studenten, Künstlern, politischen Aktivisten.

Ich will mich etwas zügeln und zu meiner Bewertung kommen.
Vielleicht ist es schon durchgeklungen. Meine Begeisterung war und ist nicht ungetrübt.
Bei allem Respekt vor Detailverliebtheit und vor dem intensiven Eintauchen in die minutiöse Beschreibungen von Abläufen und Situationen: Es war mir manchmal einfach zu viel! Zu viel Baseball, zu viel Büchertitel, zu viel Treffen in zu vielen Studentenkneipen, usw.
Um auf den Ausgangsgedanken zurückzukommen: Mir hätte es besser gefallen, wenn sich verschiedenen Wege des Archie Fergusons etwas mehr in die Breite entfaltet hätten, wenn sie mehr unterschiedliche und gegensätzliche Lebensbereiche gestreift hätten.

Trotzdem: Wer Zeit und Ruhe für so einen “Schinken” hat, der wird auch belohnt. Immer wieder stößt man auf Überlegungen und Aussagen, die man gleich notieren möchte – für die Ewigkeit.
Toll ist es auch, wenn AUSTER zur Technik “Buch im Buch” greift: Da seine Hauptfiguren (insbesondere Archie) selbst Schriftsteller sind, werden immer mal wieder Buch-Ideen vorgestellt und zwischendurch mal eben eine originelle Kurzgeschichte eingeflochten. So kann sich ein leidenschaftlicher Geschichten-Erzähler ungebremst austoben!

Genug! Ich denke: Wer bis hierhin gelesen hat, dürfte inzwischen eine Idee davon bekommen haben, ob das ein Buch für den nächsten Urlaub sein könnte (Achtung: Kurz-Urlaube eignen sich definitiv nicht!).

Drei große Zukunfts-Sachbücher im Vergleich

Al GORE: Die Zukunft
HARARI: Homo Deus
LESCH / KAMPHAUSEN: Die Menschheit schafft sich ab

Ja – ich habe sie wirklich alle drei gelesen in den letzten Monaten (alles ziemlicher Wälzer). Mit großem Gewinn. Da nicht jede/r so viel Zeit hat, möchte ich durch den Vergleich der drei Bücher eine Entscheidungshilfe geben.

Zu den Gemeinsamkeiten:
Alle drei Bücher bieten eine fast unerschöpfliche Quelle von Fakten und Zusammenhängen über die Trends und die Risiken an, die das Schicksal der Menschheit in den nächsten Jahrzehnten bestimmen werden. Die Argumente und deren wissenschaftliche Untermauerung sind absolut überzeugend, geradezu zwingend. Natürlich geht es um Klima, Umweltzerstörung, Bevölkerungswachstum, wachsende soziale Ungleichheit, Bedrohung der Demokratie, künstliche Intelligenz, Genmanipulation und die Digitalisierung aller Lebensbereiche. In den Grundaussagen und den Schlussfolgerungen sind sich die Autoren sehr einig – wenn sie auch unterschiedliche Schwerpunkte setzen.

Wo also liegen die Besonderheiten bzw. Unterschiede?

Das Buch von Al GORE ist aus der Perspektive eines amerikanischen Politikers geschrieben, von einem Insider des Systems. Die von ihm analysierten Fehlentwicklungen der US-Demokratie sind beeindruckend klar und unmissverständlich beschrieben – geradezu entlarvend. Diese detaillierte Auseinandersetzung mit dem Versagen eines politischen Systems findet sich in den anderen beiden Büchern nicht.  Dabei bleibt Al GORE ein amerikanischer Patriot und hofft darauf, dass die USA sich von dem Einfluss des Großkapitals, der Lobbyisten und der rechten Medien-Zaren wieder befreien kann und dann (wieder) eine verantwortliche Führungsmacht für die ganze Welt werden kann. (Er konnte sich wohl nicht ernsthaft vorstellen, dass Trump eine US-Wahl gewinnen könnte – sonst hätte wohl sein Optimismus noch mehr Schaden genommen).
Al GORE ist in erster Linie ein Klima- und Umwelt-Aktivist; diese Schwerpunkte sind dem Buch auch anzumerken.
Seine Darstellung ist gut gegliedert; der rote Faden ist immer zu erkennen. Es wird keine Behauptung aufgestellt, die nicht auch faktenreich untermauert wird. Der Stil ist eher unaufgeregt und sachlich.

LESCH ist ein deutscher Wissenschaftler. Sein Buch ist eine sehr gründliche und umfassende Bestandsaufnahme der (aktuell stark bedrohten) Menschheitsentwicklung auf diesem Planeten. In diesem Sinne umfasst er mit seinem Buch sogar noch die erste Publikation von HARARI (Eine kurze Geschichte der Menschheit).
Es werden unglaublich viele  Aspekte nicht nur berührt sondern auch vertieft.
Das Buch von LESCH ist schon fast ein historisches, naturwissenschaftliches und umweltbezogenes Nachschlagewerk (leider ohne ein Stichwortverzeichnis).
Die Darstellungsform unterscheidet sich insbesondere dadurch, dass LESCH immer wieder einzelne Themen in separaten Exkursen vertieft (abgehoben in farbigen Kästchen). Dadurch wird ein noch größerer Tiefgang erreicht; die Darstellung bekommt dadurch einen kaleidoskopischen Charakter und verläuft nicht so stringent in einem Fließtext. Ein weiteres Stilmittel stellen eingebaute Interviews mit anderen Experten dar; ebenso werden Quellen nicht nur erwähnt sondern teilweise sehr ausführlich zitiert.
Diese Buch liest man sicher nicht nur einmal – es verführt dazu, einzelne Aspekte immer mal wieder nachzuschlagen.

Warum ist trotzdem HARARIs Buch mein Favorit?
In gewisser Weise ist dies das subjektivste Buch dieser Auswahl. Hier ist am meisten vom Autor und seinen Gedanken zu spüren. Bei HARARI geht es nicht in erster Linie um eine beeindruckende Faktensammlung sondern im Mittelpunkt steht seine sehr besondere Einordnung und seine Systematik.
Von HARARI wird man am meisten “an die Hand” genommen. Er erklärt die Welt (und den Menschen) auf dem Hintergrund seiner Denkschablonen.
Vielleicht gibt es Menschen, die das eher befremdlich finden oder sich manipuliert fühlen. Bei ihnen entsteht vielleicht eine Reaktanz.
Mir erging es anders: Ich empfand es anregend und faszinierend, mich auf diese Reise zu begeben. Ich hatte keine Probleme, mich auch auf die subjektiv-wertenden und manchmal sehr selbstüberzeugten Aspekte seiner Darstellung einzulassen. Ich habe es sehr genossen!
Natürlich gab es auch für mich einige Stellen, die mich zur Relativierung oder gar zum Widerspruch reizten – dafür habe ich über weite Strecken das Angebot ausgekostet, bekannte Tatsachen und Trends in ungewohnten und höchst kreativen und anregenden Zusammenhängen serviert zu bekommen.
Insgesamt ist der Homo Deus das philosophischste der drei Bücher; der von HARARI erstellte gedankliche Überbau ist absolut gleichrangig bedeutsam wie die angeführten Fakten.

Warum liest man drei solche Bücher, wenn man inhaltlich sowieso schon überzeugt ist?
Das ist eine gute Frage, über die ich ernsthaft nachdenken werde….

Gemeinwohl-Ökonomie

Bitte was?
Habe ich auch erst gedacht, als ich den Titel der letzten Sendung (07.07.2017) des “Philosophischen Radios” auf WDR 5 gelesen habe.
(http://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-das-philosophische-radio/index.html

Doch siehe da: Das Konzept hat mich sofort angesprochen und ist gerade dabei, in den Mittelpunkt meiner politischen Überzeugungen zu rücken.

Warum?
Die in diesem Denkansatz steckenden Ideen passen geradezu perfekt zu der Ratlosigkeit, die mich angesichts der dramatischen globalen Fehlentwicklungen, des gerade auf dem G20-Gipfel erlebten Irrsinns und der Mut- und Ideenlosigkeit der meisten politischen Parteien befallen hat.
Wo bitte – so habe ich mich gefragt – ist das überzeugende Gegenmodell zu der zukunftslosen kapitalistischen Wachstumsideologie? Woher könnte in dieser verfahrenen Lage, in der man auch auf der linken politischen Seite kaum innovative Konzepte findet, so etwas wie eine “realistische Utopie” kommen?

  • Eine Antwort gibt die Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie.

Das Gute dabei ist: Wir brauchen keine Revolution, wir brauchen kein von Grund auf verändertes Gesellschaftssystem. Was wir – nach dieser Idee – brauchen ist “nur” eine Einigung darauf, dass der Erfolg und die materiellen Ergebnisse eines wirtschaftlichen Handelns zukünftig danach bemessen werden soll, in welchem Umfang damit die als “Gemeinwohl” definierten Ziele erreicht wurde. Es ginge dann also nicht – wie bisher – darum, wer ein Produkt zu dem günstigsten Preis anbietet; es würde statt dessen berücksichtigt, unter welchen (sozialen und ökologischen) Bedingungen dieses Produkt erzeugt wurde, wie viele Ressourcen dabei verbraucht wurden und welche Gemeinwohl-Bedürfnisse damit befriedigt würden. Die Einmischung in den “freien” Markt würde nicht über Verbote und Kontrolle erfolgen, sondern durch wirtschaftliche Anreize bzw. Auflagen.
Ein kleines Beispiel: Es gibt bereits woanders erste Regelungen, die solche Unternehmen mit einer zusätzlichen Steuer belegen, in denen das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und höchsten Einkommen besonders extrem hoch ist.

Okay! Es gibt tausend Fragen und Einwände – ich weiß!
Es geht um das Überwinden von Denkblockaden. Es geht darum, sich nicht weiter vermeintlichen Naturgesetzen der momentanen wirtschaftlichen Weltordnung auszuliefern – weil diese einfach unverantwortliche und z.T. perverse Ergebnisse liefert.
Was wäre wirklich verkehrt daran, wenn eine Gesellschaft die Anreize so definieren würde, dass diese mit den eigenen ethischen Zielen und den ökologischen Notwendigkeiten übereinstimmen?
Das alles wird nicht kurzfristig umsetzbar sein. Es geht um den Denkanstoß!
Ich hoffe und denke, dass wir von diesem Ansatz in den nächsten Jahren noch hören werden.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinwohl-%C3%96konomie
http://www.christian-felber.at/schaetze/gemeinwohl.pdf

“Homöopathie neu gedacht” von Natalie GRAMS

Die Autorin vermittelt einen sehr persönlichen Zugang zu einer Fragestellung, die häufig recht heftige Kontroversen auslöst:
“Ist Homöopathie nun eine dringend notwendige Alternative zur seelenlosen Schulmedizin oder ein aufgeblähter Schwindel für esoterische Wundergläubige?”
Natalie Grams kann etwas in die Waagschale werfen, was die meisten Vertreter der jeweiligen Extremposition nicht können: Sie kennt sich auf beiden Seiten aus! Sie hat als Ärztin eine florierende homöopathische Praxis betrieben und hat aus dieser “Innenposition” heraus eine kritische Auseinandersetzung mit den Grundannahmen dieses Behandlungskonzeptes entwickelt. 

Daraus entstanden ist sowohl eine “Abrechnung” (mit den Märchen und Mythen rund um die Homöopathie) als auch ein Plädoyer für die Nutzung bestimmter Denk- und Behandlungsansätze.
Wie geht das?

Nun: Sie hat zunächst als Medizinerin ihr naturwissenschaftliches Herz (wieder-)entdeckt und macht unmissverständlich deutlich, dass homöopathische Medizin nicht über die verabreichten Mittel wirkt (wirken kann). Aus diesem irrationalen “Schwindel” wollte sie aussteigen.
Da sie aber bei ihren eigenen Patienten regelmäßig gute Heilerfolge erzielen konnte, ging sie  auf die Suche nach den tatsächlichen Wirkmechanismen – und wurde fündig! Ihre Analyse geht dabei über den allseits bekannten Placebo-Effekt weit hinaus und berücksichtigt vor allem die Faktoren, die in der therapeutischen Beziehung und in der spezifischen Gesprächsführung liegen.

Wer sich ein ganz klein wenig in diesem Bereich auskennt, kommt vielleicht doch relativ rasch auf die Idee, dass sie eigentlich über Psychotherapie redet, genauer gesagt über eine Mischung zwischen Gesprächstherapie und Kognitive Verhaltenstherapie. Sie selbst deutet das auch nach einer ganzen Weile an – ohne jedoch das Ausmaß der Übereinstimmung ganz erkennen zu können oder zu wollen.

Eine überraschende und irritierende Wendung nimmt dann das Buch an der Stelle, an der Frau Grams die homöopathische Praxis als eine Art Clearingstelle für das Gesundheitssystem bzw. für eine niederschwellige psychotherapeutische Basisversorgung nutzen will (“weil ja die echte Psychotherapie so schwer zu bekommen ist”).
Da wird es meiner Meinung nach dann doch ein wenig skurril – wenn auch das Anliegen verständlich ist.

Meine Bilanz: ein interessantes Buch, das ein paar neue Schneisen in das Unterholz der verfeindeten Lager schlägt, ohne in den Grundpositionen faule Kompromisse einzugehen.
Langfristig muss sich aber m. E. das Gesundheitssystem selbst verändern und die Teile der alternativen Medizin integrieren, die offensichtlich so dringend gebraucht und gewünscht werden. Aber bitte ohne Aufgabe der wissenschaftlichen und empirischen Maßstäbe (die uns allen übrigens unsere Lebenserwartung erheblich nach oben geschraubt haben).

(Zum Thema “Heilpraktiker” hier mehr)

“Helix: Sie werden uns ersetzen” von Marc ELSBERG

Während Autoren wie HARARI, LESCH oder AL GORE uns  mit ihren faktenreichen Sachbüchern auf die großen Entwicklungstrends der nächsten Dekaden einstimmen, nutzen andere den Weg über die eher leichte Lektüre: Sie spinnen rund um das Thema eine mehr oder weniger spannende Handlung und schaffen so die Möglichkeit, Aktualität und Wissensvermittlung mit Unterhaltung zu verbinden.

Neben dem ebenfalls hier besprochenen “Mirror” trifft dieser Anspruch auch dieses Buch von Elsberg zu. Es geht dabei hier um die Zukunftsvisionen der Humangenetik am Beispiel der Designer-Babys.

Ich will gar nichts über die Geschichte selbst sagen und mich auf eine zusammenfassende Bewertung konzentrieren:
Sicher hätte man auf die ein oder andere spektakuläre Effekthascherei verzichten können und so dem Text ein wenig mehr Seriosität verschaffen können. Wenn man aber darüber milde hinweg sieht, schafft es “Helix” m. E. sehr gut, sowohl an die sich abzeichnenden Potentiale der Genmanipulation heranzuführen als auch die anstehenden Grundsatzfragen sehr plastisch zu veranschaulichen.
Im Vergleich zum “Mirror” wird hier der Blick ein wenig weiter und spekulativer in die Zukunft geworfen: dies stellt aber die Relevanz der angeschnittenen Themen nicht in Frage.
Meine Meinungsbildung in dieser Frage ist jedenfalls durch die Lektüre sicher differenzierter geworden.

Wer sich vor Übertreibungen und gewissen Plausibilitätsdefiziten nicht fürchtet, bekommt hier eine anregende Lektüre (auch wenn es manchmal des Guten etwas zu viel erscheint).