“Wie wir werden, wer wir sind” von Joachim BAUER

Bewertung: 3.5 von 5.

Das Buch hat bei mir widersprüchliche Reaktionen ausgelöst. Das liegt daran, dass es gleichzeitig informativ und wichtig ist, auf der anderen Seite aber auch etwas irritiert.

Die Zielsetzung des Autors ist nicht nur lohnenswert, sondern wird mit diesem Schachbuch auch tatsächlich auch eingelöst: Dem Mediziner, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut BAUER, der sowohl praktisch als auch in der Lehre in prägenden Funktionen tätig war, gelingt es ohne Zweifel hervorragend, einem interessierten Laienpublikum die existentielle Bedeutung sozialer Interaktion als Grundlage für die menschliche Selbst-Entwicklung zu vermitteln.
Er tut dies in einer gut verständlichen Sprache, in der gleichzeitig detaillierte Information und die Botschaft des Autors Raum finden. BAUER hat ein Buch verfasst, das sich an ein breiteres Sachbuchpublikum wendet, ohne sich aber eines typisch wissenschaftsjournalistischen Schreibstils zu bedienen.

BAUER analysiert und schildert die die Prozesse von Spiegelung, Resonanz, feinfühliger Begleitung und externer Regulation von Erregung und Emotion auf der einen Seite mit einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Akribie. Er zeigt sich dabei aber keineswegs als neutraler Beobachter bzw. Protokollant der komplexen Interaktion zwischen Säugling/Kelinkind und seinen Bezugspersonen. Vielmehr wird – gefühlt – in jedem zweiten Satz deutlich, welche Bedeutung dieses Geschehen für den Autor auch ganz persönlich hat: Er scheint geradezu erfüllt zu sein von diesem Geschehen; man spürt das die Vermittlung seiner Erkenntnisse für ihn den Charakter einer Mission hat.
Die grundlegenden Prozesse werden dabei – durchaus wortgewandt und plastisch – so häufig dargestellt, dass sich alsbald eine gewisse Redundanz einstellt.

Eine Spur “Überengagement” wird auch in der Tendenz zu gefühlsgeladenen Formulierungen deutlich. Die Abgrenzung zu theoretischen oder therapeutischen Ansätzen, die der Autor als nicht kindzentriert genug beurteilt, fällt extrem harsch aus.
(So wird dem – eindeutig humanistisch orientierten – Evolutionsforscher DAWKINS gleich eine Neigung zur schwarzen Pädagogik unterstellt, nur weil dieser von “egoistischen” Motiven bei kleinen Kindern spricht).

Problematischer ist jedoch ein anderer Punkt: Während die von BAUER benutzte zentrale Begrifflichkeit von dem “Selbst” bzw. dem “Selbstsystem” zunächst als hilfreich für das Verständnis erlebt werden kann, bekommt diese Bezeichnung im Laufe des Textes ein deutlich überzogenes Eigenleben. BAUER formuliert immer wieder so, als ob dieses “Selbst” eine irgendwie selbständige Instanz wäre, die mit anderen Bereichen des Körpers und des Gehirns in einem Austausch stände. Diese Sichtweise erinnert ein wenig an die psychoanalytischen Konzepte vom ES oder ÜBER-ICH, bei denen oft vergessen wurde, dass es sich nicht um reale Entitäten, sondern um sprachliche Konzepte bzw. Metaphern handelte. Vermutlich ist es in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass BAUER tatsächlich auch psychodynamisch ausgebildet ist.

So ergibt sich insgesamt ein etwas zwiespältiges Bild: Da ist auf der einen Seite ein überzeugendes Buch, das auf der Basis zahlreicher wissenschaftlicher Belege und mit großem und authentischen Engagement dafür wirbt, Kindern in den ersten Lebensjahren genau die intensiven und feinfühligen sozialen Erfahrungen zu ermöglichen, die diese für die Entwicklung einer gesunden, gemeinschaftsfähigen und selbstbewussten Persönlichkeit existenziell benötigen.
Und da gibt es die Stellen, in der der Autor über das Ziel hinausschießt und Gegner dort sieht, wo es vielleicht nur um ergänzende Perspektiven geht. Und BAUER ist so identifiziert mit seiner sozialen Selbst-Theorie, dass er letztlich sein neurowissenschaftliches Basiswissen aus den Augen verliert: Das Selbst ist nämlich kein eigenständiger Akteur, der irgendwie mit eigener Motivation auf das Gehirn einwirken könnte. Das Selbst ist ein unscharfer Begriff für bestimmte Funktionen und Prozesse, die durch die kombinierte Aktivierung bestimmter neuronaler Netzwerke in bestimmten Hirnarealen gebildet wird.
Man kann das natürlich sprachlich vereinfachen, und muss das vermutlich auch. Nur sollte man zumindest einmal auf diesen Umstand hinweisen.

Unabhängig von dieser kleinen Einschränkung: Die Botschaft des Buches ist wichtig – und sie kommt an!

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“Deutschland misshandelt seine Kinder” von Michael TSOKOS und Saskia GUDDAT

Bewertung: 4.5 von 5.

Zehn Jahre nach seiner Erstveröffentlichung hat dieses Buch nichts an Relevanz verloren – im Gegenteil. Was 2014 in Fachkreisen für Aufsehen sorgte, ist inzwischen ein Standardwerk im Bereich des Kinderschutzes geworden. Und es lohnt sich, den Text erneut zur Hand zu nehmen – gerade vor dem Hintergrund aktueller Diskussionen über Kindeswohl und institutionelles Versagen.

Die Autoren – beide erfahrene Rechtsmediziner – schildern eindringlich, wie klar und eindeutig sich Misshandlungsfälle aus rechtsmedizinischer Sicht meist bewerten lassen. Die Analyse körperlicher Verletzungen erlaubt eindeutige Rückschlüsse auf die Ursachen – deutlich objektiver als jede Einschätzung psychischer oder emotionaler Schädigungen. TSOKOS und GUDDAT liefern dazu zahlreiche Fallbeispiele, die erschüttern. Die Autoren ersparen dabei ihrer Leserschaft auch drastische Einzelheiten nicht.

Doch das Buch ist weit mehr als ein rechtsmedizinisches Fachprotokoll. Es ist eine schonungslose Systemanalyse – und eine Anklage. Die Autoren zeichnen das Bild eines Kinderschutzes, der an seinen eigenen Strukturen scheitert: Elternrechte werden häufig höher gewichtet als Kindeswohl, überforderte Jugendämter delegieren Verantwortung an freie Träger, deren wirtschaftliches Überleben von Wohlwollen und Auftragsvergabe derselben Behörden abhängt. Oft besonders jungen und unerfahrenen Familienhelfer unterliegen ihrerseits dem (inneren und äußerem) Druck, die eigene Arbeit als sinnvoll und erfolgreich zu bewerten. Es entsteht eine problematische Gemengelage gegenseitiger Beschönigung und Rücksichtnahme, in der gefährdete Kinder allzu oft durch das Raster fallen – mit teilweise tödlichen Folgen.

Besonders kritisch fällt das Urteil über die juristische Praxis aus: Familienrichter urteilen regelmäßig ohne spezialisierte Fortbildung zum Thema Kindeswohlgefährdung. Die Expertise von Rechtsmedizinern wird dabei mitunter weniger ernst genommen als die Beteuerungen der beschuldigten Eltern. Strafrechtlich enden viele Verfahren mit Freisprüchen, weil sich keine eindeutige Täterschaft nachweisen lässt – auch dann, wenn feststeht, dass ein Kind durch eines der Elternteile massiver Gewalt ausgesetzt war.

Der Vorwurf, das Buch arbeite mit extremen Einzelfällen, wird von den Autoren nicht nur thematisiert, sondern mit klaren Zahlen und Quellen gekontert. Die Dunkelziffer der betroffenen Kinder sei hoch – deutlich höher, als Öffentlichkeit und Politik wahrhaben wollen. TSOKOS und GUDDAT fordern daher eine konsequente Parteinahme für die Kinder: nicht durch Dämonisierung der Täter, sondern durch eine klare Priorisierung von Kinderrechten vor Elternrechten. Dazu gehört auch, dass Misshandlungsopfer nicht gegen ihren Willen erneut Kontakt zu ihren Peinigern aufnehmen müssen.

Was bleibt, ist ein leidenschaftlicher Appell an Politik, Justiz und Praxis: Kinderschutz braucht verbindliche Standards, mehr Qualifikation, angemessene Bezahlung, bessere rechtliche Rahmenbedingungen – und eine Haltung, die sich traut, unbequeme Wahrheiten auszusprechen. Dabei müssten auch die kinderärztlichen Praxen eine deutlich konsequentere Rolle spielen. Die Vermittlung von rechtsmedizinischem Basiswissen fordern die Autoren für alle relevanten Berufsgruppen.

In einem Punkt unterschätzen die Autoren vermutlich sogar die Schwächen des Kinderschutzsystems: Oft sind es die internen Strukturen innerhalb der Jugendhilfe, durch die aus finanziellem Druck letztlich die Maßnahmen verhindert werden, die von den fallverantwortlichen Fachkräften “eigentlich” für notwendig erachtet werden.

Das Buch sollte eine Pflichtlektüre für alle sein, die im sozialen, medizinischen oder juristischen Bereich mit Familien arbeiten – unbequem, erschütternd und ganz sicher immer noch notwendig.
Dass die ein oder andere Formulierung – für sich betrachtet – auch als überzogen dramatisch bewertet werden könnte, sollte dem bewundernswerten Engagement der Autoren zugerechnet werden.

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“Unser soziales Gehirn” von Nicole STRÜBER

Bewertung: 4.5 von 5.

Wieviel zwischenmenschliches Miteinander braucht der Mensch?
Dieser Frage widmet sich Nicole STRÜBER in ihrem Buch Unser soziales Gehirn aus einer explizit neurowissenschaftlichen Perspektive. Die Autorin, Neurobiologin und (frühere) Psychologieprofessorin, spannt dabei einen Bogen über alle Lebensphasen hinweg: von der Geburt, über frühkindlichen Bindung, Jugend, Partnerschaft, Berufsleben – bis zum sozialen Miteinander im Pflegeheim. Ihr Anliegen: aufzuzeigen, welche biologischen Mechanismen die sozialen Prozesse im Gehirn steuern – und welche Folgen es hat, wenn diese Systeme dauerhaft vernachlässigt werden.

Im Mittelpunkt steht das Hormon Oxytocin, das in der populären Wahrnehmung oft als „Kuschelhormon“ bezeichnet wird. STRÜBER zeigt eindrucksvoll, dass es dabei keineswegs nur um Wohlfühlchemie geht. Oxytocin beeinflusst zentrale Bereiche des sozialen Verhaltens: Vertrauen, Empathie, Bindung, Mitgefühl. Es wirkt beruhigend auf das Stresssystem, fördert die emotionale Resonanz und kann – im besten Fall – ein Verstärker für kooperatives und prosoziales Handeln sein. Auswirkungen sind inzwischen auch für die körperliche und psychische Gesundheit nachgewiesen – sogar für die Demenz-Prophylaxe.

Die Autorin bezieht sich auf eine große Bandbreite empirischer Studien, in denen etwa hormonelle Reaktionen auf soziale Nähe, Blickkontakt, gemeinsames Tanzen oder körperliche Berührung gemessen wurden. Dabei beschreibt sie nicht nur die Befunde, sondern häufig auch die Versuchsaufbauten – ein Ansatz, der das Buch an vielen Stellen den Charakter eines populärwissenschaftliches Fachbuch verleiht. Gleichzeitig bleibt der Stil durchgehend lesbar: dem wissenschaftlichen Anspruch (durch zahlreiche Literaturverweise) steht als Gegengewicht ein lockerer, journalistisch-persönlicher Schreibstil gegenüber.

Besonders engagiert wirkt STRÜBERs kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen: Sie diagnostiziert eine wachsende Entfremdung im Sozialen, bedingt durch digitale Kommunikationsformen, chronische Reizüberflutung und insbesondere durch die Versuchungen der Social-Media-Welt. Ihr wissenschaftlich fundierter Appell lautet: Unmittelbare, körperlich-sinnliche soziale Begegnung ist keine freiwillige Kür, sondern biologisch notwendig.

Dass die Autorin inhaltlich in die Tiefe gehen kann, zeigen exemplarisch ihre Ausführungen zu den „Schattenseiten“ des Oxytocins (das auch für die Ausgrenzung von Menschen verantwortlich ist, die nicht der eigenen Bezugsgruppe angehören), ihre kritische Stellungnahme zu der Tabuisierung von Körperkontakt in Pädagogik und Jugendhilfe (aus Gründen einer überzogenen Missbrauchsprophylaxe) und ihre Auseinandersetzung mit den Befunden über die (nachgewiesene) Wirkung von elektronischen Pflege- und Betreuungsapparaten (die ebenfalls eine Oxytocin-Ausschüttung bewirken können).

Nicht ganz frei von Schwächen bleibt das Buch dennoch: Der immer wieder bemühte Begriff der „Engelskreise“ als positiver Gegenentwurf zu „Teufelskreisen“ wirkt stilistisch unglücklich (infantil-verkitscht) und passt nicht zu einem sachlich-wissenschaftlichen Anspruch. Auch der emotionale Appellcharakter mancher Passagen (insbesondere des Schlussteils) könnte bei kritischeren bzw. rationaleren Lesern doch als ein wenig zu missionarisch empfunden werden.

Trotzdem: Unser soziales Gehirn ist ein gehaltvolles und gut lesbares Sachbuch, das sowohl informiert als auch Denk- und Handlungsimpulse liefert. Es gelingt STRÜBER, den Wert sozialer Verbundenheit auf eine fundierte biologische Grundlage zu stellen – und damit eine wichtige Perspektive in einer Zeit zu liefern, in der zwischenmenschliche Nähe längst keine Selbstverständlichkeit mehr ist.

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“Der Pinguin, der fliegen lernte” von Eckart von HIRSCHHAUSEN

Bewertung: 3.5 von 5.

Wie wird man einem Buch gerecht, das so charmant daherkommt, dass man es beinahe kritiklos mögen muss – und das gleichzeitig auf so wohlvertrauten und ziemlich breitgetretenen Pfaden wandelt? Eckart von HIRSCHHAUSEN hat mit „Der Pinguin, der fliegen lernte“ erneut ein Werk vorgelegt, das seiner Leserschaft mit einer Mischung aus Humor, lebensnahen Anekdoten und psychologischer Selbsthilfe anspricht – durchaus unterhaltsam, im besten Sinne menschenfreundlich und sicher für viele auf der Suche nach Orientierung hilfreich.

Zentrales Motiv ist, wie der Titel verrät, ein Tier: der Pinguin. Was zunächst nach einer Kindergeschichte klingt, entpuppt sich als Symbol für das menschliche Bedürfnis nach dem „richtigen Platz im Leben“. Der scheinbar unbeholfene Vogel, an Land zum Scheitern verurteilt, zeigt im Wasser, was in ihm steckt – ein Bild, das HIRSCHHAUSEN als Metapher für persönliche Potenzialentfaltung ins Zentrum stellt. Dass es nicht darum geht, „fliegen zu lernen“, sondern das passende Element zu finden, zieht sich als roter Faden durch alle sieben Kapitel.
Nachdem der Ausganspunkt geklärt ist, werden weitere Fragen gestellt: „Was macht dir Freude?“, „Wer ist dir wichtig?“ oder „Traust du dich ins kalte Wassen?“

Der Autor bleibt sich treu: In gewohnt lockerer Weise verbindet er unterhaltsame Geschichten mit psychologischen Erkenntnissen. Immer wieder streut er kluge, teils witzige Formulierungen ein, die im Gedächtnis bleiben. Inhaltlich bewegt sich das Ganze allerdings überwiegend im Bereich dessen, was man aus früheren Veröffentlichungen von Hirschhausen (und von vielen anderen Ratgebern) bereits kennt – wer also seine bisherigen Bücher gelesen hat, wird hier wenig wirklich Neues entdecken.
Der Autor lässt dabei von den Pinguin-Analogien nicht ab: Mit einiger Kreativität schafft er immer wieder Bezüge zum Verhalten dieser putzigen und sehr sozialen Tiere.

Ein echtes Highlight ist die visuelle Gestaltung. Die Pinguin-Fotografien – eingefangen vom renommierten Tierfotografen Stefan Christmann – verleihen dem Buch einen besonderen Charme. Die Bilder sind nicht nur schmückendes Beiwerk, sondern verstärken die emotionale Botschaft und laden zum Blättern und Verweilen ein.

Unterm Strich ist „Der Pinguin, der fliegen lernte“ ein freundlich-optimistischer Impulsgeber – gut geeignet als Geschenk für Menschen, die sich nochmal auf einen Weg machen wollen – oder denen man einen solchen Move zumindest wünschen würde. Ob man das Buch als substanzielle Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung sieht oder eher als sympathisch verpackte Sammlung altbekannter Lebensweisheiten, hängt wohl vom jeweiligen Bedarf und den Vorerfahrungen ab. Überfordert wird wohl durch diese Lektüre sicher niemand: Nebenwirkungen sind bei dieser gut verträglichen Dosis Selbstreflexion nicht zu befürchten.

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“Seelenzauber” von Steve AYAN

Bewertung: 3.5 von 5.

Schon der poetisch aufgeladene Titel dieses Buches macht deutlich, dass es sich um eine besondere Form der Geschichtsschreibung handelt – nicht um nüchterne Wissenschaftshistorie, sondern um eine eher an Stimmungen und Personen gebundene Erzählung über ein Jahrhundert Psychotherapie. Tatsächlich nimmt uns Steve Ayan mit auf eine Zeitreise, die sich in weiten Teilen wie ein biografisches Gesellschaftspanorama liest – mit dem Zentrum im berühmten Wiener Salon Sigmund Freuds. Dass das Buch im Untertitel von einer „Bilanz des Jahrhunderts der Psychologie“ spricht, wirkt dabei fast schon wie eine bewusste Irreführung: Im Kern geht es nicht um die Psychologie als Ganzes, sondern um die Entwicklung und innere Dynamik der Psychotherapie, genauer gesagt – um die Psychoanalyse und ihre Verästelungen.

Ayan folgt der Entstehung und Differenzierung der psychoanalytischen Bewegung mit großer Detailverliebtheit. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf Theorien und kulturellen Einbettungen, sondern vor allem auf den Persönlichkeiten: Freud, Jung, Adler, Reich, Rank – sie alle treten in ihren Eigenheiten, Eitelkeiten, Neurosen und Konflikten auf die Bühne. Das macht den Text lebendig, bisweilen fast romanhaft – und doch bleibt man als Leser irgendwann erstaunt zurück: Wo bleibt der Rest der Psychotherapie?

Erst spät und eher zögerlich widmet sich Ayan den anderen großen Schulen: dem amerikanischen Behaviorismus, der Gesprächs-, Gestalt- oder der Verhaltenstherapie.
Und selbst dort schlägt immer wieder der Bezug zur Analyse durch. Kaum glaubt man, der Blick wende sich nun gleichberechtigt anderen Richtungen zu, ruft Ayan doch wieder die alten psychoanalytischen Grabenkämpfe auf – oft mit einer fast klatschhaften Freude an persönlichen Dramen. Dass er dabei keineswegs als unkritischer Bewunderer Freuds auftritt, macht die Lektüre nicht weniger widersprüchlich. Im Gegenteil: Ayan formuliert sehr klar alle bekannten Schwächen der Psychoanalyse – ihre wissenschaftliche Unschärfe, die unzureichende empirische Evidenz, ihre teils sektiererischen Züge. Warum dann immer wieder diese Rückkehr zu genau dieser Welt?

Ein möglicher Grund liegt auf der Hand: Die Protagonisten der Psychoanalyse liefern mit ihren exzentrischen, oft toxischen Persönlichkeitszügen das dramatischere Material. Das verführt – aber es verzerrt auch.
An einigen Stellen gerät AYANs Auswahl der behandelten Figuren ins Groteske: Dass etwa Rudolf Steiners esoterische Denkgebäude ausführlich dargestellt werden, lässt einen am thematischen Fokus des Buches zweifeln. Fragwürdiger wird es auch, wenn zum Abschluss marxistisch inspirierte Therapiekonzepte angerissen werden – ohne echten Erkenntnisgewinn.

Doch dann kommt das Schlusskapitel – und es versöhnt. Hier gelingt AYAN ein stimmiges Resümee: Der weite Weg von Freuds Sofa bis zur modernen, pragmatischen Dienstleistungspsychotherapie wird in klarer Sprache mit einem kompetenten Blick für die großen Entwicklungslinien zusammengefasst. Trotz seiner Schlagseite bleibt Seelenzauber ein lesenswertes Buch – vor allem für Leserinnen und Leser, die ein starkes Interesse an der psychoanalytischen Welt und ihren historischen Verwicklungen mitbringen. Wer sich weniger für Persönlichkeitsgeschichten und innerprofessionelle Eitelkeiten begeistert, wird zumindest eine unterhaltsame Geschichtsstunde erleben.

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“See der Schöpfung” von Rachel KUSHNER

Bewertung: 3 von 5.

Es gibt Bücher, bei denen man sich nach der Lektüre beinahe schuldig fühlt, weil man den allgemeinen Begeisterungssturm nicht teilen kann. Wenn ein Werk von der Literaturkritik mit Lob überhäuft und für namhafte Preise nominiert wird, wächst der Druck, sich diesem Urteil anzuschließen. Und das eigene abweichende Urteil löst Zweifel aus: Hat man etwas übersehen? Oder ist man einfach nicht empfänglich für den besonderen Ton, den diese Literatur anschlägt?

Im Zentrum dieses Romans steht eine Ich-Erzählerin, die im Auftrag einer privaten Organisation eine Gruppe französischer Umweltaktivisten infiltriert. Die 34-jährige Sadie hat ihr Handwerk einst beim FBI gelernt. Ihre Tarnungen sind perfekt, ihre Loyalität gilt einzig dem Auftraggeber (und ihrem Honorar) – moralische Bedenken oder gar Skrupel kennt sie nicht. Diese Konstellation eröffnet eine reizvolle Prämisse: eine Agentin ohne ethischen Kompass, die sich auch persönlichste Beziehungen strategisch zunutze macht, um ihre Ziele zu erreichen.

Bemerkenswert ist, mit welcher Detailtreue und psychologischen Tiefe einige Mitglieder der Aktivistengruppe beschrieben werden – besonders eine Figur sticht durch ihre radikale Entwicklung hervor. Der Text erlaubt Einblicke in extreme Rückzugs- und Fantasiewelten, die weit über das hinausgehen, was man als bloße politische Radikalisierung verstehen würde. Eine zusätzliche Ebene bringt die spekulative Idee ins Spiel, die Welt hätte sich womöglich ganz anders entwickelt, wenn sich nicht der Homo sapiens, sondern der Neandertaler durchgesetzt hätte. Alte Mythen des Landstrichs, in dem die Handlung spielt, dienen als Projektionsfläche für diese evolutionäre Alternativgeschichte.

Auch sprachlich hebt sich der Roman zweifellos vom Mittelmaß der Unterhaltungsliteratur ab. Der Stil ist anspruchsvoll, pointiert, gelegentlich philosophisch grundiert.
Und doch bleibt der Gesamteindruck zwiespältig. Die einzelnen inhaltlichen Ebenen – politische Milieustudie, persönliche Tragödien, anthropologische Spekulation – greifen zwar textlich ineinander, ergeben aber letztlich kein überzeugendes kohärentes Ganzes.
Die Protagonistin bleibt durch ihr berechnendes, empathieloses Verhalten schwer zugänglich, fast schon abstoßend. Die Darstellung der Aussteiger-Szene changiert zwischen Romantisierung und Kritik, findet jedoch keinen klaren Standpunkt. Der Einfluss gescheiterter Lebenswege, Alkohol- und Drogenmissbrauchs wird nicht verschwiegen; gemischt werden diese Aspekte in einer wenig überzeugenden Weise mit einem stabilen antikapitalistischen gesellschaftliche Gegenentwurf.

So bleibt ein Buch, das sich bewusst vom literarischen Mainstream absetzt, aber in seiner etwas zerrissen wirkenden Komplexität nicht restlos überzeugt. Thematisch und sprachlich anspruchsvoll, ja – aber nicht in dem Maße bemerkenswert, wie es der Konsens der literarischen Kritikerszene vermuten lässt.

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“Parts Per Million” von Theresa HANNIG

Bewertung: 2.5 von 5.

(Achtung: Spoiler-Warnung! Einigen könnten in dieser Rezension die Hinweise auf den Handlungsverlauf zu weit gehen; wer sich den Spannungsbogen in vollem Umfang erhalten möchte, sollte die Rezension vielleicht eher im Nachhinein lesen und mit dem eigenen Eindruck abgleichen.)

Theresa Hannigs neuer Roman “Parts Per Million” knüpft erzählerisch an die reale Situation der Autorin an: Ein Folgeprojekt ihres erfolgreichen Romans („Pantopia“) steht aus, Inspiration ist rar. Dann gerät die Ich-Erzählerin zufällig in eine Protestaktion von Klimaklebern. Was zunächst wie eine bedeutungslose Episode erscheint, entwickelt sich zur Initialzündung für eine weitreichende persönliche Transformation, die das Privat- und Familienleben der Protagonistin völlig durcheinanderwirbelt.

Die Protagonistin tastet sich zunächst neugierig und beobachtend an die Szene heran, beginnt zu recherchieren und lässt sich zunehmend hineinziehen in eine Welt, in der moralische Dringlichkeit und politischer Aktionismus eine explosive Mischung eingehen. In mehreren Stufen wandelt sich ihre Rolle: Von der interessierten Außenstehenden zur aktiven Mitstreiterin bis hin zur zentralen Figur einer radikalisierten Gruppierung, die mit immer drastischeren Mitteln gegen die “Klimakiller” unserer Gesellschaft vorgeht.

HANNIG strukturiert ihren Roman auch als warnende Aufklärung: Jedes Kapitel beginnt mit einer realen, alarmierenden Klimanachricht – ein erzählerisches Stilmittel, das die – unzweifelhafte – Dringlichkeit des Themas betont. Im Zentrum steht jedoch nicht der Klimawandel selbst, sondern die Frage, wie weit Aktivismus gehen darf bzw. vielleicht auch muss.
Zunächst dominiert das Ideal der Gewaltfreiheit, doch mit wachsender Frustration über die Wirkungslosigkeit symbolischer Aktionen verschiebt sich das moralische Koordinatensystem der Gruppe zunehmend. Gewalt wird nicht nur als Mittel zur Aufmerksamkeitserzeugung eingesetzt, sondern auch als eine Art Erziehungsmittel (Strafe) und zur Erzeugung konkreter Angst („ich könnte der Nächste sein“). Wirklich erschreckend ist jedoch die Radikalität, mit der die physische Ausübung der Gewalt als emotional befriedigend beschrieben wird.

An dieser Stelle beginnt der Roman problematisch zu werden. Die Grenzverschiebung in Richtung Gewalt wird erzählerisch kaum kritisch begleitet, sondern nimmt Züge einer geradezu sadistischen Gewaltorgie an.
Zwar wird ganz am Ende ein Kontrollverlust – und somit ein Scheitern der Strategie – dargestellt, eine inhaltliche Reflexion über Schuld, Verhältnismäßigkeit oder moralische Grenzen bleibt aber weitgehend aus. Weder wird diskutiert, inwieweit einzelne Akteure allein durch autonome „Willensentscheidungen“ – also im engeren Sinne „schuldhaft“- zu schädlichem (Klima-)Handeln veranlasst werden, noch ob und wann auch brutalste Gewalt gegen Personen auf einer höheren ethischen Ebene legitimierbar sein könnte.

Auch die Entwicklung der Hauptfigur wirkt da an entscheidenden Stellen konstruiert. Die Entwicklung von einer gutmeinenden und verantwortungsvollen linksliberalen Autorin und Mutter zur brutalen Akteurin in einer klimakämpferischen Terrorzelle bleibt psychologisch wenig überzeugend. Hier fehlt es an innerer Logik und Tiefe, um diese Wandlung wirklich nachvollziehbar zu machen; ohne den Bezug auf entsprechende biografische Prägungen wirkt das Ganze sehr unglaubwürdig.

Was als spannender Beitrag zur Diskussion um Klimaaktivismus begonnen hatte, verliert sich zusehends in einem erzählerischen Extremismus, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. “Parts Per Million” ist ein aufrüttelndes, aber letztlich unausgewogenes Buch, das die moralischen Dilemmata des militanten Aktivismus zwar aufgreift, sie aber erzählerisch nicht zu Ende denkt. Die notwendige Balance zwischen Empathie, Analyse und Kritik bleibt auf der Strecke. Vielleicht ist das alles genau so gewollt – aber schwer verdaulich und unausgegoren ist es trotzdem.
Mit viel gutem Willen kann man den Roman zwar durchaus als provokante Mahnung und Warnung vor dem Phänomen des Öko-Terrorismus betrachten; er lässt das Publikum aber an entscheidenden Stellen ziemlich ratlos zurück. Stellenweise liest sich der Text wie eine konkrete Anleitung zu organisierter Klima-Militanz – inklusive Social-Media-Strategie. Warum sich HANNIG dann auch noch so detailliert in Gewaltlust-Szenarien hineinsteigert, bleibt ihr Geheimnis.
An diesen Irritationen kann auch das persönliche Nachwort der Autorin nichts mehr ändern.

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“Der Mensch im Tier” von Norbert SACHSER

Bewertung: 5 von 5.

Manchmal begegnet man einem Buch, bei dem man als Rezensent eigentlich nur eines möchte: Fünf Sterne zücken und den Rest sich sparen. Norbert SACHSERs Werk “Der Mensch im Tier” ist genau so ein Fall. Es liefert eine beeindruckend umfassende und dabei wunderbar zugängliche Darstellung der verhaltensbiologischen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte – ohne akademische Hürden, aber auch ohne oberflächliche Vereinfachungen.

SACHSER gelingt hier ein Glanzstück des Wissenschaftsjournalismus: gut strukturiert, detailreich und mit einem Tiefgang, der nie ins Spezialistentum abgleitet. Stattdessen nimmt er seine Leserschaft mit auf eine Reise durch die Tierwelt, bei der sich altbekannte Vorstellungen Schritt für Schritt als überholt erweisen. Tiere, das wird hier deutlich, sind weitaus kompetenter, komplexer und – ja – auch individueller, als es noch vor wenigen Jahrzehnten selbst in Fachkreisen angenommen wurde.

Ob es um Problemlösen, Werkzeuggebrauch, Denkprozesse, Kommunikation oder moralische Intuitionen geht – SACHSER zeigt anhand zahlreicher Beispiele, wie sehr sich das Bild von unseren tierischen Mitgeschöpfen gewandelt hat. Dabei ist besonders faszinierend, dass diese Fähigkeiten nicht nur bei den “üblichen Verdächtigen”, also höheren Säugetieren oder Primaten, beobachtet wurden, sondern auch in der Vogelwelt – deren Intelligenz auf einem evolutionär ganz anderen Weg entstanden ist. Die Vorstellung, dass die Natur verschiedene Pfade zur Intelligenz eingeschlagen hat, ist nicht nur spannend, sondern auch erkenntnistechnisch revolutionär.

Das Buch ist reich an Beispielen für verblüffendes Tierverhalten und die kreativen Methoden, mit denen diese wissenschaftlich untersucht werden. Und erfreulicherweise verzichtet der Autor auf Selbstdarstellung oder biografische Abschweifungen – hier steht der Forschungsstand im Mittelpunkt, nicht der Forscher.

Kurz: Der Mensch im Tier ist ein vorbildlich geschriebenes Sachbuch, das man nicht nur mit Gewinn liest, sondern gerne auch ein zweites Mal aufschlägt. Für alle, die sich für Evolution, Biologie und die großen Fragen nach dem, was uns wirklich von anderen Tieren unterscheidet – oder mit ihnen verbindet –, ist dieses Buch ein echter Volltreffer.

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“Die Vermessung unserer Gefühle” von Dr. Jesus MARTIN-FERNANDEZ”

Bewertung: 4 von 5.

Wie viel kann man aus einem geöffneten Gehirn über den Menschen erfahren? Eine ganze Menge – zumindest, wenn man dem jungen, engagierten Neurochirurgen Jesus MARTIN-FERNANDEZ folgt, der mit seinem Buch nicht nur einen faszinierenden Einblick in die moderne Gehirnchirurgie gibt, sondern auch ein leidenschaftliches Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der neurologischen Medizin formuliert. Dabei geht es ihm nicht nur um den Fortschritt in der praktischen Arbeit, sondern um nicht weniger als ein erweitertes Verständnis des komplexesten Zellhaufens, den die Evolution auf diesem Planeten jemals hervorgebracht hat.

In klarer, auch für Laien verständlicher Sprache schildert er eine hochspezialisierte OP-Technik, bei der Patienten während der Tumorentfernung wach bleiben. Elektrische Reize, kognitive Aufgaben, Bewegungsübungen und emotionale Erkennungstests – das OP-Team beobachtet dabei, wie das Gehirn auf Stimulationen reagiert, um jene Regionen zu identifizieren, die für essentielle Funktionen zuständig sind. Nur was keine kritischen Ausfälle provoziert, wird entfernt – auch wenn Tumorreste verbleiben müssen. Der Gewinn an Lebensqualität ist beachtlich.

Diese „funktionelle Kartografie“ widerspricht dem klassischen Bild lokalisierter Funktionszentren. Martin-Fernandez stellt diesem überkommenen Konzept ein neues, dynamisches Verständnis entgegen, das er anhand zahlreicher Fallbeispiele eindrücklich belegt. Dabei gelingt ihm der Spagat zwischen wissenschaftlicher Präzision und erzählerischer Zugänglichkeit – ein echtes Lehrstück für Wissenschaftskommunikation.

Doch das Buch ist mehr als ein medizinischer Erfahrungsbericht. Es ist auch das Selbstporträt eines jungen Arztes, der von einer Idee und einer Mission getrieben ist – und dem es gelungen ist, in wenigen Jahren zu einer international gefragten Kapazität seines Fachs zu werden. Martin-Fernandez gewährt intime Einblicke in seine berufliche Entwicklung, seine internationalen Konferenzerfahrungen und die Belastungen des Klinikalltags. Seine Aufzeichnungen – von ihm selbst mehrfach Tagebuch genannt – wurden oft geschrieben in Momenten größter Erschöpfung nach stundenlangen Operationen oder Fachvorträgen – und wirken dadurch direkter und authentischer als ein Schreibtisch-Text.

Diese Intensität seines beruflichen Engagements allein wäre schon bemerkenswert. Doch Martin-Fernandez überrascht noch mit einer weiteren Facette: Parallel zu seiner Karriere in der Medizin absolviert er eine Ausbildung zum Dirigenten, produziert musikalische Werke für Opernaufführungen. Auch hier ist Perfektion sein Maßstab, Kreativität sein Antrieb. Es entsteht das Porträt eines Menschen, der mit kaum versiegender Energies zwischen Wissenschaft und Kunst pendelt – hochintelligent, hochkreativ, hochproduktiv.

Allerdings hat dieser Tagebuchcharakter auch seinen Preis. Die Begeisterung des Autors für seine Tätigkeit ist so überbordend, dass zentrale Thesen und Prinzipien in einem Maße wiederholt werden, das mitunter auch den gutwilligsten Leser nerven wird. Bereits nach dem ersten Drittel des Buches hat man das Gefühl, die Kernaussagen auswendig zu kennen. Hier hätte ein Lektorat straffer eingreifen können – oder sollen.
Überhaupt: Der Autor kratzt immer wieder mal an der Grenze zum “too much” – es ist eben ein sehr persönliches Werk – kein neutrales Sachbuch. Und der Autor selbst steht immer wieder im Zentrum der Betrachtungen.

Doch bei aller Kritik fällt es schwer, dem Autor daraus ernsthaft einen Vorwurf zu machen. Denn immer wieder öffnet er dem Leser emotionale Räume, spricht respektvoll und fast zärtlich über seine Patienten und seine Helfer im OP-Team. Seinen wissenschaftlichen Widersachern (Vertretern der fest lokalisierten Gehirnzentren) begegnet er mit Respekt – allerdings auch mit der Überzeugung, den wissenschaftlichen Fortschritt auf seiner Seite zu wissen. Auch die Hochachtung, die er seinem Mentor entgegenbringt, verleiht dem Text eine besondere menschliche Tiefe.

Am Ende bleibt ein Buch, das eine ungewöhnliche Mischung bietet – aus wissenschaftlicher Innovation, persönlicher Leidenschaft und intensiver Selbstreflexion. Wer bereit ist, die wirklich ausgeprägte Redundanz zu ertragen, wird mit einem Leseerlebnis über „menschliche Medizin“ belohnt, das sowohl informiert, intellektuell stimuliert als auch emotional berührt.


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“Das Ministerium der Zeit” von Kaliane BRADLEY

Bewertung: 3.5 von 5.

Zeitreisen waren schon immer ein dankbares Szenario für alle Arten von Zukunftsromanen. Immer wieder reizten – neben den technischen Visionen – auch die hochphilosophischen Spekulationen darüber, ob man durch Interventionen in der Vergangenheit Einfluss auf die Gegenwart nehmen könnte.

BRADLEY wählt einen recht individuellen und kreativen Weg in die Thematik:
Sie konstruiert einen Plot, in dem eine junge Frau (die Ich-Erzählerin) als Angestellte einer britischen Regierungsbehörde die Aufgabe hat, einen Zeitreisenden (den Polarforscher Graham Gore) eine Weile zu betreuen. Zusammen mit einigen anderen Personen (aus anderen historischen Epochen) wurde er unfreiwillig Versuchsperson in einem einmaligen Geheim-Experiment.
Aus dem Jahre 1847 wird Graham in das London des 21. Jahrhunderts katapultiert und bekommt – neben einer offiziellen fachlichen Behandlung – eine private Alltagsbegleitung. Die Protagonistin dieses Romans ist diese “Brücke” (zwischen dem im 19. Jahrhundert geprägten Offizier und der Moderne).

Der Roman wird auf der einen Seite durch einen Handlungsstrang getragen, in dem sich die Vorgänge in der staatlichen Behörde und zwischen den Zeitreisenden und ihren Begleitern in einer zunehmend komplexen Form kreuzen und schließlich heftig eskalieren.
In wie weit diese ganzen Entwicklungen inhaltlich und logisch überzeugend sind, soll hier nicht weiter kommentiert werden. Zweifel sind aber angebracht…

Der eigentliche Reiz des für diese Story gewählten Kontextes liegt aber auf einer anderen Ebene (und soll wohl dort auch liegen): Die Autorin interessiert sich für die psychologische und emotionale Dynamik, die sich bei den Zeitreisenden selbst und zwischen ihnen und ihren (sehr privaten) Betreuern abspielt.
Was bedeutet es wirklich – so fragt man sich auch als Leser/in – von einem Moment zum anderen in eine völlig andere historische Wirklichkeit zu geraten – und dort so ziemlich alle Selbstverständlichkeiten zu verlieren, die das bisherige Leben und damit auch die eigene Identität getragen haben?

Die Vorfreude auf die Schilderung einer solchen extremen Irritation und auf die Beschreibung der kaum zu überschätzenden Herausforderung an die Anpassungsleistungen eines psychischen Systems – diese Erwartung wird nur in geringem Umfang erfüllt. Man gewinnt sehr schnell den Verdacht, dass die Vorstellungskraft und/oder die sprachlichen Möglichkeiten der Autorin einfach nicht ausreichen, um wirklich nachvollziehbar zu machen, wie tief der innere Graben zwischen Vergangenheit und Gegenwart im Fühlen und Denken von Graham ist.
So bleiben – bei allen vorhandenen Ansätzen – die Fragen nach seinem inneren Erleben weitgehend offen: Der Bruch mit dem gelebten Sein bzw. die Integration der neuen Erfahrungen gelingt dem Zeitreisenden erstaunlich schnell. Und natürlich bezieht sich diese Eingewöhnung letztlich auch auf die ganz persönliche Beziehung zwischen Graham und seiner “Brücke”.

So ganz überzeugend ist dieser Roman also auf beiden Analyseebenen nicht.
Das ist insbesondere deshalb ein wenig schade, weil die Grundidee wirklich eine Menge Potential in sich trägt.
Das könnte auch ein Grund dafür sein, sich dem Buch – trotz seiner Schwächen – mit Interesse zuzuwenden: Er verschafft eine Menge Anlass, sich selbst Gedanken über diese extrem ungewöhnliche Situation zu machen. Was spricht dagegen, auch solche Wege weiterzudenken, die von der Autorin nicht gegangen werden?

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