“Demokratie braucht Erziehung” von Herbert RENZ-POLSTER und Ulrich RENZ

Bewertung: 4.5 von 5.

Fangen wir mit dem Offensichtlichen an: Dieses Buch ist kein Erziehungsratgeber im klassischen Sinn. Wer konkrete Alltagstipps für das familiäre Zusammenleben erwartet, wird enttäuscht sein – und verfehlt zugleich den Anspruch, den die Autoren mit ihrem Text verfolgen. Herbert Renz-Polster und Ulrich Renz interessieren sich für die großen Zusammenhänge: für den Einfluss frühkindlicher Beziehungserfahrungen auf unsere späteren politischen Haltungen – und damit letztlich für die Frage, wie sich die Demokratie in einer Gesellschaft langfristig erhalten lässt.

Dabei bleibt das Buch nicht bei wohlklingenden Allgemeinplätzen stehen. Vielmehr gelingt es den Autoren, ihre Thesen nachvollziehbar und eindrucksvoll mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Befunden, psychologischen Studien und gesellschaftlichen Beobachtungen zu untermauern. Die Leserinnen und Leser werden nicht belehrt oder ideologisch vereinnahmt – im Gegenteil: Man fühlt sich eingeladen, einem stringenten und überzeugenden Argumentationsweg zu folgen, der von der individuellen Erfahrung bis zur gesellschaftlichen Verantwortung reicht. Ohne dass das Buch je polemisch oder übergriffig wird, macht es dabei eines sehr deutlich: Es geht hier um mehr als um Pädagogik. Es geht um die Zukunft unserer offenen Gesellschaft.

Eine der stärksten Thesen des Buches: Menschen, die in ihrer frühen Kindheit kein verlässliches Beziehungsnetz erleben konnten – die sich allein gelassen, bedroht oder machtlos gefühlt haben – sind später besonders empfänglich für autoritäre Denkweisen. Was oft als „politische Meinung“ erscheint, hat tiefere Wurzeln. Populistische und demokratiefeindliche Haltungen, so das Argument, sind nicht primär das Ergebnis rationaler Überzeugung – sie sind emotionale Reaktionen auf alte Verletzungen. Diese Perspektive verschiebt den Blick – weg von moralisierenden Urteilen über „die da rechts“ hin zu einer tiefergehenden Frage: Wie geht eine Gesellschaft mit den seelischen Biografien ihrer Mitglieder um?

Das zentrale Argument: Kinder, die in frühen Jahren Vertrauen, Resonanz und sichere Beziehungen erleben, entwickeln mit größerer Wahrscheinlichkeit ein demokratisches Selbstverständnis – sie sind weniger anfällig für autoritäre Verlockungen und populistische Vereinfachungen. Umgekehrt kann ein Mangel an emotionaler Sicherheit dazu führen, dass Menschen später nach einfachen Wahrheiten, klaren Hierarchien und harten Abgrenzungen verlangen. Demokratie, so die Autoren, ist nicht nur ein institutionelles Gerüst – sie ist auch ein emotionales Fundament, das in der Kindheit gelegt wird.

All das ist für viele vermutlich nicht völlig neu. Aber die Stärke des Buches liegt auch nicht im revolutionär Neuen, sondern in der Klarheit, Zugänglichkeit und Eindrücklichkeit, mit der dieses Thema aufgearbeitet wird. Wer sich bislang kaum mit den langfristigen Folgen frühkindlicher Erfahrungen beschäftigt hat, findet hier einen hervorragenden Einstieg. Und wer bereits mit diesen Themen vertraut ist, wird die Lektüre dennoch als bereichernd und bestätigend empfinden.
Sprachlich finden die Autoren eine leserfreundliche Mischung zwischen niederschwelliger Führung und wissenschaftlicher Seriosität – so, wie man sich das für ein allgemeinverständliches Sachbuch wünscht.

Am Ende steht ein sehr lesenswertes Buch, das nicht nur informiert, sondern motiviert und ermutigt. Es ist ein Plädoyer für eine Erziehungskultur, die mehr ist als Anpassung und Leistung – nämlich eine Schule der Demokratie, im besten Sinne des Wortes.

Einschränkend sei erwähnt, dass es inhaltlich eine doch sehr große Übereinstimmung mit dem Vorgänger-Buch von RENZ-POLSTER gibt: Wer dieses Buch (“Erziehung prägt Gesinnung“) kennt, kann sich das hier besprochene Buch sparen.
Im Vergleich hat es allerdings Verbesserungen in der Sprache und der Strukturierung gegeben.

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“Der Weg zur Freiheit” von Joseph STIGLITZ

Bewertung: 4 von 5.

Joseph STIGLITZ, vielfach ausgezeichneter Ökonom und langjähriger Kritiker neoliberaler Marktgläubigkeit, legt mit “Der Weg zur Freiheit” (The Road to Freedom) sein wohl grundlegendstes und persönlichstes Werk vor. Es liest sich wie ein Resümee seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit Wirtschaftssystemen – eine Art ökonomisches Testament. Der Titel ist programmatisch, denn STIGLITZ geht es um nicht weniger als die Rückeroberung des Freiheitsbegriffs. Dieser wurde seiner Ansicht nach zu lange und zu erfolgreich von marktradikalen, neoliberalen Kräften monopolisiert – als „Freiheit von“ statt „Freiheit zu“.

Das zentrale Argument zieht sich konsequent durch alle Kapitel: Freiheit bedeutet nicht Abwesenheit von Staat, sondern die Ermöglichung von Selbstbestimmung durch staatlich garantierte Rahmenbedingungen. Bildung, Gesundheitsversorgung, existenzsichernde Löhne, bezahlbarer Wohnraum, ein wirksames Wettbewerbsrecht und eine aktive Steuerung von (nachhaltigen) Zukunftsinvestitionen – das sind für STIGLITZ keine netten Zugaben, sondern Grundpfeiler einer Gesellschaft, in der Freiheit mehr ist als ein Schlagwort.

Er legt dar, wie in den USA durch Deregulierung, Steuererleichterungen für Reiche und den Abbau öffentlicher Infrastruktur über Jahrzehnte ein System entstanden ist, in dem sich wirtschaftliche und politische Macht gegenseitig verstärken – zum Nachteil der Mehrheit. Besonders drastisch schildert er den Einfluss von Großkonzernen und Superreichen auf Gesetzgebung, Medien und Justiz. Das Ergebnis: Ein wachsender Teil der Bevölkerung verliert nicht nur materielle Sicherheit, sondern auch jede reale Einflussmöglichkeit auf die Gestaltung ihres Lebens.

Seine Forderungen sind dabei ebenso konkret wie weitreichend. So spricht er sich für eine Vermögenssteuer aus, um die zunehmende Konzentration von Reichtum zu begrenzen. Er plädiert für die Stärkung von Gewerkschaften, da diese historisch erwiesenermaßen ein entscheidendes Korrektiv gegenüber Kapitalmacht darstellen. Auch ein öffentliches Gesundheitssystem nach dem Vorbild europäischer Länder wird als Voraussetzung für soziale Gerechtigkeit und ökonomische Produktivität dargestellt.

Immer wieder betont STIGLITZ, dass wirtschaftliche Freiheit für die Mehrheit nicht im Gegensatz zu staatlicher Regulierung steht – sondern ohne sie schlicht nicht existiert. Seine historische Perspektive ist dabei hilfreich: Er erinnert an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in der viele westliche Demokratien gezielt auf Sozialstaatlichkeit, Arbeitnehmerrechte und öffentliche Investitionen setzten – mit enormem ökonomischen Erfolg. Erst mit dem neoliberalen Rollback der 1980er-Jahre (durch Reagan und Thatcher, später auch durch Clinton, Blair und Schröder) sei diese Balance verloren gegangen. Was folgte, beschreibt STIGLITZals „Freiheit für die Märkte, aber nicht für die Menschen“.

Für die europäische Leserschaft – insbesondere aus Ländern mit einer Tradition der sozialen Marktwirtschaft – wirken manche Argumente fast banal. Es braucht keine große Überzeugungskraft, um etwa die Notwendigkeit progressiver Besteuerung oder einer aktiven Wohnungspolitik nachzuvollziehen. Das erklärt auch die vielleicht größte Schwäche des Buches: STIGLITZ argumentiert mitunter stark redundant, wiederholt Kerngedanken bis zum Überdruss und verliert sich in Details, die man hierzulande bereits als gesetzt ansehen könnte. Man merkt: Er schreibt für ein amerikanisches Publikum, das diese Selbstverständlichkeiten vielfach erst wieder (oder überhaupt) entdecken muss.

Und dennoch: Auch in Deutschland oder Europa ist der Rückzug des Staates, die Privatisierung öffentlicher Güter und die Ausweitung prekärer Beschäftigung Realität. Insofern ist die Lektüre keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Sie erinnert daran, dass Freiheit stets neu ausgehandelt werden muss – und dass die Sprache, in der wir über Wirtschaft sprechen, nicht neutral ist.

Der Weg zur Freiheit entfaltet das Bild eines Wirtschaftssystems, das in vielerlei Hinsicht an das Ideal der sozialen Marktwirtschaft anknüpft – erweitert um ökologische Nachhaltigkeit und globale Verantwortung. Es ist ein klar sozialdemokratisch inspiriertes Modell, das sowohl pragmatisch als auch normativ überzeugt. Wer sich für den Zusammenhang von ökonomischer Ordnung und gesellschaftlicher Freiheit interessiert, findet in diesem Buch eine gleichermaßen fundierte wie engagierte Analyse.

Stiglitz’ Buch ist damit nicht nur ein ökonomisches Argumentationsfundament gegen den Neoliberalismus, sondern auch ein Appell an die politische Urteilskraft. Es fordert dazu auf, die wirtschaftliche Ordnung nicht als Sachzwang zu akzeptieren, sondern als gestaltbares Gemeinwohlprojekt zu begreifen. Dass diese Einsicht – gerade in Zeiten globaler Krisen und zunehmender sozialer Polarisierung – alles andere als selbstverständlich ist, macht den Wert dieser Lektüre aus.
Von einem bereits überzeugten Publikum fordert das Lesen allerdings zwischenzeitlich eine fast unzumutbare Toleranz gegenüber Wiederholungen.

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“Sprachmaschinen” von Roberto SIMANOWSKI

Bewertung: 5 von 5.

Wenn man sich als relativ Technik-affiner Buchblogger einem aktuellen philosophischen Statement zur KI zuwendet, erwartet man eher eine herausfordernde Leseerfahrung: Liegt es doch – vermeintlich – recht nahe, dass hier mit viel geisteswissenschaftlichem Pathos auf eine kulturpessimistische Art und Weise pauschal gegen die Irrungen und Bedrohungen eines unverantwortlichen Technik-Wahns angekämpft wird.
Kurz gesagt: Man befürchtet eine große Portion Bedenkenträgertum, mindestens jedoch ausgewachsenen Skeptizismus.
Was Roberto SIMANOWSKI hier (im Oktober 2025) vorlegt, spielt allerdings in einer völlig anderen Liga! Mir scheint die Prognose vertretbar, dass hier ein Grundlagenwerk geschaffen wurde, das die gesellschaftliche Diskussion im Bereich der (sprachbezogenen) KI für längere Zeit prägen wird.

Zunächst überrascht der Begriff “Sprachmaschinen” – der ja keineswegs geläufig ist. Der Autor benutzt ihn, um seine Konzentration auf diesen bedeutsamen Teilbereich der Künstlichen Intelligenz zu dauerhaft und unübersehbar zu markieren. Gleichzeitig trägt dieser Begriff auch eine implizite Botschaft: Er erinnert permanent an die zentrale Rolle der Sprache für die Entwicklung der Kultur des Menschen, seiner Erkenntnismöglichkeiten und seines Selbstverständnisses; gleichzeitig verbindet der zweite Wortteil daran, dass die KI in der Entwicklungslinie aller früheren Werkzeuge steht. Genau in der – bis vor kurzem undenkbaren – Verbindung zwischen dem Kern des (geistig-bewussten) Menschseins und der (digitalen) Technologie liegt das revolutionäre Potential, das SIMANOWSKI in seinem Buch in einer bewundernswerten Gründlichkeit durchdringt.

Wer sich mit diesem Buch argumentativ gegen die gesellschaftliche Dominanz und den kulturellen und ökonomischen Machtanspruch des KI-Tsunamis wappnen will, geht in diesem Buch ganz sicher nicht leer aus. Im Gegenteil: Der Text ist prall gefüllt mit differenzierten, sachkundigen und didaktisch gut aufbereiteten Argumentationslinien, die Sand in das gut geölte Getriebe des KI-Hypes schütten können. Es erscheint kaum eine kritische Perspektive denkbar, die vom Autor übersehen wurde.
Allerdings wird hier keine Fastfood-Polemik geboten, die anstrengungslos in das nächste Pausengespräch eingebracht werden könnte. Ein Grund dafür liegt darin, dass SIMANOWSKI kein Eiferer ist, der nur wortreich einen technikbedingten Untergang des Abendlandes zelebrieren wollte. Der Autor zeigt nicht nur seine fachspezifische (philosophische) Fundierung, sondern erweist sich als fachkundiger Kenner relevanter politischer, soziologischer und technikreflexiver Texte bzw. Positionen.
So wie sich der Autor seine differenzierten Betrachtungen ganz offensichtlich gründlich erarbeitet hat, so verlangt auch das Lesen seiner Ausführungen eine gewisse konzentrative Disziplin. Als Belohnung winkt eine Erkenntniserweiterung, die über das Füttern bestimmter vorgegebener Pauschalurteile weit hinausgeht.

Im Zentrum der Analyse stehen Fragen, die der Autor selbst in seinem Ausblick-Kapitel so zusammenfasst:
“Wer spricht eigentlich, wenn die Sprachmaschine spricht? Was bedeutet es für Minderheitenpositionen, wenn die statistische Mehrheit das Sagen hat? Wer treibt der Sprachmaschine das inkorrekte Sprechen aus, zu dem die Statistik sie verführt? Mit welchem politischen Mandat? Wie kann der Mensch der Überredungskunst der Sprachmaschine widerstehen? Warum gibt es überhaupt Sprachmaschinen?”
Was deutlich wird: SIMANOWSKI geht ins Eingemachte. Er schaut sich die konkreten Prozesse und deren Vorgaben und Einbettungen an, sowohl von der technischen Logik, als auch bzgl. der zugrundeliegenden Wertungen und Machtstrukturen.
Dabei ist der Autor zwar unbeirrt kritisch, aber nie polemisch oder gar auf einem Auge blind.
Er will einfach sehr genau wissen (zu Ende denken), was es bedeutet – oder bedeuten könnte – wenn demnächst die von uns gelesenen und gefertigten Texte ganz überwiegend KI-generiert sind. Welche Kompetenzen würden uns verloren gehen? Welchen (zusätzlichen) Manipulationen wären wir ausgesetzt? Wie könnten oder sollten KIs mit kulturspezifischen Werten oder unterschiedlichen politischen Überzeugungen umgehen? Wird alles auf eine statistische Normalität hin nivelliert oder haben wir alle unsere optimal zugeschnittene ganz persönliche KI, die uns immer nach dem Munde denkt und spricht?
Manchmal wechselt SIMANOWSKI von der technologisch-konkreten Ebene auf philosophische Grundsatzfragen – und man findet sich plötzlich bei HEGEL oder KANT wieder. An der nächsten Ecke wartet HARARI oder man schaut eine Szene von “2001: Odyssee im Weltraum”. Langweilig wird es nie, auch nicht platt oder missionarisch.

Im Ausblick wird der Autor geradezu überraschend versöhnlich-optimistisch: Er macht sehr pragmatische Vorschläge hinsichtlich einer “Philosophischen Medienkompetenz”, die – natürlich – das aktive Umgehen mit den Sprachmaschinen beinhalten soll und muss.
SIMANOWSKI will diese modernsten und weitreichendsten Werkzeuge des Menschen weder verdammen noch verbannen; ganz offensichtlich sieht er auch deren Nutzen und Potential für sich und andere.
Wer sich demnächst über Grenzen und Risiken der Sprach-KIs sachkundig und niveauvoll äußern will, wird – so meine Überzeugung- an diesem Aufschlag von SIMANOWSKI kaum vorbeikommen.
Meine Konsequenz: Eines meiner nächsten Bücher wird “Sprachmaschinen” heißen! Ich werde das Buch mit Genuss noch einmal lesen – mit noch mehr Aufmerksamkeit für die Feinheiten…

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“Der gefrorene Fluss” von Ariel LAWHON

Bewertung: 4 von 5.

Die berührende Geschichte der Hebamme Martha Ballard beruht auf der Biografie einer historischen Person. Tatsächlich gibt es ein selbstgeführtes Tagebuch dieser außergewöhnlichen Frau, die am Ende des 18. Jahrhunderts im Nordosten der USA gelebt hat. Dieser Umstand verleiht diesem Buch der preisgekrönten amerikanischen Autorin Ariel LAWHON eine noch größere Authentizität, als es selbst ein gut recherchierter fiktiver historischer Roman vermocht hätte.

Es ist eine Hommage an einer wahrhaft starke Frau, eine Verneigung gegenüber dem Beruf der Hebamme und eine Würdigung einer außergewöhnlichen ehelichen Beziehung in einem extrem patriarchalischen Umfeld. Martha Ballard ist eine extrem kompetente Geburtshelferin, hat profunde Kenntnisse im Bereich der Naturmedizin und führt – gemeinsam mit ihrem Ehemann – einen Hof mit Holzwirtschaft und einer Mühle.
Dank der Initiative ihres bemerkenswert fortschrittlichen Gatten erwarb Martha als junge Ehefrau die Kulturtechniken; sie entwickelte sich zu einer mutigen und selbstbewussten Frau, die ihre Familie und ihren Beruf mit großer Hingabe, Gerechtigkeitssinn und Weltoffenheit managt.

Ihrem Status als Gesundheits-Fachkraft und als Vertrauensperson des weiblichen Geschlechts ist es zu verdanken, dass sie einerseits in die Erstuntersuchung einer im zugefrorenen Fluss gefundenen männlichen Leiche involviert wurde – und gleichzeitig in einen dramatischen Vergewaltigungsfall eingeweiht wurde.
Die facettenreiche Verbindung beider Verbrechen liefert den zentralen Handlungsstrang des Romans, an dem entlang wir das Leben von Martha und ihrer Familie ein knappes Jahr lang begleiten können.

LAWHONs (bzw. Marthas) Botschaften aus dieser extrem männerdominierten und gewaltvollen Zeit ist eindeutig: Sie macht auf die tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingewobene Unterdrückung der Frauen aufmerksam, prangert den Machtmissbrauch einzelner Funktionsträger und die mangelhafte Rechtssicherheit an.
Ohne solche engagierten und aufgeklärten Einzelpersonen wie Martha wäre das Alltagsleben für die – insbesondere weibliche – Durchschnittsbevölkerung noch deutlich schwerer und leidvoller.

Dass in einem Roman über eine solche Welt die Zuschreibungen von “gut” und “böse” extrem eindeutig ausfallen, überrascht vermutlich nicht. Man muss nicht, könnte es aber in diesem Zusammenhang als ein wenig klischeehaft empfinden, wenn es ausgerechnet der arrogante, akademisch gebildete, junge Arzt ist, dem gegenüber Martha ihre haushohe Überlegenheit in der Geburtskunde nachdrücklich unter Beweis stellt.
Tatsächlich gewinnt Martha in dem Text fast übermenschliche Kompetenz und Güte; eine einzige moralisch fragwürdige Entscheidung wird – natürlich – korrigiert. Sich als Leser/in mit dieser Protagonistin emotional zu identifizieren, fällt entsprechend leicht.

Das Motiv der ganzheitlichen Naturverbundenheit dieser “weisen” Frau findet sich nicht nur in der liebevollen und empathischen Beziehung zu einer Reihe von (meist jungen) Patientinnen und ihren Neugeborenen. Als Zeichen für diese – sicher nicht zufällig eher weiblichen – Haltung dient auch der besondere Draht zu ihrem Pferd und der fast mystische Kontakt zu einer Füchsin, die in entscheidenden Momenten der Story eine Rolle spielt.

Das Zielpublikum für diesen Roman ist leicht zu beschreiben: Er durfte insbesondere mit dem Zuspruch von Leserinnen rechnen, die das Eintauchen in historische Konstellationen lieben und sich in einem solchen Setting auch gerne emotional ansprechen lassen. Eine Frau wie die Hebamme Martha Ballard bietet sich als geradezu perfekte Identifikationsfigur für weibliche Selbstermächtigung an. Dabei ist positiv zu vermerken, dass die Betonung der Naturnähe nicht auf eindeutig esoterische Abwege führt. Auch die Tatsache, dass es eine rundum positive Männerfigur gibt, verschafft dem Roman eine angenehme Differenziertheit.

Ohne Zweifel bietet der Roman von Ariel LAWHON – natürlich auch männlichen Lesern – einen anregenden und informativen Einblick in eine Epoche, in der es in der “neuen Welt” noch geradezu heldenhaften Einsatz und Mut bedeutete, sich als Frau in einer reinen Männergesellschaft Gehör zu verschaffen und für die Rechte von Frauen einzutreten.
Irritierend sollte dabei der Umstand sein, dass es heute immer noch beträchtliche Bereiche dieses Planeten gibt, in denen für Frauen Abhängigkeits- und Unterdrückungsverhältnisse die alternativlose Realität darstellen.

Ach ja: Unterhaltsam und spannend erzählt ist die Geschichte von Martha auch!
In einem Nachwort erklärt die Autorin dankenswerter Weise den historischen Background und die fiktionale Abweichung vom Ursprungstext.

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“Inferno” von Dan BROWN

Bewertung: 3.5 von 5.

Ich habe jetzt drei Bände der Robert-Langdon-Serie in umgekehrter Reihenfolge gelesen, also vom aktuellen (“The Secret of Secrets“) über “Origin” (2018) zu dem hier besprochenen Inferno (von 2014). Wie alle – und es sind viele – Fans von Dan BROWN seit “Illuminati” wissen, weicht der Autor von seinem bewährten und erfolgreichen Strickmuster nicht mehr ab: Es gibt ein bis drei große Themen (so was wie Religion, alte Weisheiten oder menschliches Bewusstsein), eine verzwickte Reise zu Schauplätzen der Kunst- und Architekturgeschichte und die dringende Notwendigkeit einige verschlungene Rätsel zu lösen, um irgendein extrem wichtiges Problem zu lösen.
Zum Glück ist der Kulturhistoriker Robert Langdon stets zur Stelle, um mit Hilfe seines schier grenzenlosen Wissens und seines eidetischen Gedächtnisses die entscheidenden Hinweise zu entschlüsseln.
Das Ganze führt zu teils atemberaubenden Jagden, die – natürlich – in gnadenlosem Wettbewerb gegen übelwollenden Mitstreitern verlaufen.
Als Leser/in kann man sich diesen kunstvollen Spannungsbogen mit dem Gefühl ausliefern, jeweils gleich eine doppelte Portion Wissen zu tanken: über den Gegenstand der Story und über die Schauplätze. Man hat es also mit “Bildungs-Thrillern” zu tun.
Wie schön, dass die Bösewichter dieser Welt so ein skurriles Vergnügen daran haben, die Hintergründe ihrer Taten so super-intelligent zu verschlüsseln: als ob sie Herrn Langdon eine Freue machen wollten….

In “Inferno” geht es um die Gegenwartsprobleme “Überbevölkerung” und “Transhumanismus”. Kulturhistorisch geht es um Dante, diverse Darstellungen der Hölle und einige spektakuläre Locations in Florenz, Venedig und Istanbul:
Was will man mehr…

Ich interessiere mich speziell dafür, welche Positionen ein weltbekannter Autor für die von ihm gewählten Themen hat: Ob er sich wohl traut, sich vom gefälligen Mainstream zu entfernen, oder verfolgt er gar eine aufklärerische Mission?
Ich diesem Punkt war ich bei den oben erwähnten aktuelleren Werken ein wenig enttäuscht. Im Inferno zeigt BROWN vergleichsweise klare Kante: Er zeigt eine gewisse Offenheit und Sympathie sowohl für drastische Formen der Bevölkerungskontrolle, als auch für die Grundidee des Transhumanismus – also bzg. der Idee, dass der Mensch das Recht (oder gar die Pflicht) haben könnte, selbst mit biotechnischen oder digitalen Maßnahmen in die Evolution einzugreifen.
Durchaus bemerkenswert!

Ansonsten muss man schon einige Toleranz für die Kurven und Schleifen aufbringen, in denen BROWN uns – geleitet durch den Historiker-Held – durch die – insbesondere kirchlich geprägte – Kunstgeschichte der Renaissance hetzt. Es wirkt stellenweise doch ein wenig überladen, des Bildungsbürger-Trainings zu viel…

Die erwartbaren Spannungsbogen funktionieren zuverlässig; die ein oder andere überraschende Wendung ist eingebaut: So funktioniert das Markenzeichen “Dan BROWN”.
Ich habe die Lese-Zeitreise letztlich nicht bereut; jetzt ist aber auch genug. Mehr desselben ist nicht mehr nötig!

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“Der neue Wohlstand” von Ezra KLEIN und Derek THOMPSON

Bewertung: 4 von 5.

Dieses amerikanischer Buch könnte so etwas wie die Betriebsanleitung für eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der “vernünftigen Mitte” sein. Hier wird eine Perspektive vorgestellt, die von den realpolitischen GRÜNEN bis in die – noch von Populismus freien – Teile der UNION reichen könnte: pragmatisch, anschlussfähig, nachhaltig, zukunftsfähig, weitgehend unideologisch.
Das Ganze erinnert ein wenig an die positiven Visionen in der Startphase der Ampelkoalition: an den Versuch, Aufbruchstimmung und (digitale, mentale und ökologische) Transformation mit wirtschaftlicher Effizienz und Wohlstandsversprechen zu verbinden.

Das Autorenpaar nimmt in seiner Betrachtung nach und nach die Faktoren unter die Lupe, die – ihrer gut begründeten Einschätzung nach – für Fehlentwicklungen bzw. für die Verhinderung dringend notwendiger Veränderungsschritte verantwortlich sind:
– Selbst geschaffte Knappheiten (u.a. durch zu viel Regulierungen und Konzentration auf Verteilung, statt auf Erhöhung des Outputs)
– Trägheit von Systemen und Prozessen
– mangelnde Prioritätensetzung und Schwächen bei der Umsetzung von Projekten (bürokratischer Perfektionismus statt pragmatischer Kompromisse)
– ineffiziente Zuständigkeiten und fragmentierte Entscheidungsprozesse
– Selbstbeschränkung aus Angst vor Kritik und Widerständen
– ideologisch motivierte Ablehnung einer staatlich gelenkten zukunftsbezogenen Forschungs- und Innovationspolitik
– Leugnung und Bagatellisierung der objektiven Veränderungsnotwendigkeiten (insbesondere bzgl. Klimawandel)

Was schnell deutlich wird: Die Autoren halten nichts von einer Abkehr von der Wachstumslogik! Sie wollen intelligenten, effizienten Wohlstand für möglichst alle; aber unter stärkerer Berücksichtigung der ökologischen und sozialen Notwendigkeiten.
Auf Deutschland übertragen: Sie nehmen beiden politischen Lagern etwas weg!
Den ökologischen Aktivisten entreißen sie alle Gedanken an “Degrowth”, also an die Abkehr vom Wachstum (“unrealistisch, nicht durchsetzbar”); ebenso den Anspruch, auch die letzte Kröte noch vor Infrastrukturprojekten zu retten. Den neoliberalen Marktfetischisten schlagen KLEIN und THOMPSON alle Argumente aus der Hand, die gegen eine politische Steuerung in Richtung notwendiger Innovationen ins Feld geführt werden: Der Markt alleine kann und wird es nicht richten!

Klingt alles irgendwie ausgewogen und vernünftig. Man könnte es sich sogar als deutsche Realpolitik vorstellen (wenn zufällig die GRÜNEN statt der CSU in der Regierungskoalition gelandet wären). Es bleibt aber die grundsätzliche Frage offen, ob nicht auch ein solches GRÜNES Wachstum eine Mogelpackung mit begrenzter Laufzeit ist.
Die Autoren haben im Grundsatz ein zwar aufgeklärtes und modernes, aber letztlich doch technokratisch-optimistisches Weltbild. Echte planetarische Grenzen (z.B. bei Ressourcen) kommen nicht vor, prinzipielle Veränderungen im menschlichen Mindset sind nicht vorgesehen – weil sie nicht notwendig und/oder unrealistisch erscheinen. Weder ein wirklich alternatives Wohlstandskonzept, noch grundlegende Gerechtigkeits- bzw. Gemeinwohlperspektiven bekommen einen angemessenen Raum.

Der Entwurf von KLEIN und THOMPSON stellt ohne Zweifel einen Fortschritt gegenüber der momentan festgefahrenen Situation dar und würde u.a. den erschreckenden Rückschritt in der Klima- und Umweltpolitik überwinden helfen.
Der Text hat stellenweise recht enge Bezüge zur amerikanischen (politischen und ökonomischen) Situation, sind seine Schlussfolgerungen und Anregungen aber durchweg auch für europäische Verhältnisse relevant.
Auch wenn die Schlussfolgerungen aus ökologischer Sicht in wesentlichen Punkten nicht mutig und konsequent genug ausfallen, wäre es ein Gewinn, wenn alle Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft sich wenigstens schonmal auf diese Basis einigen könnten.
Eine kluge und anregende Diskussionsgrundlage bietet das Buch allemal.

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“Umlaufbahnen” von Samantha HARVEY

Bewertung: 4 von 5.

Ein bemerkenswertes Buch, das auf einer sehr kreativen und emotional anschlussfähigen Grundidee fußt: Eine Gruppe von Astronauten (beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft) umrundet in der internationalen Raumstation viele Male unseren Planeten auf jeweils leicht verschobenen Bahnen.
Geschildert wird – dicht verwoben in einem Erzählteppich – sowohl der soziale und wissenschaftliche Alltag der Crew, als auch persönliche Reflexionen der Beteiligten. Diese Betrachtungen aus der Innenwelt beziehen sich wiederum einerseits auf die Wahrnehmung und das Erleben der spektakulären Aussicht auf die wechselvollen Tag- und Nachtperspektiven. Darüber hinaus entstehen aus den jeweiligen geografischen Verortungen der Beteiligten Einblicke in die individuellen Lebenssituationen – auch hinsichtlich der biografischen Wurzeln und bedeutsamer Angehöriger, die dort “unten” warten, lieben oder sterben.

Die Umlaufbahnen strukturieren nicht nur das Leben und Arbeiten der Astronauten, sondern auch den inneren Rhythmus dieses Textes. Alles ist eingebettet in und wird getragen von den Bahnen, die – aufgrund der Eigengeschwindigkeit des künstlichen Trabanten – in dem künstlich beibehaltenen 24-Stunden-Ablauf insgesamt 16 Wechsel zwischen Tag und Nacht umfassen.
Dieses beeindruckende Schauspiel wird immer wieder sprachgewaltig beschrieben, in immer wieder neuen Facetten und Nuancen. Gelegentlich spürt man die Grenze zur Redundanz – das bleiben aber kurze Momente. Eine zentrale Rolle spielt dabei auch ein mächtiger Sturm, der aus der Außen- und Innenperspektive beschrieben wird.

Die studierte englische Philosophin hat einen tiefgründiger Text verfasst, voller menschlicher Perspektiven und emotionaler Intensitäten. Es sind keine programmierten Automaten, sondern fühlende Wesen, die dort auf engstem Raum in einem Gemisch aus individueller und gemeinschaftlicher Identität ihren extrem ungewöhnlichen Alltag teilen. Sie sind sich einerseits ihrem Ausnahmestatus bewusst und müssen doch auch die banalsten Routinen bewältigen. Sie befinden sich in einer extremen Außenposition und fühlen sich doch aufs Intensivste mit der biologischen und sozialen Heimat verbunden – vielleicht mehr als jemals zuvor. Gleichzeitig sind sie damit konfrontiert, dass eine parallele Mondmission ihre so besondere Situation zu relativieren droht.
HARVEY hat aus dieser einzigartigen Konstellation ein einfühlsames und anrührendes Leseerlebnis gebastelt – Umlaufbahn für Umlaufbahn…

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“Origin” von Dan BROWN

Bewertung: 3.5 von 5.

Vorweg eine wichtige Information: Das Buch stammt aus dem Jahre 2017, diese Rezension aus 2025. Das ist deshalb so bedeutsam, weil eines der beiden thematischen Schwerpunkte des Romans sich um die Möglichkeiten eines futuristischen KI-Systems – heute würde man es Chat-Bot nennen – dreht. Da es wohl kaum in einem anderen Bereich in den letzten Jahren vergleichbare Innovationssprünge gegeben hat, stellt sich die utopische Perspektive von “damals” jetzt eher als weitsichtige und ziemlich realistische Vorhersage dar: So schnell können sich Zeiten ändern…
Doch es es geht daneben auch um ein wahrlich zeitloses Thema – nämlich um die Frage, ob die wissenschaftlichen Erkenntnisse und das darauf fußende rationale Weltbild inzwischen die Kraft entfalten, traditionelle religiöse Glaubensvorstellungen endgültig zu verdrängen.
Dan BROWN leidet also ganz offensichtlich nicht unter ausgeprägter Bescheidenheit: Die ganz großen Fragen sind für ihn gerade richtig!

Der Plot spielt in Spanien – insbesondere an zwei besonders spektakulären Orten: im Guggenheim-Museum von Bilbao und in der Sagrada Familia in Barcelona. Es geht aber auch um das spanische Königshaus und eine fundamental-katholische Gruppierung.
Getragen wird die Handlung von zwei Hauptpersonen, dem Geschichtsprofessor Robert Langdon und der Leiterin des Guggenheim-Museums (die passender Weise gleichzeitig mit dem Thronfolger des schwerkranken spanischen Monarchen verlobt ist). Langdon ist mit dem schwerreichen Zukunftsforscher Edmond Kirsch befreundet, den die Mission antreibt, die Menschheit aus den Fesseln des religiösen (Aber-)Glaubens zu befreien.
Eine weitergehende Schilderung der Handlung verbietet sich aus naheliebenden Gründen…

Man bekommt eine Menge Stoff geboten, auf diesen (ursprünglich) 670 Seiten: spanische Geschichte, das künstlerische Schaffen von Gaudi, innerkatholische Machtspiele, die Grundlagen des modernen, wissenschaftlich begründeten Atheismus, ein Ausblick auf (inzwischen weitgehend erfüllte) KI-Visionen und Computer-Technologie.
Natürlich gibt es auch jede Menge menschliche Konflikte und Intrigen, aus denen sich dann die bekannten Spannungsbogen basteln lassen. Dan BROWN weiß bekanntlich, wie so etwas funktioniert.

Je nach persönlichem Wertesystem der Leserschaft wartet am Ende des Romans eine beruhigende oder enttäuschende Überraschung: Während der Autor nämlich über weite Strecken der Handlung den Eindruck entstehen lässt, dass er der ausführlich geschilderten (und gut begründeten) rational-empirischen Weltsicht nahesteht, verlässt ihn am Ende wohl der Mut. Besonders stichhaltig erscheint das nicht – vermutlich wollte sich BROWN sich nicht zu weit vom gemäßigten Mainstream entfernen. Schade!

Wer sich gerne durch die skizzierten Themenbereiche in Form einer – nicht ganz Klischee-freien – Thrillerhandlung (zum Glück ohne massive Brutalität) führen lassen möchte, kann hier ohne Bedenken zugreifen. BROWN liefert auf jeden Fall mehr als belanglose Krimi-Unterhaltung.

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“The Secret of Secrets” von Dan BROWN

Bewertung: 3.5 von 5.

Wenn einer der weltweit erfolgreichsten Thriller-Autoren auf das Geheimnis aller Geheimnisse stößt, dann muss es schon um etwas Fundamentales gehen.
Das menschliche Bewusstsein, seine Beschaffenheit, seine Grenzen und seine – eventuelle – Beständigkeit bietet sich da ohne Zweifel an.

Der Autor schickt seine bewährte Zentralfigur (den Symbolforscher Robert Langdon) zusammen mit der aktuellen Protagonistin (der Neurowissenschaftlerin Katherine Solomon) auf einen irrwitzige 24-stündigen Parforceritt durch das geschichtsträchtige Prag der Gegenwart. Der extreme Kontrast zwischen den historischen Schauplätzen und Mythen auf der einen – und modernster Bewusstseinsforschung auf der anderen Seite -schafft eine der Grundlagen für die Dynamik des Plots.

Es geht vordergründig um ein Buch-Manuskript, für das sich auch die CIA interessiert. Der Grund dafür tritt ausgerechnet in dem Moment an die Oberfläche, an dem sich die Autorin an dem Ort eines geheimen und problematischen Forschungsprojektes aufhält.
In die sich überstürzenden Ereignisse sind auch die US-Botschafterin und einige ihrer Mitarbeiter verwickelt. Auch die Opfer einiger Experimente lernen wir kennen, ebenso den örtlich zuständigen Geheimdienst.
Man kann sich bei Thriller-Profi BROWN darauf verlassen, dass die diversen Handlungsstränge kunstvoll miteinander verwoben werden…

Kommen wir also zum Geheimnis selbst: Letztlich stellt der Roman die sehr grundlegende Frage, ob es ausreichende Anhaltspunkte dafür geben könnte, die bisherigen neurowissenschaftlichen Konzepte und Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen unseren Gehirnfunktionen und unserem Ich-Bewusstsein in Frage zu stellen.
Katherine, die ihr Forschungsinteresse zunehmend den Randphänomenen (Nahtoderfahrungen, Parapsychologie, Präkognitionen, Dissoziationsstörungen, usw.) gewidmet hat, zieht sehr weitgehende Schlussfolgerungen, die den wissenschaftlichen Mainstream weit hinter sich lassen (so vermutet sie den Sitz des Bewusstseins außerhalb unserer Gehirne).

Dan BROWN nimmt auch in diesem Roman für sich in Anspruch, sich mit seiner Story dicht an der realen Faktenlage (dem aktuellen Forschungsstand) entlang zu hangeln. Das lässt sich über weite Strecken auch nachvollziehen.
Und doch ist eine Parteinahme für die spekulativen, letztlich auch mystisch-esoterischen Hypothesen deutlich spürbar: Sie zeigt sich in der zunehmenden Überzeugung des zunächst skeptischen Robert, dass Katherine mit ihrer alternativen Weltsicht auf der richtigen Spur ist.

So stellt sich in der Gesamtbewertung die Frage, was bei einem auf spannende Unterhaltung angelegten Roman in das Urteil einfließen sollte.
Wenn ein Sachthema eine so zentrale Rolle spielt wie in diesem Roman und die etablierte Wissenschaft in der Darstellung immer stärker ins Hintertreffen gerät, kann das m.E. nicht übergangen werden. Tatsächlich wird in diesem Buch der Eindruck erweckt, als ob die etablierte Neurowissenschaft – trotz massiver gegenteiliger Belege – mehr oder weniger krampfhaft an Konzepten festhalten würde, die schon längst widerlegt worden wären.
Dabei werden reale neurophysiologische Erkenntnisse (z.B. über die Wirkung bestimmter Botenstoffe) so raffiniert mit extrem spekulativen Konzepten vermischt, dass eine fachlich unkundige Leserschaft keine Chance hat, den Übergang zu erkennen.
Hier könnte man mit gutem Grund die Grenze zur Manipulation als überschritten sehen.

Der Erfolg dieses Romans ist gesichert – die Qualitäten des Autors als Erzähler historisch eingebetteter Spannungsgeschichten steht ja außer Zweifel. Wie man hört, sind die Filmrechte schon vergeben.
Es erscheint daher um so bedauerlicher, dass sich BROWN in einer so grundlegenden Frage eher wissenschafts-skeptisch positioniert und die Nähe zu esoterischen Weltsichten in kauf nimmt.

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“Wie wir werden, wer wir sind” von Joachim BAUER

Bewertung: 3.5 von 5.

Das Buch hat bei mir widersprüchliche Reaktionen ausgelöst. Das liegt daran, dass es gleichzeitig informativ und wichtig ist, auf der anderen Seite aber auch etwas irritiert.

Die Zielsetzung des Autors ist nicht nur lohnenswert, sondern wird mit diesem Schachbuch auch tatsächlich auch eingelöst: Dem Mediziner, Neurowissenschaftler und Psychotherapeut BAUER, der sowohl praktisch als auch in der Lehre in prägenden Funktionen tätig war, gelingt es ohne Zweifel hervorragend, einem interessierten Laienpublikum die existentielle Bedeutung sozialer Interaktion als Grundlage für die menschliche Selbst-Entwicklung zu vermitteln.
Er tut dies in einer gut verständlichen Sprache, in der gleichzeitig detaillierte Information und die Botschaft des Autors Raum finden. BAUER hat ein Buch verfasst, das sich an ein breiteres Sachbuchpublikum wendet, ohne sich aber eines typisch wissenschaftsjournalistischen Schreibstils zu bedienen.

BAUER analysiert und schildert die die Prozesse von Spiegelung, Resonanz, feinfühliger Begleitung und externer Regulation von Erregung und Emotion auf der einen Seite mit einer bemerkenswerten wissenschaftlichen Akribie. Er zeigt sich dabei aber keineswegs als neutraler Beobachter bzw. Protokollant der komplexen Interaktion zwischen Säugling/Kelinkind und seinen Bezugspersonen. Vielmehr wird – gefühlt – in jedem zweiten Satz deutlich, welche Bedeutung dieses Geschehen für den Autor auch ganz persönlich hat: Er scheint geradezu erfüllt zu sein von diesem Geschehen; man spürt das die Vermittlung seiner Erkenntnisse für ihn den Charakter einer Mission hat.
Die grundlegenden Prozesse werden dabei – durchaus wortgewandt und plastisch – so häufig dargestellt, dass sich alsbald eine gewisse Redundanz einstellt.

Eine Spur “Überengagement” wird auch in der Tendenz zu gefühlsgeladenen Formulierungen deutlich. Die Abgrenzung zu theoretischen oder therapeutischen Ansätzen, die der Autor als nicht kindzentriert genug beurteilt, fällt extrem harsch aus.
(So wird dem – eindeutig humanistisch orientierten – Evolutionsforscher DAWKINS gleich eine Neigung zur schwarzen Pädagogik unterstellt, nur weil dieser von “egoistischen” Motiven bei kleinen Kindern spricht).

Problematischer ist jedoch ein anderer Punkt: Während die von BAUER benutzte zentrale Begrifflichkeit von dem “Selbst” bzw. dem “Selbstsystem” zunächst als hilfreich für das Verständnis erlebt werden kann, bekommt diese Bezeichnung im Laufe des Textes ein deutlich überzogenes Eigenleben. BAUER formuliert immer wieder so, als ob dieses “Selbst” eine irgendwie selbständige Instanz wäre, die mit anderen Bereichen des Körpers und des Gehirns in einem Austausch stände. Diese Sichtweise erinnert ein wenig an die psychoanalytischen Konzepte vom ES oder ÜBER-ICH, bei denen oft vergessen wurde, dass es sich nicht um reale Entitäten, sondern um sprachliche Konzepte bzw. Metaphern handelte. Vermutlich ist es in diesem Zusammenhang kein Zufall, dass BAUER tatsächlich auch psychodynamisch ausgebildet ist.

So ergibt sich insgesamt ein etwas zwiespältiges Bild: Da ist auf der einen Seite ein überzeugendes Buch, das auf der Basis zahlreicher wissenschaftlicher Belege und mit großem und authentischen Engagement dafür wirbt, Kindern in den ersten Lebensjahren genau die intensiven und feinfühligen sozialen Erfahrungen zu ermöglichen, die diese für die Entwicklung einer gesunden, gemeinschaftsfähigen und selbstbewussten Persönlichkeit existenziell benötigen.
Und da gibt es die Stellen, in der der Autor über das Ziel hinausschießt und Gegner dort sieht, wo es vielleicht nur um ergänzende Perspektiven geht. Und BAUER ist so identifiziert mit seiner sozialen Selbst-Theorie, dass er letztlich sein neurowissenschaftliches Basiswissen aus den Augen verliert: Das Selbst ist nämlich kein eigenständiger Akteur, der irgendwie mit eigener Motivation auf das Gehirn einwirken könnte. Das Selbst ist ein unscharfer Begriff für bestimmte Funktionen und Prozesse, die durch die kombinierte Aktivierung bestimmter neuronaler Netzwerke in bestimmten Hirnarealen gebildet wird.
Man kann das natürlich sprachlich vereinfachen, und muss das vermutlich auch. Nur sollte man zumindest einmal auf diesen Umstand hinweisen.

Unabhängig von dieser kleinen Einschränkung: Die Botschaft des Buches ist wichtig – und sie kommt an!

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