“Im Spiegel des Kosmos” von Neil de Grasse TYSON

Bewertung: 3.5 von 5.

Die Kernbotschaft des amerikanischen Astrophysikers TYSON ist eindeutig und nachvollziehbar: Eine an Rationalität und Naturwissenschaft orientierte Herangehensweise an die Menschheitsprobleme ist besser als alle Alternativen geeignet, zu einer gemeinsamen Sichtweise und zu wirksamen Lösungen zu kommen.

Als Fan der Raumfahrt und der Kosmologie nutzt der Autor für die Vermittlung einen durchaus beliebten Perspektivwechsel: Die Außensicht aus dem Weltall – gerne noch personalisiert in Form von knuffigen Aliens oder einer interstellaren KI – sollte den in ihren banalen und engstirnigen Denkweisen verstrickten Erdbewohnern ihre Beschränktheit vor Augen führen und so neue Horizonte und Entscheidungsoptionen eröffnen.

TYSON traut sich was zu; es sind die großen Themen, die ihn umtreiben: Er teilt uns seine Einsichten über Krieg, Politik, Religion, Wahrheit, Schönheit, Geschlecht und Rasse mit und sieht seinen Bezugspunkt jeweils in den Methoden und Werkzeugen der Wissenschaft – und deren Output: objektive und überprüfbare Daten!

Ob dieses Sachbuch zu einem Leser oder einer Leserin passt, entscheidet sich aber wohl eher am Schreibstil als am Inhalt.
Tysons Stil ist ein eher persönlicher. Er plaudert eher, als dass er einen streng-strukturierten Argumentationslinie folgt. Er bringt sich, seine Person und seine Laufbahn, gerne ins Spiel. Überhaupt gewinnt man zunehmend den Eindruck, das hier ein von sich selbst überzeugter und vielleicht auch ein wenig selbstverliebter Autor am Werke war.

Das führt auch dazu, dass es manchmal fließende Übergänge gibt zwischen der “objektiven” Befundlage und dem individuellen Weltbild von TYSON: So irritiert zunächst der längere Exkurs in die mögliche “Empfindungsfähigkeit” von Pflanzen – bis dann klar wird, dass der Autor seine (so gar nicht wissenschaftlich zu begründende) Freude am Fleischkonsum damit rechtfertigt, dass ja auch unsere pflanzliche Ernährung vielleicht “Leid” erzeuge.

Es liest sich durchaus erfrischend, die ein oder andere Absurdität menschlicher Verhaltensweisen und Gewohnheiten durch den Spiegel einer Außenperspektive zu entlarven. Als Lesender profitiert man ohne Zweifel von dem Kaleidoskop von Einzelperspektiven, die TYSONs Suchscheinwerfer auf die Welt, ihre Schönheit und ihre Geheimnisse richten. Wir profitieren von den Erfahrungen und Erkenntnissen einer intensiv gelebten und von Erfolgen und Anerkennung gekrönten Wissenschaftler-Biografie.
Ob man mit der “Schattenseite” – einer recht üppig geratenen Selbstüberzeugtheit und einer Tendenz zum Anekdotischen – zurechtkommt, ist wohl nur individuell zu beantworten.

“Alles überall auf einmal” von Miriam MECKEL und Léa STEINACKER

Bewertung: 5 von 5.

KI (Künstliche Intelligenz) ist das aktuelle Mega-Thema und ein riesiger Markt; das wirkt sich auch auf die Anzahl der Veröffentlichungen zu diesem Thema aus. Es wäre daher nicht unwahrscheinlich, wenn sich eine ganze Flut von mehr oder weniger oberflächlichen, mit heißer Nadel gestrickten und damit austauschbaren Publikationen in die Buchläden ergießen würden.
Das hier besprochenen Sachbuch spielt allerdings in einer völlig anderen Liga: Hier wird ein Standard gesetzt für die Durchdringung und Aufbereitung des Themas, an dem man sich – zumindest in der nächsten Zeit – zweifellos messen lassen muss.

Die Kommunikationswissenschaftlerin MECKEL und die Sozialwissenschaftlerin/Journalistin STEINACKER heben sich auf eine wohltuende und souveräne Art sowohl von den Technik-Enthusiasten, als auch von den Weltuntergangs-Mahnern ab. Mit einem weit gefassten Blick, jeder Menge Sachkenntnis und einem bemerkenswerten Gespür für stilistisch ansprechende Darstellung wird nicht nur umfassend informiert, sondern auch – gut begründete – Einordnungen und Bewertungen vorgenommen.

Es ist wirklich erstaunlich, dass es in einem, in diesem Buch gelingt, sowohl die Geschichte der KI zu skizzieren, die Grundmechanismen der aktuell so aufsehenerregenden “großen Sprachmodelle” zu erklären, ein Gefühl für die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die gesellschaftliche Bedeutung zu vermitteln – und differenziert über die Notwendigkeiten und Möglichkeiten einer Regulierung der disruptiven Technologien aufzuklären.
Und irgendwie ist das alles verständlich und nachvollziehbar. Respekt!

Die Autorinnen nehmen sich Zeit für die kritischen Aspekte der KI-Revolution. Dabei geht es ihnen weniger um die Befürchtungen bzgl. einer Machtübernahme der digitalen Maschinen (einschließlich der dann offenbar anstehenden Vernichtung der Menschheit). MECKEL und STEINACKER machen deutlich, dass wir ja längst im Zeitalter der KI leben und deshalb gut beraten sind, uns mit den bereits beobachtbaren Auswirkungen zu befassen.
Auf praktischer Ebene betrifft das nicht nur – bereits sattsam diskutierten – Konsequenzen der Algorithmen unserer Social-Media-Kanäle, sondern auch die inhaltlichen Schwächen in den generierten Texten der neuen Sprachwunderwerke. Damit sind nicht nur sachliche Fehler (z.B. “Halluzinationen”) gemeint, sondern auch die “Verzerrungen” in der Darstellung, die auf eine einseitige Auswahl des Trainings-Datenmaterials zurückzuführen sind (die Welt der “weißen Männer” ist überrepräsentiert).
Dabei wäre durchaus kontrovers zu diskutieren (auch das wird angedeutet), ob man es den KI-Systemen wirklich anlasten darf (sollte), wenn sie gesellschaftliche Wirklichkeiten abbilden (statt vorgegebenen “woken” Prinzipien zu dienen).

Mit welcher Tiefe die unterschiedlichen Aspekte abgehandelt werden, mögen zwei Beispiele demonstrieren:
So machen die Autorinnen darauf aufmerksam, dass das Trainingsmaterial (das frei verfügbare Internet) durchaus endlich ist. Mittel- und langfristig ist davon auszugehen, dass die zukünftigen Systeme immer weniger hochwertiges (genuin menschengemachte) Daten vorfinden, sondern immer stärker auf bereits durch KI bearbeitete Texte zurückgreifen müssen. Hier droht ein Qualitätsverslust.
MECKEL und STEINACKER lassen es sich auch nicht nehmen, sich mit den Konsequenzen der KI-Zukunft auf das Selbstbild des Menschen zu befassen; damit bekommen die sowieso schon breit gefächerten Perspektiven noch einen philosophischen Touch.

Dieses Buch ist uneingeschränkt für alle diejenigen zu empfehlen, die mit einem soliden Rüstzeug und einem gut geeichten inneren Kompass in das Zeitalter der KI eintreten möchten. Die hier angesprochenen Themen und die ‘Art ihrer Diskussion haben durchweg grundsätzlichen Charakter und sind ganz sicher auch dann noch relevant, wenn die aktuelle Spitzen-Technologie nicht mehr GPT4 sondern GPT8 oder 10 heißt.
So etwas wie Enttäuschung könnten eigentlich nur ausgesprochene Technik-Freaks empfinden – aber die greifen ganz sicher auf andere Quellen zurück.

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“Kapitalismus ohne Demokratie” von Quinn SLOBODIAN

Bewertung: 4 von 5.

Der kanadische Historiker SLOBODIAN nimmt in diesem politischen Sachbuch eine Facette des kapitalistischen Wirtschaftsmodells unter die Lupe, die in der öffentlichen Diskussion eher im Hintergrund steht. Für die Leserschaft dieser Publikation wird sich das ganz sicher sehr grundsätzlich ändern.

Der Autor nimmt uns mit auf eine spannende Reise durch die Zeit- und Wirtschaftsgeschichte der letzten ca. 40 Jahre. Sein Navi hat eine klare Voreinstellung: Er sucht (und findet) Orte, in denen sich der Kapitalismus möglichst ungestört und ungehemmt entwickeln (man könnte auch sagen “austoben”) sollte (und meist auch konnte). SLOBODIAN schaut dabei sehr genau hin: Wenn er über Honkong, Singapur, London, Südafrika, Lichtenstein, Dubai und viele andere Sonderwirtschaftszonen und Steuerparadiese schreibt, erfahren wir viel über die beteiligten politischen Kräfte und die zugrundeliegenden Wirtschafts-Theorien und deren ideologischen Ideengeber.

Beeindruckend und überraschend ist dabei weniger die Tatsache, dass Investoren und Befürworter eines radikalen Neo-Liberalismus von bestimmten “wirtschaftsfreundlichen” Rahmenbedingungen geradezu magisch angezogen werden. Überraschend und erschreckend ist allerdings die Unverblümtheit und Selbstgewissheit, mit der das Primat der Gewinnmaximierung gegenüber allen anderen gesellschaftlichen und politischen Werten und Zielen vertreten wird.
Kenntnisreich und akribisch verfolgt der Autor die Spur der Markt-Radikalen im Unternehmertum, in der Wirtschaftswissenschaft und der (insbesondere britischen, amerikanischen und chinesischen) Politik. Er führt uns bis in die – gar nicht so kleine – Welt der “Anarcho-Kapitalisten”, die ganz offen dafür werben, nicht nur die Demokratie, sondern gleich den ganzen Staat abzuschaffen und durch private Organisationen zu ersetzen. Ein Ziel dieser Leute ist es, möglichst viele selbständige und konkurrierende (staatliche bzw. ausgegliederte) Einheiten zu schaffen, um den Einfluss gesellschaftlicher Kräfte möglichst niedrig zu halten.
Dieser Blick auf die “Urkräfte” eines ungezügelten kapitalistischen Denkens betrifft keineswegs eine kleine Schmuddelecke: Der Kampf um die Gunst der globalen Investoren führt zu einem Steuerdumping und Subventionswettlauf, der die gesamte Weltwirtschaft tangiert.

SLOBODIAN schreibt das alles in einem gut lesbaren Stil, der ohne Wirtschafts-Fachspräche auskommt. Es handelt sich um sachlichen Journalismus, ohne Effekthascherei. Zwar ist die kritische Grundhaltung des Autors nicht zu übersehen, er verzichtet aber weitgehend auf polemische Kommentierungen.

Am Ende des Buches wundert man sich (als vermeintlich halbwegs informierter Bürger), warum man mit dieser Seite des Kapitalismus so wenig konfrontiert wurde bzw. wird. Möglicherweise spielt dabei eine Rolle, dass sich unsere heimischen Konflikte in dem vergleichsweise befriedeten Umfeld der “Sozialen Marktwirtschaft” abspielen.
Dieses extrem informative Buch weitet den Blick auf die globalen Kräfte, die – ganz ohne Scham – ausschließlich die Interessen einer kleinen Elite von Superreichen verfolgen.
Gesellschaftliche Verantwortung wird dabei nicht nur relativiert, sondern rundweg abgelehnt.
Auch die Gegenkräfte werden vom Autor untersucht; auf die gelegentlichen Erfolge wird kurz hingewiesen.

Dem Buch hätte ein zusammenfassendes und einordnendes Schlusskapitel gut getan; es endet etwas abrupt. Das schmälert aber nicht den großen Informationswert. Das hier vermittelte zeitgeschichtliche Wissen hilft ganz sicher beim Verständnis und bei der Beurteilung der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen und Konflikte.

“Die Kinder hören Pink Floyd” von Alexander Gorkow

Bewertung: 4 von 5.

Der Schriftsteller und Journalist GORKOW war und ist mit diesem Stimmungsbild aus den 70iger Jahren sehr erfolgreich. Trotz des motivierenden Titels hat es ein paar Jährchen gedauert, bis sein Roman mich schließlich erreicht hat.

GORKOW berichtet so authentisch aus der Innensicht eines Kindes, dass der Verdacht einer autobiografischen Färbung nahe liegt. Sein Jahrgang (1966) lässt es problemlos zu, dass die Musik von Pink Floyd tatsächlich seine Kindheit begleitet hat. Allerdings ist der enge Bezug zu den unerreichbaren Stars, deren Musik und Texte im Roman als Ausdruck eines umfassenden gesellschaftlichen Umbruchs empfunden werden, der deutlich älteren Schwester zu verdanken. Einer lebensbedrohenden chronischen Erkrankung ist es zuzuschreiben, dass sie (meist “Kind Nummer 1” genannt) in dieser bürgerlichen Familie ihre extreme Lust an der – kulturellen und politischen – Provokation weitgehend unsanktioniert ausleben kann.
Auch die anderen Familienmitglieder werden durchweg in ihrer Funktion (“der Vater”, “die Mutter”) angesprochen und in ihren typischen Charakteren gezeichnet. Genau wie bei den anderen kindlichen und erwachsenen Figuren werden die Konturen (die kleinen und großen Macken) scharf herausgearbeitet. So ergibt sich der Eindruck, dass die Menschen dieser Zeit irgendwie markanter und eigentümlicher waren, dass es noch mehr echte “Originale” gab.

Das entscheidende Stilmittel dieser zeitgeschichtlichen Milieustudie aus dem Umfeld von Düsseldorf besteht darin, dass GORKOW den bruchstückhaften und ungeordneten Erlebens- und Verständnisfetzen eines 10jährigen Bewusstseins eine Stimme verleiht.
Wir bekommen dabei nicht nur vermittelt, wie sich die genuin kindliche (soziale und schulische) Welt für “den Jungen” darstellt, sondern – was noch viel spannender ist – wie sich die oft fremden und absurden Aspekte des Erwachsenenlebens in seinen Empfindungen spiegeln – und wie er sie zu ordnen und mit Sinn zu versehen versucht.
So entsteht für die Lesenden ein Kaleidoskop von Bildern, Verhaltens- und Sprachmustern, die sich insgesamt zu einem lebendigen und grell ausgeleuchteten Panorama zusammensetzen.

Immer wieder wird deutlich, dass GORKOW nicht nur eine Art “Sittengemälde” der Zeit zeichnen, sondern auch tief in die Kiste der Nostalgie greifen wollte. Genussvoll nennt er immer wieder die Marken typischer Alltagsgegenstände und vertraut darauf, dass diese bei der Leserschaft wohlige Erinnerungen hervorrufen. Das wirkt allerdings in der Häufung ein wenig sehr “gewollt”.
Es lässt sich wohl auch kaum übersehen (und sicher auch nicht vermeiden), dass sich oft in die vermeintlich authentisch-kindliche Wahrnehmung bzw. Bewertung doch die distanzierte rückblickende Reflexion mischt. Damit kann man gut leben.

Es ist ein erfrischender und liebevoller Text, der – eher assoziativ als chronologisch erzählt – ein Gespür auch für kleine Details hat und dabei gerne aus dem Vollem schöpft: Es geht insgesamt eher heftig und deftig zu, in dieser Welt des Übergangs und Umbruchs. So dürfen dann tatsächlich die jeweils neuen Alben von Pink Floyd sogar auf dem heiligen “Thorens” des Vaters abgespielt werden. Da zeichnet sich eine erste Öffnung in der ansonsten festgefügten (spieß)bürgerlichen Weltsicht.

Netterweise erfahren wir im Epilog, warum GORKOW ausgerechnet Pink Floyd die Rolle zugeschrieben hat, als roter Faden durch die Kindheit “des Jungen” zu führen: Der Autor hat sich zu einem extrem leidenschaftlichen Fan entwickelt und die Supergroup ist sogar eine Teil seines journalistischen Lebens geworden (bis hin zur persönlichen Bekanntschaft mit Roger Waters).

Es wurde Zeit, dieses Buch mal endlich zu lesen…

“Der Hunger nach Leben” von Ella ZEISS

Bewertung: 3 von 5.

In diesem historischen Roman wird die Geschichte von Noah erzählt, der als Sohn einer ukrainischen Bauernfamilie mit den Folgen von Willkür, Not und Unterdrückung in der Zeit der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zu kämpfen hat.
Wir erfahren, wie ihm in den 1930-iger Jahren schon im Kindesalter die Verantwortung zukam, das Überleben seiner Familie (Mutter und drei jüngere Geschwister) zu sichern.

Der Autorin gelingt es dabei auf überzeugende Weise, das Erleben von hilfloser Wut, Verzweiflung, aber auch unbändigem Überlebenswillen aus der Binnenperspektive eines Kindes bzw. Jugendlichen nachvollziehbar zu machen. Dass dem Jungen dabei fast übermenschliche Kräfte zugeschrieben werden, ist angesichts der Dramatik der Ereignisse akzeptabel.

Die Stärke des Romanes liegt darin, die Schikanen der Mächtigen (Parteifunktionäre und deren Zuarbeiter) und deren zermürbende Auswirkungen auf die vermeintlichen Klassenfeiende in das konkrete Alltagsleben einer Familie zu übertragen. So spiegeln sich Ungerechtigkeit und Machtmissbrauch nicht in abstrakten Strukturen, sondern im täglichen Hunger und in quälender Not der beschriebenen Familie.

Schwächen zeigt der sehr persönliche und emotionale Erzählstil der Autorin dort, wo man als Leser/in etwas weitergehende zeitgeschichtliche Hintergrundinformationen erwartet. Es wird – über die örtlichen Unterdrückungsstrukturen hinaus – kein historischer Rahmen bzw. Überbau angeboten, der zur Einordung der Geschehnisse in die politischen Entwicklungen dieser Zeit dienen könnte.
Zwar erfährt man von dem ideologischen Kampf gegen die “Kulaken” (die vermeintlich reichen Privatbauern), die ideologischen Hintergründe, die Größenordnung und die zeitgeschichtliche Bedeutung dieser Ereignisse werden im Text nicht wirklich deutlich.

So bleibt dieser Roman eine beeindruckende und anrührende Einzelfall-Schilderung. Mit nur begrenztem Aufwand hätte er darüber hinaus noch deutlich mehr vermitteln können.
Schade!

“Die Stadt und ihre ungewisse Mauer” von Haruki MURAKAMI

Bewertung: 3 von 5.

Mit diesem Roman greift MURAKAMI – wie der international renommierte japanische Autor selbst uns in einem Nachwort verrät – auf eine seiner ersten Kurzgeschichten aus den 80iger Jahren zurück. Mit dieser mehrfach verschobenen Erweiterung und Neubearbeitung legt der Autor möglicherweise sein “Alterswerk” vor.

Den Büchern des Japaners wird man am wenigsten dadurch gerecht, dass man nach dem Plot, also dem Handlungsverlauf, sucht. In den meisten Fällen dienen diese Geschichten nur als eine Art Rahmen, in denen MURAKAMI seine typischen (und inzwischen weltberühmten) Fäden zwischen unterschiedlichen Realitätsebenen spinnen kann. Das Spiel mit Metaphern und die fast schmerzhaften Wiederholungen bestimmte Einzelheiten schaffen eher eine charakteristische, oft geradezu meditative Stimmung, als dass sie eine übliche literarische Leseerfahrung bieten.
Um es anders zu sagen: Erfahrene MURAKAMI-Leser erwarten nicht wirklich eine in sich kohärente und logisch aufgebaute Handlung, in der ein Erzählstrang zu einem befriedigenden Ende geführt wird.

Diesmal werden von Anfang an zwei klar unterscheidbare Realitäts-Dimensionen eingeführt: Die titelgebende Fantasie-Stadt entsteht zunächst als Gedankenspiel innerhalb einer jugendlichen Liebesgeschichte und wird im Laufe der Erzählung ein übergreifendes metaphorisches Thema, dass den Protagonisten bis weit ins Erwachsenenalter begleitet (bzw. ihn dort wieder einholt).
Die durch eine unbezwingbare Mauer umgebene und vom Rest der Welt völlig isolierte Stadt weist eine Reihe von Absurditäten auf: In ihr gelten besondere Regeln und Gewohnheiten, hier existiert eine besondere Tierart und die Bibliothek, in der die Hauptfigur eine Weile tätig ist, beinhaltet keine Bücher sondern alte Träume in speziellen Gefäßen.
Das aus anderen Büchern bekannte Thema “Schatten” spielt auch hier eine Rolle: Beim Eintritt in die Stadt muss der eigene Schatten beim strengen Tor-Wächter abgegeben werden (und die Chance, ihn lebend zurückzubekommen, ist ziemlich gering).

Nach einem ersten Aufenthalt gelingt dem Erzähler eine Rückkehr in die “richtigen” Welt und leitet dort später eine Kleinstadt-Bibliothek. Hier entspannt sich eine zunächst vergleichsweise “normale” Geschichte, in der sein Vorgänger, ein sehr sonderbarer Junge und eine Café-Besitzerin eine Rolle spielen.
Nachdem sich zeigt, dass der frühere Bibliothekar bereits längere Zeit tot ist und nur als Geist präsent ist und der Junge unbedingt in die geheime und verborgene Stadt möchte, zerbricht die Illusion einer klar definierten Realität endgültig.

Bemerkenswert ist, dass der Erzähler selbst innerhalb der Geschichte – sozusagen auf einer erklärenden Meta-Ebene – Betrachtungen über den Schreibstil des “Magischen Realismus” anstellt und den Widerstreit zwischen den zwei Welten offen thematisiert.

Was soll man nun von all dem halten?
Es liegt nahe, dass MURAKAMI letztlich über unterschiedliche menschliche Bewusstseinsebenen schreibt, die wohl im Allgemeinen klar getrennt sind, sich gelegentlich aber (z.B. in Träumen) miteinander vermischen. Man könnte also versuchen, in den Bildern und Metaphern Bezüge zu solchen (verborgenen) Bewusstseins-Dimensionen und ihren Verstrickungen zu finden.
Möglich wäre es auch, einfach in die “Verrücktheiten” dieser Erzählform einzutauchen und sich auf den Wellen der unzähligen Wiederholungen treiben zu lassen – ohne den Versuch einer intellektuellen psychologischen oder literarischen Analyse.
Manche MURAKAMI-Fans können sich vielleicht auch einfach an den lieb gewordenen Absurditäten erfreuen und sich zwischendurch auf die kleinen Inseln normaler Erzählstruktur zurückziehen.

Wenn auch diese – und sicher noch ein paar andere – Zugänge möglich sind und einen potentiellen Lesegenuss versprechen, ist doch davon auszugehen, dass MURAKAMI viele andere Leser/innen eher verstören und überfordern wird.
Dazu trägt sicher auch bei, dass die Gesamtgeschichte nicht sehr kohärent wirkt: Man merkt ihr an, dass sie in der Überarbeitung aus zwei Teilgeschichten zusammengesetzt wurde.

Es könnte gut sein, dass letztlich nur die gewohnt perfekte Vorlesestimme von David Nathan dafür verantwortlich war, dass ich diesen Roman bis zum – wenig erhellenden – Ende durchgehalten habe.

“Die hohe Kunst des Verzichts” von Otfried Höffe

Bewertung: 2.5 von 5.

HÖFFE hat ein langes professorales Philosophen-Leben mit zahlreichen Veröffentlichungen hinter sich und hat sich in Fragen der Ethik auch als Berater der Politik einen Namen gemacht.
In diesem schmalen Buch, dessen Inhalt er selbst als “Essay” verstanden wissen will, versucht der Autor eine Art Gesamtwürdigung des Phänomens “Verzicht” und lotet den Begriff (den er weitgehend synonym mit “Selbstbeschränkung” benutzt) in wesentlichen Facetten aus.

Der philosophische Blick ist auf Weitwinkel eingestellt: HÖFFE betrachtet u.a. die Weisheiten der großen Denker des Altertums über das gute und tugendhafte Leben, die Verzichts-Leistungen im Rahmen von gesellschaftlichen Regeln und dem formalen Recht und zuletzt auch die Anforderungen an unsere Verzichtsbereitschaft angesichts der großen aktuellen Menschheits-Herausforderungen.

Der Autor bewegt sich zwischen zwei Welten: Da ist einmal die akademische Philosophie mit den Bezügen zu den ganz Großen (u.a. Aristoteles, Kant und Nietzsche), daneben betätigt sich HÖFFE als alltagsorientierter Vertreter der angewandten Philosophie, der nicht nur Sitte und Anstand definiert, sondern auch recht eindeutig zu gesellschaftlichen Fragen Stellung bezieht: Der Kapitalismus ist nicht wirklich böse! Wir müssen uns in der Klimafrage vor Panikmache schützen! Die öffentlichen Medien sollten sich von ihrer “Gutmenschen-Einstellung” befreien! Wir müssen die Freiheit gegen eine Öko-Diktatur verteidigen!”
Das kann man ja alles so denken und sagen – aber ist das Philosophie?

Vieles, was HÖFFE schreibt, hat eine gewisse – durchaus sympathische – Nähe zum “Gesunden Menschenverstand”: Es geht um Maß und Mitte, Vernunft und Toleranz. Verzicht bezieht sich in der Regel auf Extreme: auf extremen Egoismus, auf Gier, auf kurzfristigen Hedonismus – aber auch auf die anderen Extrempole: auf Selbstverleugnung, Leibfeindlichkeit oder Askese.
Insgesamt wird der Begriff “Verzicht” damit ein wenig überstrapaziert: Wenn jede Vermeidung von Übertreibungen und Einseitigkeiten als eine Selbstbeschränkung definiert wird, kann letztlich jedes beliebige maßvolle Handeln als Verzicht definiert werden.

Nicht jede/r Leser/in wird den stellenweise etwas altväterlichen Stil des Autors mögen. Manchmal spricht da eher ein gutmeinender, belesener und etwas selbstverliebter “Großvater” als der seriöse Philosoph. Die zahlreichen Stellen, an denen HÖFFE seine eigenen Überzeugungen in philosophische Gewänder kleidet, lassen den Wunsch nach Widerspruch entstehen.

Grundsätzlich ist die Notwendigkeit und Bereitschaft zum Verzicht sicherlich eine brandaktuelle gesellschaftliche Thematik. Auch wenn HÖFFE das in Bezug auf die Klima- und Umweltkrise dankenswerter Weise deutlich anspricht, erscheint der von ihm gewählte Zugang nur für eine eher kleine Zielgruppe geeignet zu sein. Jüngere Menschen, die sich nicht als Teil des klassischen Bildungsbürgertums verstehen, werden in diesem Essay vermutliche keine Erleuchtung finden.

“Geister” von Nathan HILL

Bewertung: 4.5 von 5.

Auch das kommt vor: Da ist man von einem aktuellen Buch restlos begeistert (“Wellness“), schaut nach, was der Autor sonst noch geschrieben hat – und merkt plötzlich, dass man auch seinen ersten großen Roman schon gelesen (gehört) hat. Die nur noch schwache Erinnerung war ein Anlass, es nochmal zu tun. Eine gute Entscheidung!
HILLs Erstlingsroman (2016) ist gleich ein “großer” geworden: groß im Umfang, groß in der Themenvielfalt, groß in der erzählerischen Handwerkskunst.

Erzählt wird eine Familiengeschichte (bestimmt von Verlassenwerden und Verlust), die Geschichte einer Protest-Generation (die amerikanischen 68iger), die Geschichte vom aktuellen politischen Populismus (der an Trump erinnert) und ganz viele Geschichten von den Absurditäten und Perversionen des – von Zynismus, Gier, Einsamkeit und Sensationsjournalismus bestimmten – “American Way of Life”.

Das Verbindungsglied all dieser Perspektiven ist der Literatur-Dozent, Schriftsteller und Gamer Samuel, in dessen Lebensgeschichte sich die Handlungsfäden nicht nur kreuzen, sondern auch heftig verwirren. Seine früh aus seiner Kindheit verschollene Mutter (Faye) tritt als eine des Terrorismus angeklagte Mediengestalt wieder in sein Leben und führt ihn zu einer sehr persönlichen Achterbahnfahrt durch ihre Biografie.
Diese Konstruktion erlaubt es dem Autor, die amerikanische Zeitgeschichte über zwei Generationen hinweg facettenreich zu spiegeln – und dabei weder politische, noch persönliche Lebensthemen auszulassen.

Es sind keine makellosen oder kraftstrotzenden Figuren, die uns durch dieses prall gefüllte Universum führen – es sind Menschen mit Schwächen und lebensgeschichtlichen Brüchen, dem Scheitern meist näher als dem Erfolg. Genau das macht diesen bis zum Bersten mit Erfahrungen und Emotionen gefüllten Text zu einem intensiven und niveauvollen Leseerlebnis. HILL nimmt sich die Ruhe, einige Nebenfiguren mit der gleichen Sorgfalt und Sprachgewalt zu zeichnen wie seine Protagonisten. Sein Sprachgefühl lebt von dem Feeling für Details, seine Begrifflichkeiten sind intensiv, seine Formulierungen expressiv.
Nur einmal schwächelt Autor: Bei der Schilderung eines für die Mutter zentralen Ereignisses – der Polizeigewalt gegenüber der großen 68iger Demonstration in Chicago – verliert HILL ein wenig das Maß und verliert sich schwelgerisch in Details.

Wer große, perfekt gewebte und sprachlich ergreifende Erzählungen mag, die ihre Menschenfreundlichkeit in der Empathie für realistische, zwiegespaltene Charaktere beweisen, wird diesen Roman nicht nur mögen, sondern lieben.

“Zeit” von Stefan KLEIN

Bewertung: 4.5 von 5.

KLEIN ist ein bekannter und erfolgreicher Wissenschafts-Autor, der sich schon so interessanten Themen zugewandt hat wie dem Glück, dem Zufall und dem Träumen. Diesmal ist die Zeit dran – und zwar die objektive (physikalische), die biologische (innere Rhythmen) und die subjektive (selbst erlebte). So wird aus dem Sachbuch gleichzeitig eine Art Ratgeber für den Umgang mit der eigenen Lebenszeit.

Es ist bemerkenswert, wie breit und perspektivreich diese Reise zum Phänomen “Zeit” angelegt ist: Vom Entstehen der Zeit im Urknall und ihrer Relativität in der modernen Physik ist genauso die Rede wie von der Entwicklung der Zeitmessung und ihrer gesellschaftlichen Folgen, von den verschiedenen biologischen “Uhren” in unserem Körper, von den Facetten unseres Gedächtnisses und von dem variablen Zeiterleben in unterschiedlichen Situationen.
Und KLEIN leitet aus den dargestellten Erkenntnissen konkrete Tipps ab, mit deren Hilfe er uns einen Ausweg aus der “Zeitfalle” eröffnen möchte.

Geschrieben ist das Buch in einem angenehmen journalistischen Stil, der fachliche Stringenz mit guter Lesbarkeit kombiniert. So bekommt man eine gut verdauliche und nahrhafte Kost, die man aber nicht so zwischendurch wegnaschen kann. Der Autor belegt seine Darstellungen mit zahlreichen Untersuchungen – ohne dass dadurch sein Werk zu einem trockenen Fachbuch mutiert.

Die Erwartungen an die “Gebrauchsanweisung” (s. Untertitel) sollten allerdings nicht zu hoch sein: Die Wissensvermittlung steht in diesem Sachbuch ganz eindeutig im Vordergrund. Zwar führt KLEIN im Schlussteil sechs konkrete Maßnahmen an, die einen souveräneren, achtsameren, stressfreieren und gesünderen Umgang mit der subjektiven “Zeitknappheit” ermöglichen sollen (im Augenblick leben, sich konzentrieren, die eigene biologische Uhr ernst nehmen, …).
Das erscheint auch alles klug und nachvollziehbar – hat aber nicht den gleichen wissenschaftlichen Tiefgang wie die anderen Kapitel dieses ansonsten hervorragenden Buches.

“Ein wenig Leben” von Hanya YANAGIHARA

Bewertung: 3.5 von 5.

Es ist zweifellos ein bewegendes Buch, das die in Hawaii geborene, multikulturell geprägte Autorin bekannt gemacht hat. Es ist wohl kaum ein Text vorstellbar, in dem das Leid eines seelisch, körperlich und sexuell missbrauchten Kindes und dessen Auswirkungen auf ein gesamtes Leben eindringlicher und umfänglicher dargestellt werden könnte.

Die Autorin ist eine Meisterin der Gefühlsintensitäten. Der schon beim Lesen kaum zu ertragenden Pein des Opfers stellt sie – sozusagen am anderen Ende der Dimension – die schier grenzenlose Güte und Liebe einiger Bezugspersonen gegenüber. Auch hier wählt sie ein Ausmaß, das alltägliche Maßstäbe ganz offensichtlich übersteigt.
Als Lesender, der sich nicht konsequent für eine innere Distanzierung entscheidet, fühlt man sich im Laufe des umfangreichen Textes (740 Seiten oder 32 Std. Hörbuch) in eine geradezu endlose emotionale Achterbahnfahrt versetzt, die den Konsum dieses Buches zu einem durchaus anstrengenden Erlebnis macht.

Neben dem, was Menschen Kindern (und später auch Erwachsenen) antun können, geht es in diesem Buch auch um Freundschaft, aus der auch eine große Liebe werden kann. Es geht auch um Zuwendung und Mitmenschlichkeit, aber auch um Schwäche und tiefste Kränkung und Enttäuschung. Es geht um Lust, um Ästhetik, um Luxus, ums Sex, um Kunst. Es geht um das Leben in all seinen – intensiven – Facetten.

Das alles – und noch viel mehr – materialisiert sich rund um den Protogonisten Jude, der nach seinem häppchenweise aufgedecktem Martyrium im Kreise von drei Freunden seine College-Jahre verbringt und später in einer gut-situierten New Yorker Erwachsenen-Welt landet, in der Kultur, Kunst, Architektur und Intellektualität den Alltag bestimmen.
Unter dieser fast perfekten Fassade lauert aber das Grauen, das Jude in Form von körperlichen Beeinträchtigungen und Schmerzen als lebenslange Hypothek mit sich schleppt.

Zu den größten Stärken dieses eindringlichen Romans gehört sicherlich die differenzierte und einfühlsame Beschreibung der psychischen Auswirkungen der frühen Misshandlungen. Jude ist nicht nur körperlich für alle Zeiten gezeichnet, er ist auch emotional gebrochen. Sein Selbstbild ist so stark zerstört, der Selbstzweifel und Selbsthass ist so grenzenlos, dass Jude nur der Ausweg in massivste Selbstversetzungen bleibt.
Seine Scham ist so groß, dass er sich selbst seinen engsten Freunde jahrzehntelang nicht anvertrauen kann – und daher Täuschung und Unverständnis diese Beziehungen belasten.
Diesem kaum vorstellbaren Leid stehen einige Beziehungs- und Unterstützungsangebote gegenüber, die zwar zwischenzeitlich Halt geben, angesichts der Schwere der Verletzungen aber immer wieder ins Leere laufen. Gleichzeitig wird (auf brutalste Weise) deutlich, dass Jude für toxische Beziehungsmuster immer noch anfällig ist.

Kein fühlender Mensch wird alldem emotional unbeteiligt gegenüberstehen. Und doch ist es legitim, ein paar distanziert-analytische Anmerkungen zu machen.
Wie schon gesagt: YANAGIHARA beherrscht die Intensitäten. Aber – so kann man sich fragen – muss so ein Buch in diesem Ausmaß die Extrempole bedienen? Muss es (fast) immerzu um unerträgliches Leid, grenzenlose Güte, die größte denkbare Liebe, die schönsten vorstellbaren Häuser, die größten beruflichen Erfolge, die tiefste Trauer gehen?
Als Leser/in könnte einem zwischendurch das Gefühl befallen, dass kaum noch Steigerungsmöglichkeiten bestehen – aber die Autorin versucht (und schafft) es trotzdem.
Es ist wirklich von allem extrem viel! Intensität auf der permanenten Überholspur!

Dieses Buch lässt niemanden unberührt. Das ist zweifellos eine hohes Qualitätsmerkmal für ein literarisches Werk. Wer sich selbst (als mitfühlendes Wesen) spüren möchte, ist mit diesem Buch ganz sicher auf dem richtigen Weg.