“Die Erfindung des Lebens” von Hanns-Josef ORTHEIL

Es gibt Bücher, die einem Zeitvertreib und Unterhaltung bieten. Es gibt Bücher, die eine schöne oder spannende Geschichte erzählen. Und es gibt Literatur: die Kunst, mit Sprache umzugehen.
Dieses Buch demonstriert zweifelsfrei ein hohes Ausmaß dieser Kunst.

Schauen wir zunächst nach dem Unterhaltungswert:
Geboten werden fast 600 Seiten (Taschenbuchausgabe); das liest man nicht mal so zwischendurch weg. Das Buch fordert heraus: man muss sich schon einlassen – auf Details, auf sehr genaue Beobachtungen, auf Selbstreflexionen. Es ist keine leichte Kost – aber auch keineswegs schwer verdaulich. Als Lohn für die Mühe winkt ein besonderes und nachhaltiges Leseerlebnis.
Insgesamt bekommt man sicher eher Tiefgang als entspannte Unterhaltung.

Und die Geschichte?
Der Titel deutet es an: Es geht um die Geschichte eines sich entwickelnden Lebens. Der Ich-Erzähler (und damit vermutlich weitgehend auch der Autor) berichtet davon, wie aus einer extrem problematischen Kindheit (Mutter und Kind sind jahrelang stumm) heraus sich eine facettenreiche und tiefgründige (Künstler-)Persönlichkeit entwickelt. Dabei wird in bewundernswerter Klarheit und Genauigkeit herausgearbeitet, dass gerade mit den – zunächst erschwerenden – individuellen und familiären Besonderheiten der Grundstein für diesen Prozess gelegt wird.
Inhaltlich hat die Geschichte mit einigen großen Themen zu tun:

  • mit der Bedeutung und Entwicklung von Sprache und Kommunikation
  • mit der Beziehung zwischen (sehr besonderen) Eltern und einem ungewöhnlichen Kind
  • mit Natur und Landschaft und der Kunst, diese präzise wahrzunehmen
  • mit der individuellen und familiären Verarbeitung von biografischen Lasten und Traumata
  • mit – insbesondere – klassischer Musik (der Erzähler wird Pianist)
  • mit der Stadt Rom und dem zugehörigen Lebensgefühl

Es ist sicherlich nicht notwendig, dass man spezielle Interessen für eine dieser Bereiche mitbringt; aber der Genuss des Lesens kann sicherlich dadurch noch intensiviert werden.

Der Rest ist – wie schon angedeutet – Literatur!
Man kann nur staunen, wie perfekt es dem Autor gelingt, dieses Panorama von detailverliebten Beobachtungen, nuancierten Empfindungen und differenzierten psychologischen Prozessen aufzufächern. Das alles passiert mit einer geradezu leidenschaftlicher Gründlichkeit und Tiefe.
Man bekommt von Seite zu Seite immer stärker das sichere Gefühl: Dieser Mensch kann das, was er vermitteln will, ohne jede Einschränkung auch sprachlich ausdrücken. Da bleibt kein Rest!

Im Vergleich zu dem bereits früher besprochenen Buch stellt „Die Erfindung des Lebens“ sicher die höheren Anforderungen. Zum Einstieg in der Schreibwelt von ORTHEIL eignet sich daher „Das Kind, das nicht fragte“ vielleicht noch eher.

“Was man von hier aus sehen kann” von Mariana LEKY

Es geht diesmal um ein ganz aktuelles Buch.

Das Buch handelt von dem Zusammenleben einiger durchweg skurriler Menschen in einem Dorf. Diese Menschen, ihre Beziehungen untereinander und deren Entwicklung werden mit großer Detailtreue und Einfühlsamkeit beschrieben. Die Besonderheit dieser Menschen und die Besonderheit dieser Betrachtung werden auch in einer sehr individuellen Weise mit einer sehr besonderen Sprache zum Ausdruck gebracht.
Man könnte zusammenfassen sagen: ein sehr besonderes Buch!

Fangen wir mit den Menschen an:
Es sind alles Personen, die man früher als „Orginale“ bezeichnet hätte; sozusagen radikale Kontraste zur Mainstream-Normalität. Die beschriebenen Menschen bekommen ihre Individualität gerade durch ihre Eigenarten, ihre Ecken und Kanten, ihre Absonderlichkeiten. Die Personen sind alle auf eine jeweils andere Art sehr „speziell“ – und sind gleichzeitig innig dadurch miteinander verbunden, dass sie geradezu selbstverständlich und ohne erkennbare Mühe die Absurditäten (die manchmal auch Schwächen sind) der anderen annehmen.
So entsteht ein einzigartiger Mikro-Kosmos von nicht viel mehr als einer Handvoll Personen, die – innerhalb und außerhalb von familiären Bindungen – in einer scheinbar unzerstörbaren Art aufeinander bezogen sind – einfach dadurch, dass sie in einem engen Umfeld miteinander leben, sich kennen und scheinbar gar keine andere Alternative sehen, als sich anzunehmen und in unterschiedlichen Qualitäten und Ausprägungen auch zu lieben.

Jetzt zur Art der Betrachtung:
Fast scheint es so, dass die Personen auf ihre skurrilen Anteile reduziert werden – jedenfalls werden sie durch diese Facetten liebenswert. Untereinander und für den Leser. Der Blick auf die dargestellten Menschen ist geradezu durch eine unendliche Toleranz und Akzeptanz bestimmt – diese Autorin ist eine wahre Menschenfreundin. Sie guckt auf die kleinen Dinge, die Zwischentöne, die ungewöhnlichen Perspektiven. Der Blick auf die Welt weitete – weil der innere Horizont sich weitet.

Und die Sprache:
Die Autorin schafft es scheinbar mühelos, diesem besonderen Buch über besondere Menschen auch eine besondere Sprache mitzugeben. Ungewöhnliche Analogien, überraschende Bilder, Wortneuschöpfungen und der wiederholte Bezug zu einigen sprachlichen Ankerpunkten schaffen die passende Atmosphäre und können Leser, die den sehr individuellen Umgang mit Sprache schätzen, geradezu begeistern.

Für mich verkörpert dieses außergewöhnliche Buch eine Menge Lebensweisheit. Es stößt einen auf die Grundthemen des Menschseins – weit weg von jeder oberflächlichen Konsum-Glitzerwelt und der zwanghaften Suche nach immer neuen Extremerfahrungen.
Und letztlich gibt es zwei Grundbotschaften, die man sowohl auf sein eigenes privates Leben als auch auf unser Zusammenleben hier auf unserem kleinen verletzlichen Planeten anwenden könnte:

Es gibt nichts Wichtigeres als die Liebe – in welcher Form sie auch immer gelebt wird!
Den anderen in seinem Anderssein (und manchmal Schwierig-Sein) als selbstverständlich dazugehörig zu betrachten, schafft die Chance, nicht nur friedlich sondern auch in einem tiefen Erfülltsein zusammenzuleben.

Ein überzeugendes Plädoyer für Toleranz und Großherzigkeit!

“The Brain” von David EAGLEMAN

Der Untertitel des Buches lautet “Die Geschichte von dir”.
Das macht zweierlei deutlich: Es handelt sich um ein deutschsprachiges Buch und die Zielgruppe könnte durchaus (auch) im Jugendalter sein.

EAGLEMAN ist ein bekannter englischer Hirnforscher, der sich schon mehrfach auch erfolgreich als Schriftsteller betätigt hat. Er hat ohne Zweifel die Gabe, auch komplexe Sachverhalte unterhaltsam und verständlich zu vermitteln.
Genau das ist ihm in diesem großzügig illustrierten Buch vorbildlich gelungen!

Tatsächlich war ich zunächst etwas irritiert, als ich das mit Spannung erwartete Buch das erste Mal aufschlug: Es las sich wirklich sehr einfach, so dass ich – als in diesem Gebiet leicht vorgebildeter Mensch – schon befürchtete, mich verkauft zu haben. Aber ich habe meine Meinung revidiert:
Zwar werden in diesem Buch auch grundlegende Erkenntnisse der Hirnforschung nochmal dargelegt (für manche ein Wiederholungseffekt) – gleichzeitig führt Autor aber bis an die brandaktuellen und heißdiskutierten Fragen heran: “Wie kann aus Komplexität Bewusstsein enstehen?” “Kann uns die künstliche Intelligenz ersetzen oder überholen?” “Was führt dazu, dass wir uns als “ICH” erleben?”

Der Autor ist nicht so vermessen, auf solche Grenzfragen fertige Antworten zu versprechen. Aber er geht sie mit Selbstbewusstsein und mit der Logik der Naturwissenschaft im Gepäck an und schafft so spannende Räume der Begegnung zwischen Bio- bzw. Neurowissenschaft und Philosophie.

Ein Buch, das einen auf eine sehr angenehme und leichte Art schlauer macht.
Super!

Nachtrag (Januar 2020):
Eine alternative Lektüre wäre “Der kleine Gehirnversteher”.

“Die Bücherdiebin” von Markus ZUSAK

Die Bücherdiebin ist kein aktuelles Buch. Es erschien erstmals 2005 und ist inzwischen als “Klassiker” anzusehen. Aber ich habe zu diesem Buch erst jetzt gefunden – und ich bin froh, dass ich es nicht ganz verpasst habe.

Es geht um die NS-Zeit, die aus der Sicht eines bücherbegeisterten Mädchens beschrieben wird. Zwischendurch meldet sich der Tod als Ich-Erzähler zu Wort, der in diesen Kriegs-, Hunger- und Vernichtungszeiten mehr als genug zu tun hat.

Dieses Buch rührt den Leser bzw. die Leserin deshalb besonders an, weil es die Nöte und das Grauen dieser Zeit konsequent aus der sehr konkreten Perspektive eines Mädchens beschreibt und damit unmittelbar fassbar macht. Dieses Mädchen findet in einer Umgebung, in der Krieg und Menschenverachtung immer stärker zur Normalität werden, kleine Inseln von Humanität und Liebe. Diese Erfahrungen ermöglichen es ihr, selbst unter widrigsten Bedingungen als Person zu reifen und selbst Mitmenschlichkeit entwickeln und weitergeben zu können.

Als wichtiges Medium und Werkzeug in dieser kleinen Gegenwelt zum nationalsozialistischen Stumpfsinn entdeckt Liesel die Kraft der Worte, der Sprache und der Bücher. Unter unglaublichen Bedingungen lernt sie – verspätet – das Lesen und macht dann um das Lesen und Schreiben von Büchern herum die entscheidenden Erfahrungen, was es auch bedeuten kann, Mensch zu sein.

Doch Sprache ist nicht nur ein Thema des Buches, sondern ein besonderer Umgang mit Sprache wird auch vom Autor selbst zelebriert. Ein äußeres Zeichen sind  z.B. die vielen – auch längeren – Kapitel-Überschriften, die z.T. als Inhaltsangabe, als Strukturierung oder als zusätzliche Erzählebene dienen.

Ein Buch über Menschsein und Menschenliebe, die über Generations- und Glaubensgrenzen reichen können. Ein Buch über die Bedeutung von Büchern. Ein Buch über die wesentlichen Dinge….

“Das Kind, das nicht fragte” von Hanns-Josef ORTHEIL

Bewertung: 5 von 5.

Ein tolles Buch über
– Kindheitsverletzungen, ihre Auswirkungen und ihre Heilung
– Sizilien (Landschaft, Menschen, Küche)
– Ethnologie (als Wissenschaft und als Berufung)
– die Kunst, andere zum Reden zu bringen
– die große Liebe

Meiner bescheidenen Meinung nach ist dieses Buch ein Meisterwerk – zumindest für alle, die sich durch die obige Aufzählung angesprochen fühlen.

Man verschmilzt ganz rasch mit dem Ich-Erzähler und will ihn kaum wieder loslassen.
Es ist ein durch und durch positives Buch – obwohl von einer schwierigen Kindheit erzählt wird. Aber man ist so fasziniert davon, wie der Erzähler diese Kindheit auf eine unnachahmliche Weise verarbeitet hat, dass das erfahrene Leid in den Hintergrund rückt.
Das Buch strotzt vor Interesse und Liebe für die Menschen – im Allgemeinen und in einer sizilianischen Kleinstadt im Besonderen. Und wer eine wirklich große Liebe mal in einer ganz besonderen Form beschrieben haben möchte, der wird hier auf seine Kosten kommen.

Doch das größte Kompliment am Schluss: Ich habe wohl nie zuvor ein so schönes Happy-End gelesen, ohne es auch nur einen Moment lang kitschig zu finden.
Ein absolutes Lesevergnügen, das mich sofort eine zweites Buch dieses Autors ausprobieren lassen wird.
(Dieses zweite Buch ist inzwischen gelesen und hier besprochen)

“Unterwerfung” von Michel HOUELLEBECQ

Dieses Buch wurde als “skandalträchtig” diskutiert – insbesondere an seinem Entstehungsort, in Frankreich.
Es geht um die schleichende Machtergreifung durch den Islam in einem mitteleuropäischen Staat. Entsprechend wurde dem Autor der Vorwurf gemacht, die irrationalen Ängste der (meist rechtsgerichteten schweigenden Mehrheit) zu rechtfertigen bzw. noch anzuheizen.

Für mich ist es kein Problem, auch politisch “inkorrekte” Bücher zu lesen, wenn sie anregend geschrieben sind bzw. einen Erkenntnisgewinn bringen.
Der Grundgedanke, dass durch verschiedene Tendenzen und Trends eine Entwicklung eingleitet werden könnte, in der “plötzlich” als selbstverständlich angesehene demokratische Regeln außer Kraft gesetzt werden können, ist nach der Erfahrungen der letzten Jahre sicher noch nachvollziehbarer geworden.

Was mich an dem Buch sehr gestört hat, war der sehr dominante Bezug auf die private und berufliche Welt des Protagonisten. Mich haben diese Bezüge (auf sein Liebesleben und seine universitäre Karriere als Professor) eher gelangweilt. Das fühlte sich eher an wie für Insider geschrieben; es hat mich nicht berührt. Vielleicht auch, weil mir viele Dinge einfach nicht sympathisch waren.

Insgesamt würde ich daher dieses Buch nicht empfehlen – obwohl das Thema sicher spannend ist.

“Paradox: Am Abgrund der Ewigkeit” von Philllip P. PETERSON

Ja – es ist Science-Fiction. Aber vielleicht sollte das nicht gleich ein K.-o.-Kriterium sein!
Es geht um die klassische Situation: Mit neuen Technologien beginnt der Aufbruch zu unerforschten Welten. Trotzdem empfehle ich das Buch auch Lesern, die nicht zu den Fans dieses Genres gehören.
Warum?

Weil das Buch wirklich vielschichtig ist.
Natürlich geht es auch um Raumfahrt und ihre Geschichte. Wie zu erwarten werden eine Menge physikalische und technische Details dargestellt und deren Entwicklung in die Zukunft projiziert. Und natürlich stellt sich die Frage nach dem außerirdischen Leben.
Aber es gibt (mindestens) drei weitere Ebenen, die das Lesen zu einem anregenden Gesamt-Erlebnis werden lassen:

1.  Die Protagonisten
Es werden vier Hauptpersonen und einige wichtige Nebenfiguren in ihrem Beziehungsgeflechten dargestellt. Das gelingt dem Autor recht überzeugend (wenn auch nicht völlig klischeefrei).

2.  Die Beziehung zwischen Staat und Privatwirtschaft
Am Beispiel der Raumfahrt wird dargestellt, wohin die Konzentration von Finanzmacht in den Händen von Einzelpersonen führen kann.

3.  Die Außenperspektive auf die Erde
Das bekannte Thema taucht immer wieder auf. Man kann wirklich gut nachvollziehen, welche Gefühle und philosophische Betrachtungen es auslöst, unsere letztlich winzige und extrem verletzliche Heimat-Kugel aus der Distanz zu betrachten. Die Zweifel an der “Intelligenz” der dominanten Spezies auf diesem Planeten nehmen durch das Lesen dieses Buches sicher nicht ab….

Somit bietet das Buch mehr als einen Grund, als Lesestoff in Betracht gezogen zu werden.

P.S.:  Ich würde mich sehr über Rückmeldungen zu meinen Empfehlungen freuen. Gerne auch dann, wenn nach dem Lesen eine ganz andere Einschätzung entstanden ist.
Schreibt doch einfach einen kurzen Kommentar!

Drei große Zukunfts-Sachbücher im Vergleich

Al GORE: Die Zukunft
HARARI: Homo Deus
LESCH / KAMPHAUSEN: Die Menschheit schafft sich ab

Ja – ich habe sie wirklich alle drei gelesen in den letzten Monaten (alles ziemlicher Wälzer). Mit großem Gewinn. Da nicht jede/r so viel Zeit hat, möchte ich durch den Vergleich der drei Bücher eine Entscheidungshilfe geben.

Zu den Gemeinsamkeiten:
Alle drei Bücher bieten eine fast unerschöpfliche Quelle von Fakten und Zusammenhängen über die Trends und die Risiken an, die das Schicksal der Menschheit in den nächsten Jahrzehnten bestimmen werden. Die Argumente und deren wissenschaftliche Untermauerung sind absolut überzeugend, geradezu zwingend. Natürlich geht es um Klima, Umweltzerstörung, Bevölkerungswachstum, wachsende soziale Ungleichheit, Bedrohung der Demokratie, künstliche Intelligenz, Genmanipulation und die Digitalisierung aller Lebensbereiche. In den Grundaussagen und den Schlussfolgerungen sind sich die Autoren sehr einig – wenn sie auch unterschiedliche Schwerpunkte setzen.

Wo also liegen die Besonderheiten bzw. Unterschiede?

Das Buch von Al GORE ist aus der Perspektive eines amerikanischen Politikers geschrieben, von einem Insider des Systems. Die von ihm analysierten Fehlentwicklungen der US-Demokratie sind beeindruckend klar und unmissverständlich beschrieben – geradezu entlarvend. Diese detaillierte Auseinandersetzung mit dem Versagen eines politischen Systems findet sich in den anderen beiden Büchern nicht.  Dabei bleibt Al GORE ein amerikanischer Patriot und hofft darauf, dass die USA sich von dem Einfluss des Großkapitals, der Lobbyisten und der rechten Medien-Zaren wieder befreien kann und dann (wieder) eine verantwortliche Führungsmacht für die ganze Welt werden kann. (Er konnte sich wohl nicht ernsthaft vorstellen, dass Trump eine US-Wahl gewinnen könnte – sonst hätte wohl sein Optimismus noch mehr Schaden genommen).
Al GORE ist in erster Linie ein Klima- und Umwelt-Aktivist; diese Schwerpunkte sind dem Buch auch anzumerken.
Seine Darstellung ist gut gegliedert; der rote Faden ist immer zu erkennen. Es wird keine Behauptung aufgestellt, die nicht auch faktenreich untermauert wird. Der Stil ist eher unaufgeregt und sachlich.

LESCH ist ein deutscher Wissenschaftler. Sein Buch ist eine sehr gründliche und umfassende Bestandsaufnahme der (aktuell stark bedrohten) Menschheitsentwicklung auf diesem Planeten. In diesem Sinne umfasst er mit seinem Buch sogar noch die erste Publikation von HARARI (Eine kurze Geschichte der Menschheit).
Es werden unglaublich viele  Aspekte nicht nur berührt sondern auch vertieft.
Das Buch von LESCH ist schon fast ein historisches, naturwissenschaftliches und umweltbezogenes Nachschlagewerk (leider ohne ein Stichwortverzeichnis).
Die Darstellungsform unterscheidet sich insbesondere dadurch, dass LESCH immer wieder einzelne Themen in separaten Exkursen vertieft (abgehoben in farbigen Kästchen). Dadurch wird ein noch größerer Tiefgang erreicht; die Darstellung bekommt dadurch einen kaleidoskopischen Charakter und verläuft nicht so stringent in einem Fließtext. Ein weiteres Stilmittel stellen eingebaute Interviews mit anderen Experten dar; ebenso werden Quellen nicht nur erwähnt sondern teilweise sehr ausführlich zitiert.
Diese Buch liest man sicher nicht nur einmal – es verführt dazu, einzelne Aspekte immer mal wieder nachzuschlagen.

Warum ist trotzdem HARARIs Buch mein Favorit?
In gewisser Weise ist dies das subjektivste Buch dieser Auswahl. Hier ist am meisten vom Autor und seinen Gedanken zu spüren. Bei HARARI geht es nicht in erster Linie um eine beeindruckende Faktensammlung sondern im Mittelpunkt steht seine sehr besondere Einordnung und seine Systematik.
Von HARARI wird man am meisten “an die Hand” genommen. Er erklärt die Welt (und den Menschen) auf dem Hintergrund seiner Denkschablonen.
Vielleicht gibt es Menschen, die das eher befremdlich finden oder sich manipuliert fühlen. Bei ihnen entsteht vielleicht eine Reaktanz.
Mir erging es anders: Ich empfand es anregend und faszinierend, mich auf diese Reise zu begeben. Ich hatte keine Probleme, mich auch auf die subjektiv-wertenden und manchmal sehr selbstüberzeugten Aspekte seiner Darstellung einzulassen. Ich habe es sehr genossen!
Natürlich gab es auch für mich einige Stellen, die mich zur Relativierung oder gar zum Widerspruch reizten – dafür habe ich über weite Strecken das Angebot ausgekostet, bekannte Tatsachen und Trends in ungewohnten und höchst kreativen und anregenden Zusammenhängen serviert zu bekommen.
Insgesamt ist der Homo Deus das philosophischste der drei Bücher; der von HARARI erstellte gedankliche Überbau ist absolut gleichrangig bedeutsam wie die angeführten Fakten.

Warum liest man drei solche Bücher, wenn man inhaltlich sowieso schon überzeugt ist?
Das ist eine gute Frage, über die ich ernsthaft nachdenken werde….

Gemeinwohl-Ökonomie

Bitte was?
Habe ich auch erst gedacht, als ich den Titel der letzten Sendung (07.07.2017) des “Philosophischen Radios” auf WDR 5 gelesen habe.
(http://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-das-philosophische-radio/index.html

Doch siehe da: Das Konzept hat mich sofort angesprochen und ist gerade dabei, in den Mittelpunkt meiner politischen Überzeugungen zu rücken.

Warum?
Die in diesem Denkansatz steckenden Ideen passen geradezu perfekt zu der Ratlosigkeit, die mich angesichts der dramatischen globalen Fehlentwicklungen, des gerade auf dem G20-Gipfel erlebten Irrsinns und der Mut- und Ideenlosigkeit der meisten politischen Parteien befallen hat.
Wo bitte – so habe ich mich gefragt – ist das überzeugende Gegenmodell zu der zukunftslosen kapitalistischen Wachstumsideologie? Woher könnte in dieser verfahrenen Lage, in der man auch auf der linken politischen Seite kaum innovative Konzepte findet, so etwas wie eine “realistische Utopie” kommen?

  • Eine Antwort gibt die Prinzipien der Gemeinwohl-Ökonomie.

Das Gute dabei ist: Wir brauchen keine Revolution, wir brauchen kein von Grund auf verändertes Gesellschaftssystem. Was wir – nach dieser Idee – brauchen ist “nur” eine Einigung darauf, dass der Erfolg und die materiellen Ergebnisse eines wirtschaftlichen Handelns zukünftig danach bemessen werden soll, in welchem Umfang damit die als “Gemeinwohl” definierten Ziele erreicht wurde. Es ginge dann also nicht – wie bisher – darum, wer ein Produkt zu dem günstigsten Preis anbietet; es würde statt dessen berücksichtigt, unter welchen (sozialen und ökologischen) Bedingungen dieses Produkt erzeugt wurde, wie viele Ressourcen dabei verbraucht wurden und welche Gemeinwohl-Bedürfnisse damit befriedigt würden. Die Einmischung in den “freien” Markt würde nicht über Verbote und Kontrolle erfolgen, sondern durch wirtschaftliche Anreize bzw. Auflagen.
Ein kleines Beispiel: Es gibt bereits woanders erste Regelungen, die solche Unternehmen mit einer zusätzlichen Steuer belegen, in denen das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und höchsten Einkommen besonders extrem hoch ist.

Okay! Es gibt tausend Fragen und Einwände – ich weiß!
Es geht um das Überwinden von Denkblockaden. Es geht darum, sich nicht weiter vermeintlichen Naturgesetzen der momentanen wirtschaftlichen Weltordnung auszuliefern – weil diese einfach unverantwortliche und z.T. perverse Ergebnisse liefert.
Was wäre wirklich verkehrt daran, wenn eine Gesellschaft die Anreize so definieren würde, dass diese mit den eigenen ethischen Zielen und den ökologischen Notwendigkeiten übereinstimmen?
Das alles wird nicht kurzfristig umsetzbar sein. Es geht um den Denkanstoß!
Ich hoffe und denke, dass wir von diesem Ansatz in den nächsten Jahren noch hören werden.

https://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinwohl-%C3%96konomie
http://www.christian-felber.at/schaetze/gemeinwohl.pdf

“Erkenne die Welt: Eine Geschichte der Philosophie – Band I” von Richard David PRECHT

Da hat sich der bekannteste, smarteste und medientauglichste Philosoph des Landes wirklich etwas vorgenommen: eine Philosophie-Geschichte in vier Bänden!
Was für ein Wechsel: War doch PRECHT bisher dafür bekannt, sich der praktischen Anwendung der Denk-Wissenschaft auf die Themen und Sinnfragen der Gegenwart zu verschreiben – bis hin zu eindeutig politischen Statements.
Und nun ein Grundlagenwerk: die Philosophie von der Pike an!
Nun, an dem notwendigen Selbstbewusstsein mangelt es dem Medien-Star sicher nicht. Aber vielleicht hat er sich doch inhaltlich überhoben?

Meine Bewertung wird aus Sicht eines interessierten Lesers vollzogen; ich habe weder Philosophie studiert noch andere historische Darstellungen zum Vergleich herangezogen.
Aus dieser Sicht kann ich sagen: ein tolles Buch!

Ich fange trotzdem mal mit einer kritischen Bemerkung an: Von der Informationsfülle her betrachtet fühlt man sich als Laie geradezu überflutet. Man kann den vielen Namen, Details und Differenzierungen bei einem Durchgang kaum gerecht werden (insbesondere, wenn man den Fehler macht, sich dem Inhalt in Form eines Hörbuches zu nähern). Also hilft nur langsam oder zweimal lesen.

Warum es sich trotzdem lohnt:
Precht ist ein prächtiger Didaktiker! Er nimmt seine Leser an die Hand und führt sie durch das Labyrinth der verschiedenen Denkschulen. Er macht das, indem er immer wieder die Ebene wechselt und die Einordnung der jeweiligen philosophischen Idee fast genauso viel Raum gibt wie den Inhalten selbst. Das geschieht einmal dadurch, dass er die Bezüge zu den vorangegangenen Denkern erklärt (Gemeinsamkeiten und Unterschiede) und dass er die Einbettung in zeitgeschichtliche Prozesse in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft  anschaulich verdeutlicht.
Der Effekt: Man kann nach und nach ein Netzwerk von Verbindungen aufbauen, in dem die Weiterentwicklung der Philosophie eben weit mehr ist als eine zufällig Abfolge von verschiedenen Welterklärungen. Ganz nebenher erhält man so einen historischen Nachhilfeunterricht, von dem man als Schüler/in nur träumen konnte.
Großartig!

Für mich ist der erste Band auf jeden Fall schon jetzt ein Standardwerk für Leser, die Philosophie nicht als isolierte Elfenbeinturm-Wissenschaft betrachten wollen.
Allerdings sollte man sich im Klaren darüber sein, dass man dieses Buch nicht “nebenbei” lesen kann. Man sollte schon ein etwas weitergehendes Interesse aufbringen, wenn man sich mit Richard David auf den Weg machen will. Es wird einen eine Weile beschäftigen….
Ich jedenfalls freue mich schon auf den zweiten Band im Herbst 2017. Und ich bin ganz sicher, dass ich irgendwann alle vier Bände in meinem Regal stehen habe.