“Das Institut” von Stephen KING

Nein – ich war nicht im zweiten Teil der Neuverfilmung von “ES”. Der erste Teil hat mir gereicht….

Aber ich habe KINGs neuen Roman gehört. Habe mal wieder etliche Stunden für einen Schriftsteller aufgewandt, dem ich hoch-ambivalent gegenüberstehe und von dem ich doch nicht lassen kann.

Es geht um eine recht abstruse Geschichte rund um ein geheimes Projekt, in dem Kinder mit besonderen (paranormalen) Fähigkeiten gegen ihren Willen dazu benutzt werden, bestimmte Effekte in der realen Welt zu bewirken. Der Roman beschreibt den Aufenthalt des 12-jährigen Protagonisten in diesem besonderen Institut, das von einer Truppe mehr oder weniger sadistisch veranlagten Aufseher, Betreuer und Ärzten betrieben wird.
Mehr Handlung soll nicht verraten werden.

KING schreibt schon seit Jahrzehnten wie ein Besessener. Er wird wohl zu Lebzeiten damit nicht aufhören. Er kann erzählen, kann Figuren entstehen lassen und Spannung erzeugen – damit hat er inzwischen viele Millionen verdient.
Auch diese Geschichte ist spannend – wenn man sich einmal eingelassen hat. Irgendwann beschließt man einfach, dass Hintergrund und Inhalt der Story eigentlich unwichtig sind. Man wird in die Geschichte gesogen und will wissen, wie sie ausgeht.
Nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Der Gewalt- bzw. Horrorfaktor ist diesmal wirklich sehr dezent ausgefallen. Das habe ich sehr begrüßt. Allerdings nimmt die Erzählung einen recht gradlinigen und irgendwie vorhersehbaren Verlauf. Das könnte für KING-Fans etwas enttäuschend sein.

So ein Buch hinterlässt bei mir keinen Nachhall. Fertig ist fertig. Es geht um Unterhaltung und ein wenig Nervenkitzel. So ein Buch hat nichts mit dem eigenen Leben zu tun. Das finde ich schade – wo es doch so unendlich viele Alternativen gäbe, aus denen Erkenntnisse, Anregungen oder tiefes emotionales Berührtwerden gewonnen werden könnten.

Vielleicht war es doch der letzte KING – bis zum nächsten ….


Was auf uns zukommt…

Ich fand diese Werbung bemerkenswert.
Sie markiert für mich so etwas wie einen beginnenden Kulturkampf.

Natürlich haben wir uns im vergangenen Jahr bereits daran gewöhnt, dass es eine neue Trennlinie in unserer Gesellschaft gibt. Nach “links” vs. “rechts”, “arm” vs. “reich” und “Willkommenskultur vs. Abschottung” geht es spätestens seit Greta um “Klimaschutz” vs. “Klimaleugner”.
Nachdem das Thema monatelang die Talk-Shows, die Medien allgemein und die Esstische vieler Familie belagert hat, ist es jetzt im Zentrum unserer Gesellschaft angekommen: in der Werbung!

Es ist kaum zu glauben: Das demonstrative Festhalten an dem von Wissenschaftlern und Klimaaktivisten in Frage gestellten Lebensstil (SUV, Fliegen und Fleisch) wird gerade zu einem Markenzeichen für die “anderen” – für diejenigen, die sich nichts verbieten und nichts madig machen lassen wollen.
Nicht mit schlechtem Gewissen – nein mit stolz erhobenem Haupt bekennt man sich zu einer neuen Identität. Und diese Zielgruppe ist offenbar werbetechnisch relevant.

“Lass die Moralisten und Miesmacher über den Weltuntergang schwadronieren”, so hört man heraus, “wir wissen zu leben und wollen das auch nicht verstecken.”

Es wird einiges auf uns zukommen, in den nächsten Jahren. Auf jeden Fall eine Polarisierung. Sogar in der Werbung…

Systemsprenger

Ein ganz anderer Film. Eher eine Fortbildung als ein normaler Spielfilm.

Strukturell betrachtet geht es um das schwierige und oft leidvolle Dreieck von Familie, Jugendhilfe und Psychiatrie. Es geht um die mehr oder weniger hilflosen Versuche, die “passsende” Maßnahme für ein Kind zu finden, das nicht zu Hause leben kann. In einer Situation, in der kein Angebot wirklich passen kann.
Auf individueller Ebene wird eindrucksvoll die verzweifelte Suche eines neunjährigen Mädchens nach Liebe, Bindung und Halt in aufrüttelnde Bilder übersetzt. Das lässt niemanden kalt.

Dieses Mädchen sprengt alle Systeme, weil die zuständigen Systeme (Jugendhilfe und Psychiatrie) nur Pseudo-Lösungen anbieten; zumindest für dieses Mädchen.
Bei ihr kommen mehrere Faktoren zusammen: Die abgrundtiefe Enttäuschung über eine Mutter, die für sie nicht Mutter sein kann; eine untherapierte Traumatisierung, die immer wieder zu unkontrollierbaren Impulsdurchbrüchen führt und eine unbändige Lebensenergie, die tragischer Weise immer wieder destruktive Ausdrucksformen findet.
Gemeinsam halten diese Bedingungen eine Dynamik aufrecht, die alle beteiligten Institutionen und Personen überfordert. So werden dann in Hilfeplangesprächen immer wieder neue Lösungen gesucht – wo doch alle Beteiligten wissen, dass jedes Scheitern die Möglichkeiten einer Verbesserung erschweren. Hilflose Helfer in einem hilflosen System.
Die einzige Erfahrung von Macht und Kontrolle, die dieses Mädchen in diesem Leben erleben kann, ist das kompromisslose Aufbegehren: Wenn ihr schon die Erfahrung zeigt, dass niemand sie wirklich auf Dauer aushalten kann, dann sich wenigstens als die fühlen, die Auslöser und Zeitpunkt bestimmt!

Der Film versucht zu zeigen, was so ein Kind wirklich sucht und braucht; welche Not und welche ungestillten Bedürfnisse und Sehnsüchte hinter dem hemmungslosen Ausagieren von Wut und Enttäuschung stecken.
Dabei geht es einmal um die endlosen Versuche, doch noch zur mütterlichen Liebe zu finden, sie letztlich zu erzwingen. Ohne Erfolg.
Es gibt aber einen Lichtblick: Ein cooler, tougher Schulbegleiter lässt sich von dem Mädchen anrühren und schlägt eine Individualmaßnahme vor, die er sonst nur für die harten Jungs anbietet: ein paar Tage in einer abgeschiedenen Hütte im Wald.
Hier entsteht sie dann doch: die wirkliche Beziehung, das bedingungslose Aushalten in einer Begegnung ohne Ausweichmöglichkeit. Das Mädchen spürt Halt, wird weich, kann sich fallen und tragen lassen.
Letztlich scheitert auch dieser Hoffnungsschimmer an den Grenzen der beteiligten Personen unter den gegebenen Bedingungen.

Genug zur Handlung.
Hat dieser aufrüttelnde Film besondere Stärken oder Schwächen?
Eigentlich steht diese Frage angesichts der dramatischen Inhalte eher im Hintergrund.
Um es kurz zu sagen: Der Film ist ohne Zweifel sehr gut gemacht. Die kindliche Darstellerin spielt absolut faszinierend. Passend, aber glücklicherweise relativ sparsam, werden filmische Effekte eingesetzt, um bestimmte Bewusstseinszustände des Mädchens darzustellen. Ansonsten spricht die Handlung für sich.
Natürlich findet man nicht jede einzelne Szene stimmig: So ist es schon ein wenig klischeehaft, dass nach einem Scheitern einer Maßnahme das Mädchen ihre in Tränen zusammengebrochene Sozialarbeiterin tröstet. Auch die Tatsche, dass das weggelaufene Mädchen ohne weitere Suchmaßnahmen eine Nacht im winterlichen Wald verbringt, ist vielleicht nicht ganz realistisch.
Aber auf solche Details kommt es letztlich nicht an.

Und die Systemfrage? Können Jugendhilfe und Psychiatrie einpacken, wenn das Urbedürfnis nach bedingungsloser Annahme durch die Eltern oder Ersatz-Bezugspersonen nicht erfüllbar ist?
Sicher nicht. Aber der Film zeigt, dass in bestimmten Konstellationen wirklich alle therapeutischen und pädagogischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen, wenn es eine Chance auf eine gute Entwicklung geben soll. Wird ein Baustein – hier die Traumatherapie – weggelassen, kracht die Hilfskonstruktion vielleicht immer wieder ein.
Der Grundbotschaft des Filmes kann man sicher nicht widersprechen: Nur ein auf Dauer verlässliches Beziehungsangebot kann so ein Kind ansatzweise “heilen” – und allzu oft scheitert dies an den Systemgrenzen.

Der Film weckt keine Hoffnungen. Das ist vielleicht insgesamt eine realistische Sichtweise.
Trotzdem ist es natürlich ein wenig schade, dass es kein Beispiel für ein Gelingen gibt. Natürlich gibt es auch positive Verläufe, in denen hoch-engagierte Fachkräfte in Therapie, Individualbetreuungen, professionellen Pflegestellen oder Auslandsmaßnahmen eine tolle Arbeit machen.
Aber das wäre dann vielleicht ein anderer Film….


Der Distelfink (nach einem Roman von Donna Tartt)

Es ist ein aktueller Film; er läuft noch in den Kinos (Stand 30.09.19).
Ich rate: Schaut ihn euch an!

Ist es sinnvoll – so könnte man sich fragen -, einen Film zu sehen, dessen Handlung man schon zweimal als Hörbuch genossen hat?

Ja, es ist sinnvoll. Literaturverfilmungen leben davon, sich an einer Vorlage zu orientieren. Für viele Menschen entsteht die Motivation zum Kinobesuch genau aufgrund der vorherigen Leseerfahrung. Man weiß, was kommt und wie es ausgeht. Aber man ist gespannt auf die filmische Umsetzung und darauf, wie eigene Fantasien mit den realen Kinobildern korrespondieren.
Aber natürlich haben auch diese Filme den Anspruch, für sich selbst zu stehen und einen Genuss auch für diejenigen zu schaffen, die unvorbereitet kommen.

Ich fand das Buch “Distelfink” grandios und habe das an anderer Stelle auch begründet. Auf den Film war ich entsprechend gespannt, habe aber versucht meine Erwartung in Grenzen zu halten. Man will ja allzu großen Enttäuschungen vorbeugen. Nach wenigen Minuten war klar, dass es nicht darum gehen würde, Frustration zu managen, sondern Begeisterung und Ergriffenheit.

An diesen Film stimmt (fast) alles. Die Atmosphäre, die Figuren, die emotionale Dichte, die Botschaft.
Und obwohl das Buch so unglaublich treffend wiedergegeben wird, hat man das Gefühl, dass das Medium Film voll zur Geltung kommt. Statt “nur” einen abgefilmter Roman zu betrachten, darf man eine eigene Kunstform genießen. Das gelingt insbesondere dadurch, dass der Aufbau der Geschichte in stark veränderter Form dargeboten wird: Aus der weitgehenden Chronologie der literarischen Vorlage wird ein durch Zeitsprünge kunstvoll aufgebautes Puzzle. So wird aus dem vermeintlichen Nachteil des Mediums (der Verkürzung und Komprimierung) ein geniales Stilmittel, mit dem man schrittweise in die inhaltlichen Zusammenhänge eingeführt wird.

Distelfink ist ein leiser Film. Es geht darum, die emotionale Dynamik der Figuren sichtbar und verstehbar zu machen.
Da ich die Versuchung des Mediums kenne, visuelle Effekte zu nutzen und zu zelebrieren, habe ich mit einiger Sorge den Handlungssequenzen entgegen gesehen, die sich dafür angeboten hätten.
Volle Punktzahl! Alles, was hätte Action-Kino werden können, wurde auf das zum Verständnis notwendige Minimalmaß reduziert. Sehr beeindruckend!

Ich bin kein Fachmann für Schauspieler oder Regie-Details. Mein Maßstab ist die Gesamt-Wirkung.
Ich kann nur sagen: Wer das Buch liebt (oder lieben würde), der/die wird auch diesen Film mögen. Sie sind aus gleichem Holz geschnitzt.

Leider kann ich nicht beurteilen, was dieser Film auslöst, wenn man nicht schon vorher so tief in die Distelfink-Welt eingetaucht war.
Ich würde es aber gerne von euch erfahren (z.B. durch einen Kommentar an dieser Stelle).
 

“Der Gesang der Flusskrebse” von Delia OWENS

Ich stelle einen aktuellen amerikanischen Südstaaten-Roman vor.
Er erzählt die Geschichte einer sehr besonderen jungen Frau, die schon als recht junges Kind nach und nach von ihren Familienmitgliedern verlassen wurde und in weitgehender Isolation und eingebettet in unberührte Natur in einem Marschland an der Küste von South Carolina aufgewachsen ist.

Es geht zunächst um die Entwicklung dieses Mädchens zur jungen Frau unter Bedingungen, die man sich als verwöhnter Mitteleuropäer nicht ansatzweise vorzustellen vermag. Ihr Überleben beruht letztlich auf ein tiefes Eingebundensein in die umgebende Natur, deren ausführliche und emotionale Beschreibung einen Schwerpunkt der Darstellung bildet.

Zu den ganz wenigen Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle spielen, gehören irgendwann zwei männliche Wesen, die im weiteren Verlauf viel mit ihrem Glück bzw. Unglück zu tun haben. Hier wird wird der Entwicklungs- bzw. Naturroman zum Liebesroman.

Wegen einem dieser Männer landet sie als Erwachsene schließlich vor Gericht, was dazu führt, dass diese Story sich – ziemlich überraschend – letztlich noch in Richtung eines Kriminal- bzw. Gerichtsromans entwickelt.

Soweit – in aller Kürze – die Fakten.
Ist es ein lesenswertes Buch?

Aus meiner Sicht eindeutig “ja”!
Die Autorin schafft es wirklich gut, ihre Leser in eine extrem fremde Welt eintauchen zu lassen. Wobei sich diese Fremdheit auf ganz verschiedene Ebenen bezieht: auf die sehr besondere Landschaft, auf die intensive Einbettung in die Natur und auf die geradezu unfassbaren Sozialisationsbedingungen eines jungen Menschen und deren psychischen Folgen.
Die bildreiche und emotionale Sprache spielt bei diesem “Einfangen” des Lesers sicher eine große Rolle. Wer sich davon – und den z.T. auch ausschweifenden Naturschilderungen – nicht abschrecken lässt, bekommt als Gegenwert einen echten Ausstieg aus dem bundesdeutschen Norm-Alltag.
Es ist eine echte Perspektiverweiterung.

Gibt es auch was zu meckern?
Ich war ein wenig überrascht (und vielleicht auch minimal enttäuscht), dass sich der Charakter des Buches in der zweiten Hälfte spürbar veränderte: Ging es zunächst scheinbar um eine ruhige und intensive Milieustudie über ein berührendes Einzelschicksal, mutierte der Roman dann doch eine wenig in “gewöhnlichere” Formen – bis hin zu einem eher krimitypischen Knaller am Ende.

Trotzdem: für mich ein besonderes Lese- bzw. Hörerlebnis!

“Deutsch für alle – Das endgültige Lehrbuch” von Abbas KHIDER

Es gibt nette Menschen, die schenken mir – ohne jeden Anlass – zwischendurch ein Buch, weil sie denken, dass es mich interessieren könnte.
Über so ein Buch schreibe ich jetzt, weil ich es – so zwischendurch – gestern Abend und heute früh gelesen habe.

Es geht mal nicht um Nachhaltigkeit oder Literatur. Es geht um die Sprache selbst. Explizit um die deutsche Sprache. Und zwar aus Sicht eines aus dem Irak stammenden Intellektuellen, der sich zunächst als betroffener Fremdling, dann als Profi (Studium der Philosophie und Literaturwissenschaften in Deutschland) mit den Besonderheiten des Deutschen auseinandergesetzt hat.

Das Ergebnis ist ein kleines Juwel.
Mit dem Lesen gewinnt man ein anderes (tieferes) Verständnis der eigenen Sprache, einen Einblick in die Mühen, Deutsch als Fremdsprache zu lernen und ein Gefühl dafür, wie man sich als hochintelligenter und gebildeter Mensch ausländischer Abstammung in diesem unseren Lande fühlt.
Lehrreich, amüsant und auch ein wenig verstörend.

Die – sehr kreative Grundidee: Der Autor schlägt eine recht durchgreifende Vereinfachung der grammatikalischen Regeln der deutschen Sprache vor. Aber nicht so ganz allgemein, sondern ganz konkret. Er liefert nicht weniger als eine neue Grammatik, die das Erlernen (und die Anwendung) dieser Sprache enorm vereinfachen würde.
Er tut das mit einer überraschenden Ernsthaftigkeit – wohl wissend, dass seine Anregungen ganz sicher nicht umgesetzt werden. Es ist also eine augenzwinkernde Ernsthaftigkeit. Er entwickelt so etwas wie eine sprachliche Utopie, die aus dem “Monster” (deutsche Sprache) eine bezwingbare Herausforderung machen könnte.

Es geht um Deklinationen, um Pronomen, um Adjektive, um Satzstellungen, um Verbformen.
KHIDER analysiert die unlogischen Kompliziertheiten und macht Alternativvorschläge. Das hört sich sehr trocken und nur mäßig relevant an – wie ein rein theoretischer Beitrag zur Germanistik.

Es gibt jedoch – wie schon angedeutet – zwei Mehrwerte (angeblich gibt es den Plural nicht; ich benutzte ihn trotzdem; Sprache muss sich auch entwickeln…):

1.  Natürlich verfolgt der Autor ein verstecktes Ziel – so denke ich wenigstens. Dadurch, dass er die Ungereimtheiten unserer Sprache entlarvt (um sie vermeintlich zu beseitigen), erklärt er die geltende Grammatik auf eine unterhaltsame Weise. Sozusagen über Bande gespielt. Er legt die Strukturen unter ein Vergrößerungsglas und macht sie so bewusst – auch den Lesern, die sich an ihre letzte Deutschstunde nur mit Mühe erinnern können.

2.  KHIDER versteht es, seine sprachanalytischen Betrachtungen mit seinen Erlebnisse als Neuankömmling bzw. als inzwischen längst integrierter “Fremderscheinender” in humoristischer Weise zu vermischen. Man bekommt einen Eindruck, wie ein Mensch, der (ca.) 95% der ihm begegnenden Deutschen intellektuell weit überlegen ist, sich in diesen Interaktionen fühlt. Dabei fällt kein böses Wort. Der Autor liebt die sanfte, ironische Darstellung – selbst wenn es um Rechtsradikale geht.

Also: Ein Büchlein, das man mit Genuss liest, wenn man Sprache mag und einen ungewohnten Blick auf den holprigen Weg der Integration werfen will.

“Die smarte Diktatur” von Harald WELZER

Ist es wirklich sinnvoll, immer mehr von PRECHT, HÜBL, HARARI, LESCH, YOGESHWAR oder eben WELZER zu lesen? Also immer genauer zu erfahren, welche Trends und Risiken unsere nahe und fernere Zukunft bereithält?
Ich weiß nicht ob es sinnvoll ist; mir bringt es immer wieder auch Vergnügen (neben den Bedrohungsgefühlen, die auch ausgelöst werden): Ich kann meine eigenen Positionen ausdifferenzieren und meine Argument schärfen. Neue Teilperspektiven runden das Bild ab.
Offen bleibt, wie weit solche verfestigten Überzeugungen zum Handeln führen (ein paar Klima-Demos waren es immerhin inzwischen).

Was bietet nun WELZER in diesem Buch (aus dem Jahre 2016)?

Nun, wie der Titel nahelegt, konzentriert er sich auf einen Aspekt der vieldiskutierten Mega-Trends: die Digitalisierung.
Er tut das in einer sehr pointierten Weise: Er nimmt ganz eindeutig Partei und besetzt die Rolle des Mahners und Warners. Er will noch mehr: WELZER will auch aufrütteln, aktivieren, zum Widerstand mobilisieren. Weil er konkrete Gefahren erkennt – nicht in einer nahen oder fernen Zukunft, sondern aktuell, hier und heute.
Diese Gefahren umfassend zu beschreiben, ist sein Ziel; dafür zieht er alle ihm zur Verfügung stehenden Register. Das zu lesen – die Bewertung schon mal vorweg – war für mich äußerst anregend und gewinnbringend, und zwar mehr als ich das (bei diesem Thema) ursprünglich erwartet hatte.

Für Menschen wie mich (und das gilt wohl für mein gesamtes Umfeld) ist WELZER einer von den Guten: überzeugter Demokrat, weltoffen und liberal, solidarisch und umweltbewusst. Er ist auf der einen Seite Kind eines antiautoritären Zeitgeistes (Jahrgang 1958, natürlich ein bisschen spät für die 68iger), sieht aber in handlungsfähigen staatlichen Institutionen (einschließlich der Sicherheitsdienste) eine notwendige Voraussetzung zum Erhalt von persönlicher Freiheit.
So weit, so “richtig”!
Er bringt nur eine Eigenschaft mit, die mir den Zugang zu seinen Überlegungen potentiell hätte erschweren können: Er hat keinerlei persönliche Affinitäten zu der digitalen “Wunderwelt”. Er kennt also nicht den speziellen Reiz, den digitale Hilfsmittel – insbesondere konzentriert in den aktuellen Smartphones – ausüben können. Er ist nicht fasziniert vom Funktionieren. Für ihn kann zwar digitale Technik nützlich und dienlich sein, sie besitzen aber keinen “Eigenwert”. WELZER guckt lieber seinem Kater beim autonomen Leben zu als auf das Display eines Google- oder Applegerätes.
Diese Kröte hatte ich also zu schlucken: Ich musste mich jemandem argumentativ anvertrauen, der die eigenen Ambivalenzen nicht teilt.

Hut ab! WELZER hat mich “eingefangen”. Auf der Überzeugungsebene, nicht auf der Handlungsebene. Ich werde mein Smartphone nicht abschaffen und auch nicht fast alle Apps deinstallieren. Aber ich werde bewusster beobachten, mich und andere.

Komische Rezension! Man weiß immer noch nicht, was eigentlich in dem Buch steht.
Ihr habt ja Recht!

Ich will motivieren, dieses Buch zu lesen; gleichzeitig weiß ich, dass nur die wenigsten dazu kommen werden. Deshalb hier ein paar Grundthesen:

  1. Die vermeintlich so innovativen und fortschrittlichen Digital-Konzerne bzw. ihre Gründer und Propheten lösen ihre Versprechen nicht ein: Statt der immer perfekteren neuen Welt (mit immer “unbegrenzteren” Möglichkeiten) bieten sie eine neue Extremvariante hinsichtlich der Konzentration von Reichtum und Macht (letztlich auch politischer) in sehr wenigen Händen.
  2. Die angeblich so “smarte” digitale Welt verbraucht nicht nur selbst ungeheure Mengen an Ressourcen und Energie, sondern hält steht fast ausnahmslos im Dienste einer weiter ungebremsten Wachstums- und Konsummaschinerie. Sie ist damit nicht die Lösung für die großen Menschheitsaufgaben (z.B. Klima), sondern ein Teil des Problems.
  3. Die von den Nutzern der digitalen Angebote (also Suchmaschinen, Internetshopping, Vergleichs- und Bewertungsportale, Facebook & Co, …) freiwillig gelieferten Daten schaffen eine zutiefst antidemokratische Macht in den Händen der Datensammler und -auswerter.
  4. Die digitale Glitzerwelt der immer ausgefalleneren Gadgets verschleiert den Blick dafür, dass die wesentliche Dinge  des Lebens (Luft, Wasser, Nahrung, Wärme, Wohnen, Gemeinschaft und Liebe) hoffnungslos analog sind – und bleiben werden.
  5. Die (freiwillige) Offenlegung der ganz persönlichen Vorlieben, Wünsche und Ziele (z.B. bei Amazon) greift langfristig auf eine kaum zu überschätzende Art die Privatheit eines jeden Menschen an. Dinge für sich oder in einem vertrauten Kreis zu halten, kommt unmerklich völlig aus der Mode.
  6. Während bei uns (z.B. in Europa) die digitale Revolution mit alle ihren Kontroll- und Überwachungsoptionen auf eine entwickelte Zivilgesellschaft stößt, in der es zumindest einen Basis-Schutz durch Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung gibt, ergeben sich für die noch (oder wieder) autokratisch regierten Staaten unglaubliche Möglichkeiten, von denen frühere Diktaturen nicht zu träumen wagten.

Das mag als Kostprobe reichen. Man merkt: Es geht um den drohenden Verlust unserer Identität als autonome Bürger mit einer geschützten Privatheit. Es geht um die freiwillige Aufgabe der so hart erkämpften Freiheitsrechte im Tausch gegen eine letztlich belanglose Konsum- und Spielwelt, die kaum ein wirklich menschheitsrelevantes Problem zu lösen vermag.

Noch ein paar Worte zu den Konsequenzen:
Prinzipiell ganz einfach: WELZER will gerne die digitale Technik nutzen. Er will nur vorher (demokratisch) entscheiden, was denn bitte die angestrebten Ziele sind. Er glaubt nicht daran, dass sich schon die richtigen Ziele herausbilden, wenn man nur der Technik den ungebremsten Raum gibt.
WELZER will und anregen, weniger Daten zu liefern (und wenn, dann eher systemverstörende).
Der Autor denkt, dass es Zeit ist, schon jetzt aktiv zu werden. Er hat eine Sympathie für Aktionen, die mit Spaß und etwas Anarchie für eine Gegenwelt eintreten. Er möchte, dass der Prozess des Engagierens schon ein Teil der Lösung ist.

Schlusswort:
Das Buch konnte “Fridays for Future” nicht mehr berücksichtigen. WELZER hätte diese Bewegung sicher als bespielhaft gewürdigt (auch wenn es hier nicht um das Digitale geht).
Ich bin nicht in allen Aspekten ganz seiner Meinung. Ich sehe nicht in jeder Überwachungskamera auf Bahnhöfen eine Gefahr für die Demokratie. Ich bin auch nicht ganz sicher, ob es wirklich antisolidarisch ist, wenn sich ein bestimmtes Risikoverhalten auf Krankenkassenbeiträge auswirkt.
Solche Details wären sicher zu diskutieren.
Genauso wie die Tatsache, dass bestimmte technische Möglichkeiten nicht nur Spaß machen, sondern auch schöpferische und kreative Möglichkeiten wecken. Nicht jeder muss Freude daran finden, seinen Kater zu beobachten.

“Die aufgeregte Gesellschaft” von Philipp Hübl

Schon wieder ein Sachbuch!
Warum tue ich mir das an, statt – zumindest auf Reisen – mal Zerstreuung in einem gut geschriebenen Krimi zu suchen?
Nun, ich habe das gelegentlich versucht, dann eher mit Science-Fiktion als mit Krimis. Einige davon sind in anderen Blogbeiträgen auch besprochen.
Aber meine Erfahrung ist: Für mich ist nichts anregender oder spannender als durch ein didaktisch gelungenes Sachbuch neue Perspektiven auf die Welt geöffnet zu bekommen und diese damit wieder ein kleines Stück besser verstehen zu können. Mit diesem Genuss können die üblichen Unterhaltungsliteratur-Genres nur in Ausnahmefällen mithalten.

In diesem Sinne und nach diesem Anspruch ist das hier besprochene Buch ein “großer Wurf”!
Es verbindet in einer – für mich beeindruckenden Weise – psychologische, philosophische und gesellschaftswissenschaftliche Erkenntnisse zu einem griffigen Modell, das einen erstaunlich breiten Erklärungswert aufweist und dabei insbesondere auf brandaktuelle Themen fokussiert wird.

Das größte Problem an diesem Buch ist der Titel. Er gibt nur einen minimalen  Hinweis auf die tatsächlich behandelten Themen. Er täuscht den potentiellen Käufer/Leser – allerdings nicht, weil er zu viel, sondern weil er zu wenig verspricht.
Mein Vorschlag würde z.B. lauten: “Wie Moralpsychologie und
-philosophie politische und gesellschaftliche Trends erklären können”.
(Dann erübrigt sich natürlich der Untertitel).

Genau darum geht es nämlich. Der Autor entwickelt – auf der Basis der “Moralwissenschaften” ein Schema bzw. eine Schablone, die sich ziemlich gut dazu eignet, – auf den ersten Blick – ganz unterschiedliche Phänomene zu verstehen.

Bzgl. der Grundfrage, ob Moral (und die daraus abgeleiteten politischen Überzeugungen) ihre Basis eher in den Emotionen oder in vernunftbasierten Abwägungen haben, schlägt sich HÜBL zunächst ganz klar auf die Seite der gefühlsmäßigen Reaktionen bzw. Bewertungen.
Er identifiziert insgesamt sechs relevante emotional verankerte Grundtendenzen. Drei davon (Fürsorge, Fairness und Freiheit) ordnet eher einem “progressiven” Weltbild, die drei anderen (Autorität, Loyalität und Reinheit) sind für ihn Ausdruck einer konservativen Grundeinstellung.
Das hört sich vielleicht (zu)  einfach an, entwickelt sich aber  im Laufe des Buches zu einem extrem hilfreichen, facettenreichen  und plausiblen Ordnungsprinzip.

Der Autor schaffte es tatsächlich, mit diesen Grundfarben einen erstaunlich großen Ausschnitt der  – so komplexen und unübersichtlichen – Welt so zu kolorieren, dass sich neue und gut strukturierte Bilder abzeichnen.  Immer wieder denkt man: “Ja, das ist stimmig; genau so könnte man das sehen!”

Ich muss mich bremsen! Am liebsten würde ich hier eine Zusammenfassung der wichtigsten Argumentationsstränge darbieten. Aber das wäre schade!
Ich will zum Lesen dieses Buches motivieren und keineswegs den Eindruck erwecken, dies hätte sich durch eine ausführlichen Rezension erübrigt.
Vielleicht beispielhaft nur eine Facette: Spannend sind die – für mich überraschenden – Zusammenhänge zwischen dem Gefühl “Ekel” und bestimmten moralischen Regeln und Haltungen (diskutiert unter der Überschrift “Reinheit”).

Das Selber-Lesen lohnt sich auf deshalb unbedingt, weil der Autor auch ein guter Didaktiker ist. Er schreibt wie ein erfahrener Wissenschafts-Journalist, strukturiert, stellt Zusammenhänge her, fasst zusammen.
Einfach toll!

Ja, ein persönliches Anliegen treibt den Autor auch um. Besser gesagt, zwei.

Einmal holt HÜBL die zu Beginn etwas in den Hintergrund gedrängte Vernunft und die darauf basierenden “autonomen” Entscheidungsmöglichkeiten des Menschen am Ende in sein Gesamtbild hinein. Das stimmt ihn letztlich hoffnungsvoll, weil es Weiterentwicklung ermöglicht – individuell und gesellschaftlich.

Etwas konkreter – und aus meiner Sicht geradezu in perfekter Weise – macht der Autor im Schlussteil deutlich, dass er die verschiedenen moralischen Grundreaktionen keineswegs nur mit wissenschaftlicher Neutralität betrachtet. Seine Sympathie für eine offene, freiheitliche und von der Tendenz eher “weibliche” Zukunftsperspektive wird aber natürlich auch nachvollziehbar aus den Befunden abgeleitet.
Und es ist geradezu ein Genuss, die Zusammenhänge zwischen autoritären bzw. rechtslastigen Einstellungen und eines stark auf emotionale Reaktionen reduzierten moralischen Urteils so überzeugend dargeboten zu bekommen.
Hier wird das, was man schon immer dazu gefühlt und gedacht hat, wirklich toll zusammengefasst. Unideologisch und nachvollziehbar.
Wer etwas nachdenkt (nachdenken kann), landet nicht im rechts-autoritären Sumpf! (Ausnahmen bestätigen die Regel).

Ach ja; ein guter Rezensent findet immer etwas Kritisches.
Nun: Wie jedes Ordnungsschema ist auch das von HÜBL nicht perfekt oder gar “wahr”. Manches wird vielleicht zu schnell “passend” gemacht. Geschenkt!
Ich würde sofort gerne ein besseres und überzeugendes Buch über diese Thematik lesen, wenn es das denn gäbe.
Ich bitte um Hinweise!

Übrigens: Den Zugang zu dem Buch hat mir der Auftritt des Autors im “Philosophischen Radio” bei WDR 5 geschaffen.

“1Q84” von Haruki MURAKAMI (1 – 3)

Bildergebnis für 1q84

Was bringt jemanden dazu, einen Roman mit der Gesamt-Hörzeit von 47 Stunden innerhalb von ca. 3 Jahren ein zweites Mal zu hören?
Entweder handelt es sich um eine Stück genialer Literatur oder man unterliegt irgendeiner speziellen Sucht.
Ein wenig süchtig bin ich wirklich nach “meinem” Japaner (dazu auch hier). Aber jetzt soll es um diesen besonderen Roman (von 2012) gehen.

Es ist nicht ganz einfach zu erklären, warum dieser dreiteilige Roman so lang ist. Die Handlung ließe sich sicherlich auf einen mittellangen Band komprimieren. Doch entspräche nicht dem Erzählstil von MURAKAMI.
Der Autor liebt die Redundanz. Er webt und lullt einen geradezu ein in diese sehr besondere Welt des Jahres 1984. Und diese Welt besteht – typisch MURAKAMI – aus zwei Ebenen: einer “realen” und eine irgendwie “mystischen”.

Der Autor liebt das Spiel mit diesen beiden Dimensionen. Er betreibt es auf eine ganz besondere Weise: Er hat einen sehr nüchternen und sachlichen Erzählstil, liebt die Schilderung von Details und schafft durch die fast gebetsmühlenhafte Wiederholung von bestimmten “Kernaussagen” einen vertrauten Rahmen, in dem die Geschichte und der Leser immer wieder ihren Halt finden. Ein bisschen so, wie das wiederholte Aufgreifen von Grundthemen in einem musikalischen Opus.
Das Raffinierte dabei ist, dass er auch die fantastischen, irrealen Aspekte seiner Geschichte so unaufgeregt und selbstverständlich erzählt wie normale Alltagsabläufe. So gewöhnt man sich als Leser auch an abstruse Gegebenheiten bzw. Abläufe und akzeptiert sie als irgendwie “echt”.
Das ist nicht zu vergleichen mit einem “Fantasy”-Stil. Es ist das geradezu lautlose Einschleichen der Irrealität in den ganz normalen Alltag – und der Autor schafft es, dass man jeden Widerstand dagegen unterlässt. Man gibt sich hin – auch weil man durch die Redundanz fast in eine Art meditative Trance verfällt.

Ach so. Worum geht es eigentlich?
Es gibt zwei Protagonisten, zwischen denen ein – fast unerträglich weiter – Spannungsbogen aufgespannt wird.
Der eine ist ein junger Schriftsteller (Autoren lieben es offenbar, über Autoren zu schreiben), der durch seine halb-legale Mitarbeit dazu beiträgt, dass der fantastische Roman eines jungen Mädchens zu einem Bestseller wird.
Die junge Frau ist eine Fitness-Trainerin, die als Nebenjob bestimmte krimineller Handlungen vollzieht – im Dienste einer guten Sache.
Die schon in der Kindheit vorhandene Verbindung zwischen den beiden wird in einem komplexen Plot miteinander verwoben. Und wie das Schicksal so spielt vollzieht sich das mithilfe der – ziemlich abgedrehten – Fantasy-Erzählung des jungen Mädchens, die in die echte Welt hineinsickert.
Man könnte auch sagen: Fiktion wird zur Realität, Realität zur Fiktion. Und dann noch mal kräftig durchschütteln!

Das Gemisch ist irgendwie einzigartig! Man liebt es oder man hasst es.

Wenn man dieses Buch gelesen und genossen hat, unterscheidet man sich von allen anderen  Menschen durch eine Besonderheit: Man weiß, was es bedeutet, einen zweiten Mond am Himmel zu sehen. Er ist das Symbol für die “zweite” Ebene.

1Q84 fordert Ausdauer und Geduld. Es schenkt ein Leseerlebnis der besonderen Art.
(Wenn es mir vergönnt sein sollte, werde ich es vielleicht in zehn Jahren nochmal genießen).

“Szenen aus dem Herzen – Unser Leben für das Klima” von Malena ERNMAN

Ich stand diesem Buch, das die weltweit bekannte Klima-Aktivistin Greta auf dem Umschlag zeigt, zunächst recht skeptisch gegenüber. Sollte da schnelles Geld gemacht werden mit der Berühmtheit von Greta als Erfinderin der Schüler-Streiks – obwohl das Buch ja von ihrer Mutter verfasst wurde und einen Zeitraum schildert, der vor dem Streik liegt? Sollte es sich gar um eine Mogelpackung handeln – schnell zusammengeschustert, um den Hype auszunutzen? Zumal das Buch bei etwas weniger großzügigem Layout durchaus noch mindestens 30 Seiten dünner sein könnte als es die 250 Seiten vorgeben?

Nach dem Lesen komme ich zu einem anderen Urteil. Dieses Buch verdient es durchaus, gelesen zu werden! Man sollte nur wissen, was einen erwartet.

Berichtet wird – wie schon gesagt – aus der Perspektive von Gretas Mutter, einer international bekannten schwedischen Opernsängerin. Sie nennt die anderen drei Familienmitglieder zwar als Mitautorin – wohl aber eher pro forma.
Geboten wird kein zusammenhängender Text, keine chronologische Erzählung, kein Sachbuch. In insgesamt 92 recht kurzen “Szenen” wird episodenhaft aus dem Leben der vierköpfigen Familie (plus Hund) berichtet.
Dabei werden folgende Themen berührt:
– Recht ausführlich wird die recht spektakuläre Krankheitsgeschichte der beiden Mädchen, Greta und Beata, und die damit verbundenen extremen Belastungen der Familie in einem offenbar phasenweise überforderten Gesundheits- und Schulsystem dokumentiert. Bei Greta geht es dabei hauptsächlich um Autismus, bei Beata u.a. um ADHS; in beiden Fällen in sehr spezifischer Ausprägung.
– Es wird dargestellt, wie es Thema “Klima-Wandel” eine zunehmende und letztlich die zentrale Bedeutung für die gesamte Familie gewinnt und letztlich in die Entscheidung Gretas mündet, einen Klima-Schulstreik zu beginnen.
– Darüber hinaus gibt es eine ganze Reihe inhaltliche Statements, die die drohende Klima-Katastrophe selbst darstellen und mit immer wieder neuen Argumenten auf die Notwendigkeit eines sofortigen und radikalen Umsteuerns in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und im Alltagsleben eines jeden Einzelnen hinweisen.

Es handelt sich um einen durch und durch subjektiven Erlebnis- und Überzeugungsbericht! Hier wird nicht nüchtern abgewogen oder diplomatisch formuliert. Hier schreibt sich eine Mutter, Künstlerin und Bürgerin eines reichen und selbstbewussten Landes (Schweden) ihr Leid, ihre Wut, ihre Überforderung und ihre letzte Hoffnung aus dem Herzen. Leidenschaftlich und ungefiltert. Im Laufe des Buches outet sich die Autorin selbst als erwachsene ADHS-lerin.
Sie ist besorgt, enttäuscht, manchmal auch verzweifelt. Über das Chaos in ihrer Familie, über die Defizite im medizinischen Hilfesystem und über Politiker, Wirtschaftsführer und Journalisten, die die Wahrheit über die Klima-Risiken verschweigen oder beschönigen.

Während des Lesens fragt man sich, was das eine mit dem anderen zu tun haben könnte, also die Krankheiten in der Familie mit der Entwicklung zu einer Familie mit extrem ausgeprägtem Klimakatastrophen-Bewusstsein.
Man kann darüber nur spekulieren. Es könnte sein, dass die “störungsspezifische” Wahrnehmung der Welt und die mit den Krankheiten verbundenen Extremerfahrungen die Familie aus den üblichen Mainstream-Bahnen von Verleugnung und Relativierung geworfen hat. Konfrontiert mit den existentiellen Nöten, die die Familie permanent ans Limit führt, ergeben sich möglicherweise andere Prioritäten.
Muss man vielleicht sogar selbst ein wenig “schräg” sein wie Greta, um die Widersprüche und Verrücktheiten im Umgang mit der Bedrohung unseres Planeten in aller Konsequenz zu erfassen und in Handlung umzusetzen?

Warum nun dieses – eher strubbelige – Buch lesen?
Nun, man bekommt eine Idee, warum eine Greta zu dieser Greta geworden ist. Und man bekommt einen anderen, unmittelbareren Zugang zum Klima-Thema als es durch ein Sachbuch erreicht werden kann. Dieser Zugang ist emotionaler, subjektiver – vermittelt aber auch noch einmal grundlegende Informationen zum Stand der Dinge.
Und natürlich wird man konfrontiert mit der eigenen – viel gemäßigteren – Haltung und den damit verbundenen Inkonsequenzen.

Wer ein Greta-Fanbuch oder eine strukturierte Biografie erwartet, wird enttäuscht werden. In Schweden hat die Autorin Promi-Status; dieses potentielle Motiv für einen Kauf scheidet hier bei uns aus. Einige Ausführungen beziehen sich logischerweise auf spezifisch Schwedische Verhältnisse.

Ich finde das Buch insgesamt anregend und nützlich.
Der Erlös wird natürlich gespendet – wie könnte es bei dieser Familie auch anders sein…