“Die Tyrannei des Schmetterlings…” von Frank SCHÄTZING

Ich bin ein wenig aufgeregt. Wage ich mich doch an die Rezension eines aktuellen Mega-Bestsellers eines der unbestrittenen Star-Autoren in unserem Lande. Ja, es geht um SCHÄTZING. Ja, es geht um das Trend-Thema „KI“ (Künstliche Intelligenz).
In den Buchhandlungen liegt sein dicker Roman auf Sonder-Tischen. Reicht das nicht als Empfehlung? Können so viele Leser irren?

Um es vorweg zu nehmen: Ich mag dieses Buch nicht! Es hat mich enttäuscht und zwischenzeitlich auch geärgert. Ich finde sogar, dass es ein schlechtes Buch ist: nicht empfehlenswert! (Und ich habe es sogar schon verschenkt…).
Dieses harte Urteil bedarf einer Begründung.

Wer SCHÄTZING kennt, weiß, dass er in seinen ausladenden Romanen in der Regel zwei Stränge miteinander vermischt: Er nimmt sich ein Hype-Thema in der Grauzone zwischen aktueller Wissenschaft und Science-Fiction vor und erzählt auf diesem Hintergrund eine auf Spannung getrimmte Geschichte von realen Personen.
Dagegen ist erstmal nichts einzuwenden. Allerdings würde ich mir wünschen, dass bei dieser Mischung das Thema – in diesem Falle die aus dem Ruder gelaufene Künstliche Intelligenz eines Super-Computers – im Mittelpunkt stände. Die Geschichte hätte dann die Funktion, eine Rahmenhandlung für die Auseinandersetzung mit dem Thema zu bilden und damit die Botschaft („Achtung: Das könnte gefährlich werden“) unterhaltsam zu vermitteln. Weil man z.B. gerade keine Lust auf ein Sachbuch hat.

SCHÄTZINGs Buch erweckt bei mir den umgekehrten Eindruck: Im Vordergrund steht der alte Konflikt „Gut gegen Böse“, es geht um Macht, um actionreiche Kämpfe, um spektakuläre Szenarien (bei denen man schon an die Verfilmungs-Rechte denkt), um Liebe, Loyalität und menschliche Hybris. Es geht um Waffen, um Gewalt, um Gruseleffekte, um Schneller, Größer, Raffinierter. Und als Spielfeld für all das dient eben diesmal die digitale Zukunft – weil es gerade mal dran ist.
Für mich stimmt die Gewichtung nicht. Ich brauche all diese endlose Action nicht und hätte gerne mehr über KI erfahren.

Vielleicht sollte ich mal erwähnen, dass es in dem Buch nicht einfach nur um super-intelligente Computer geht. Die haben nämlich schon ordentlich vor sich hin digitalisiert und algorithmisiert und haben insbesondere auf zwei Ebenen Besonderes geleistet: Sie haben Insekten aller Art zu biologisch-digitalen Wunderwaffen gemacht (daher die Schmetterlinge im Titel) und sie haben den Zugang zu beliebig vielen Paralleluniversen geschaffen. Diese kann man bereisen und dort noch fortgeschrittenere Technik mopsen. Das führt zu einer Menge weiterer Verwicklungen, die mit dem Thema KI erstmal gar nichts zu tun haben.
Aber das schadet ja nichts: Hauptsache es passieren (vermeintlich) spannende Dinge!

Doch jetzt mal zu den – in leicht verdaulichen Portionen eingestreuten – Botschaften des Buches:
Ja, es gibt tatsächlich lesenswerte Überlegungen u.a. zu folgenden Fragen:

  • Was könnte passieren, wenn selbstlernende Computersysteme die von der (biologisch determinierten) menschlichen Intelligenz ersonnenen Begrenzungen überschreiten?
  • Könnte es nicht sein, dass ab einer bestimmten Komplexitätsstufe die digitalen Netze und Systeme ein vorher nicht eingeplantes und einprogrammiertes Eigenleben entwickeln und tatsächlich so etwas wie Bewusstsein, eigenen Willen und eigene Ziele entwickeln?
  • Läge vielleicht in der Vermischung von biologischen und digitalen Elementen ein besonderes Risiko, weil sich die Potentiale beider Systeme in einer völlig neuen Art gegenseitig aufschaukeln?
  • Ist das alles wirklich prinzipiell beherrschbar? Zumal der Mensch ja auch naturgegeben zu Missbrauch und Gier neigt und selbst die bescheidenen Sicherungen noch außer Kraft setzen kann?

(Die Sache mit den Paralleluniversen ist zwar auch spektakulär; hier lohnt aber aus meiner Sicht keine ernsthafte Beschäftigung. Das ist eher was für Nerds der theoretischen Astro-Physik.)

Zurück zur Bewertung:
Wie gesagt – diese Überlegungen zu solchen digitalen Zukunftsszenarien sind wirklich anregend und machen Lust auf mehr. Was man bekommt, ist aber ein mehr an Hin-und-Her-Fliegereien, überraschenden Wendungen (wer ist nun der Ober-Böse?) und banalem Kampfgetöse – mit und ohne Waffen, mit und ohne Horror-Insekten. Für mich eher langweilig….

Ach – fast hätte ich es vergessen: die Sprache!
Der Schreibstil ist – kurz gesagt – eine echte Zumutung, geradezu unerträglich.
Hier wollte jemand um jeden Preis nahezu jeden einzelnen Satz bis zum Bersten aufladen mit Sprachgewalt – bzw. mit dem, was der Autor sich darunter offensichtlich vorstellt. Am laufenden Meter gibt es künstlich geschwurbelte Satzkonstruktionen, die mit möglichst starken und spektakulären Adjektiven und Adverben vollgepumpt sind – oft so grotesk, dass nur (unfreiwillige) Komik übrigbleibt.
Warum macht man sowas? Stand da jemand mit einem geladenen Revolver neben Herrn SCHÄTZING – oder gar mit einem angriffsbereiten Killer-Insekt? Wie kann man ein ganzes Buch dauernd auf dem höchst-möglichen Sprach-Steigerungs-Level halten?

Okay. Ich will mich nicht hineinsteigern. Gerne bekomme ich von den Lesern dieser Rezension anderslautende Rückmeldungen.
Ich werde jetzt, nachdem ich diesen Text geschrieben und gepostet habe, mal in andere Kritiken dieses Romans hineinschauen. Vielleicht verstehe ich ja dann den Sinn von allem…
(Falls das so sein sollte; werde ich dies demnächst an dieser Stelle kundtun).

Bin immer noch ein bisschen aufgeregt. Wenn nun alle anderen das Buch super finden…???

“Verzerrte Welt” von Andrew E. Kaufmann

Dieses Buch habe ich aufgrund einer persönlichen Empfehlung gelesen; von alleine wäre ich vermutlich nie darauf gestoßen. Ein Grund dafür ist, dass ich eher selten “Thriller” lese – und genau diese Bezeichnung steht auf dem Cover.

Es geht um die Welt der forensischen Psychologie. Der Ich-Erzähler, als Psychologe angestellt in einer Spezial-Einrichtung für  kranke Straftäter, bekommt den Auftrag, einen als Serienkiller von jungen Mädchen verdächtigten Mann auf seine Schuldfähigkeit zu begutachten.

Es stellt sich heraus, dass diese beiden Hauptpersonen eine Gemeinsamkeit haben, nämlich einen schizophren-gewalttätigen Vater. Dies – und die offensichtlich fast grenzenlose Manipulationsfähigkeit des Angeklagten – führt zu immer extremeren Verwicklungen, in deren Verlauf die bisher geordnete “heile” Welt des Psychologen völlig aus der Bahn gerät.

Die sehr genau beschriebene Entwicklung hin zu der Auflösung aller bis dahin als sicher geglaubten beruflichen und privaten Gewissheiten des Protagonisten machte mich beim Lesen sehr schnell ungeduldig und zunehmend ärgerlich. Es erschien einfach nicht plausibel und glaubhaft, dass dieser Verlauf tatsächlich so stattfinden könnte.

Nun ist besteht die Kunst des Rezensierens auch darin, den Clou einer Geschichte nicht vorweg zu nehmen. Das schränkt jetzt meine Möglichkeiten deutlich ein. Vielleicht istdie Anmerkung erlaubt, dass nicht alles ist, wie es scheint.

Unter dem Strich bleibt die Frage, ob in der Gesamtsicht – nach der Auflösung aller Zusammenhänge – eine spannende und/oder lehrreiche Lektüre hinter mir liegt.
Ich bin bzgl. dieser Bewertung ambivalent. Ich muss zugeben, dass ich während der überwiegenden Lesezeit eher wenig angetan und motiviert war.
Zwar gibt es im Nachhinein einen anderen Bewertungsmaßstab – aber für mich macht das allein dieses Buch nicht zu einer echten Empfehlung.
Natürlich lernt man etwas über das mögliche Erleben einer psychotischen Störung, natürlich gelingt es dem Autor, falsche Fährten zu legen.

Aber richtig überzeugt hat mich dieser Roman trotzdem nicht.
Vielleicht bin ich einfach nicht der richtige Thriller-Leser…

“Wunder wirken Wunder” von Eckart von Hirschhausen

Dieses Buch lief mir zufällig über den Weg – ich habe dann einfach mal zugegriffen. Ich will davon kurz berichten.

Hirschhausen ist ein bisschen der “everybody’s darling” der Medizin. Es ist der nette Onkel, ein sympatischer, eher harmlos wirkender Mensch, der einen bestimmt nicht überfordern möchte. Auch nicht in einem 500-Seiten-Buch.
Hirschhausen ist Mainstream, bekannt aus Funk und Fernsehen.
Lohnt es sich, so ein Buch zu lesen, wenn man sich schon einigermaßen informiert und aufgeklärt fühlt?
Insgesamt möchte ich diese Frage bejahen – wenn man auch mal seicht-unterhaltsam dargebrachte Kost mag.

Vom Selbstverständnis her soll dieses Buch der Versöhnung zwischen Schul- und Alternativmedizin dienen. Der Autor will die guten Seiten beider Ansätze nutzen und im Interesse der Patienten kombinieren.
Dieser Anspruch hat mich zunächst etwas skeptisch gemacht. Ich befürchtete eine eher wohlwollend-unkritische Haltung gegenüber den zahlreichen irrationalen Irrwegen der “anderen” Medizin. Diese Sorge erwies sich als gänzlich unberechtigt. Der Autor hat überall dort, wo es um eine Abgrenzung von Scharlatanerie, Esoterik und windigen Heilsversprechen geht, eine glasklare Haltung. Er arbeitet immer wieder sauber heraus, was an den alternativen Heilungsansätzen hilfreich und nützlich ist: nicht der (sowieso nicht messbare) Inhalt von irgendwelchen Globulis oder die Wirkung geheimer Kraftfelder, sondern Zeit, empathische Zuwendung und persönliches Gespräch.
Das Erfolgsgeheimnis von Heilpraktikern und Naturheil-Ärzten liegt nicht in ihren spezifischen Methoden, sondern in der angebotenen Beziehung, in der die Patienten auch oft ein wenig von ihrer Sehnsucht nach der “Heil-Kunst” befriedigt finden.

Hirschhausen benutzt zwar den reißerischen Begriff “Wunder” als Buchtitel, beschreibt aber letztlich wortreich die vielen Facetten des Placebo-Effektes. Dabei macht er deutlich, dass das systematische Wecken und Nutzen von positiver Erwartung und Zuversicht – mit den damit verbundenen Selbstheilungskräften –  bestimmte Rahmenbedingungen brauchen. Er betrachtet den Patienten nicht nur als Empfänger von Informationen und Arznei-Stoffen, sondern als Menschen, die in der Gesamtheit ihrer Voraussetzungen und Bedürfnisse gesehen werden wollen.
Seine Vorstellung einer angemessenen medizinischen Grundversorgung erfüllt eher der klassische Hausarzt als das hochspezialisierte und technisierte Facharzt-Zentrum.

Das Wunder-Buch ist aber viel mehr als ein Plädoyer für eine menschliche Medizin. Es ist ein recht umfassender Gesundheits-Ratgeber für den Alltag; nicht für das Erkennen und Behandeln bestimmter Erkrankungen, sondern als Richtschnur für eine gesundheitsfördernde Lebensweise. Sympathisch ist dabei die unaufgeregt-humorvolle Darstellung, aus der ununterbrochen Toleranz für menschliche Schwächen und Unvollkommenheiten träufelt.

Besonders  gefallen hat mir, dass Hirschhausen auch nicht blind für die gesellschaftlichen Bedingungen von Gesundheit und Krankheit ist. Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er auch die Bedeutung von Bildung für das Gesundheitsverhalten anspricht – ebenso wie einige bekannte Fehlentwicklungen in unserem milliardenschweren Gesundheitssystem, das seiner Überzeugung nach in einigen Bereichen eher an einer Überversorgung als an einer Unterversorgung leidet.

Mein Tipp: Dies Buch ist ein gutes Geschenk für Menschen, die wohldosierte und nett garnierte Informations- und Aufklärungshäppchen ohne erhobenen Zeigefinger genießen wollen. Ein Gesundheitsbuch für diejenigen, die sich dieser Thematik ohne den Promi-Bonus und den anekdotenhaften Stil nicht in dieser Ausführlichkeit widmen würden.

Aufklärung, die nicht anstrengt und nicht weh tut. Aus meiner Sicht ohne Nebenwirkungen.

…. Autozeitschriften

Manchmal sitzt man irgendwo und hat keine Wahl. D.h. – eigentlich hätte man doch eine Wahl, denn man könnte ja irgendwas mit dem Smartphone machen. Das könnte man immer. Aber denke ich: “Du willst nicht zu den Menschen gehören, die immer und überall aufs Handy glotzen!”. Und dann nehme ich mir eine Zeitschrift…

Neulich in der Werkstatt war die Auswahl begrenzt. Es gab nur “Auto-Bild”. Ich fing an zu blättern. Und dann staunte ich.

Es kann doch unmöglich wahr sein – so dachte ich – dass hier die Zeit stehen geblieben ist. Befinde ich mich im Jahr 1968? Spiele ich noch Auto-Quartett?Dreht sich diese skurrile Welt hier wirklich noch um autoähnliche Geschosse, die über 600 PS in sich tragen? Wird hier über “fehlenden Fahrspaß” geschrieben, weil irgendein Familienauto mit 150 PS untermotorisiert wäre? Freut man sich kindisch, weil irgendein BMW-Sondermodell nochmal einen Meter länger ist als die normale 7-ner-Reihe?

Leben diese Menschen – die Redakteure und die Leser – wirklich in der gleichen Welt wie ich?

Es geht mir nicht darum, hier irgendeine moralisch-intellektuelle Überlegenheit zu zelebrieren. Aber ich begreife einfach nicht, wie Auto-Journalismus im Jahre 2018 noch mit der gleichen naiven Begeisterung über reinen Technik-Protz überleben kann. Es fällt mir wirklich schwer, dass Thema “Auto” aus dem Kontext des 21. Jahrhunderts zu reißen. Und dieser Kontext heißt: Klimawandel, Schadstoffe, Lärm, moderne Mobilitätskonzepte, lebenswerte Städte, Energiesparen, Sicherheit.

Ich will den Menschen nicht den Spaß am Leben nehmen. Nicht jede unserer Entscheidungen oder Handlungen muss den Umweltengel tragen. Aber ich erlaube mir die Frage: Wie lange sollen die PS-Dinosaurier noch wie Götzen angebetet werden? Darf sich das Bewusstsein einer Gesellschaft auch irgendwann mal weiterentwickeln? Haben wir vielleicht angesichts der dramatischen Veränderungen einfach keine Zeit, bis der Auto-Wahn auch aus den letzten Köpfen von selbst verschwunden ist?
Konkret: Muss man in irgendwelchen Autotests immer die hoch-motorisiertesten Varianten gegeneinander antreten lassen? Muss man irgendwelche verrückten und unbezahlbaren Extrem-Autos verherrlichen?

Genug aufgeregt. Eigentlich wollte ich mich ja nur wundern….

“Shape of Water” – ein Film von Guillermo del Toro

Dieser Film nimmt einen mit in eine längst vergangene (amerikanische) Welt; er ist auf eine liebenswerte und perfekte Art altmodisch.

Altmodisch, weil das Ambiente der 50iger/60iger Jahre wirklich detailverliebt umgesetzt wird.
Altmodisch, weil es sich um einen so klaren Kampf “gut gegen böse” handelt.
Altmodisch, weil die Liebe noch alle Grenzen überschreitet – selbst zwischen Mensch und einem einsamen Fantasiewesen.
Altmodisch, weil er sich traut, nichts als ein Märchen zu erzählen.
Altmodisch, weil hier Kino noch die gute alte Traumfabrik sein darf.
Altmodisch, weil es natürlich eine Art Happy-End gibt (das darf mal wohl bei einem solchen Film, bei dem es nicht wirklich auf die Handlung ankommt, sagen).

Darüber hinaus ist dieser Film auch ein Fest für Cineasten: Er spielt virtuos und gleichzeitig augenzwinkernd mit Versatzstücken aus Spionage-, Fantasy-, Musical- und Liebesfilm.
Natürlich ist auch die filmtechnische Umsetzung über jeden Zweifel erhaben – aber das ist eigentlich nicht so wichtig.

Und der Film zelebriert das Thema “Wasser” auf vielen verschiedenen Ebenen – mit z.T. genialen Bildern und Szenenübergängen. Ein Genuss für Freunde von visuellen Ideen jenseits der krachenden Computer-Effekten.

Ach ja – da bleibt ja noch die Liebe: Zwei einsame und unverstandene Wesen finden – gegen jede Wahrscheinlichkeit und Vernunft – doch zueinander, weil sie sich in einem innersten Kern gegenseitig entdecken. Dabei spielt die Gemeinsamkeit der Stummheit eine entscheidende Rolle. In einer Zeit, wo vermeintlich alles gesagt werden kann und alles gesagt werden muss, finden zwei sprachlose Wesen eine ganz andere Verbindung.
Vielleicht kann man das als Metapher dafür betrachten, dass sich eine tiefere Seelenverwandtschaft nicht gleich an der Oberfläche zeigt und auch nicht von den üblichen Attributen einer Attraktivität abhängig ist.

Man kann und darf aber auch diesen Film einfach als eine amüsante und unterhaltende Auszeit aus der Elektronik- und Facebookwelt genießen. Man darf schmunzeln  – oder gerührt sein – und das Kino insgesamt bereichert verlassen.
Wer das möchte, trifft mit diesem Film eine gute Entscheidung.

“Leere Herzen” von Juli ZEH

Es geht um den neuesten Roman der angesagten Erfolgs-Schriftstellerin, erschienen im November 2017. Jeder, der sich ein wenig für Literatur interessiert, hat schon von dem Titel oder der Autorin gehört. Ich habe den Roman mal wieder als Hörbuch konsumiert und habe das mit großem Vergnügen und Gewinn getan. Warum, das will ich hier kurz begründen.

Natürlich bietet der Roman mehrere Betrachtungsebenen an.

Die Story hat krimi-artige Facetten; es gibt einen Spannungsaufbau und mehr oder weniger überraschende Wendungen. Es geht um Gefahren und Gewalt. Es gibt die eindeutig “Bösen”; bei den “Guten” sind die Verhältnisse nicht ganz so klar…
Letzteres hat damit zu tun, dass das Ganze in einem sehr speziellen Umfeld spielt: Es geht um eine sehr eigenwillige (und etwas schräge) Verbindung zwischen der therapeutischer Arbeit mit potentiellen Selbstmördern und der Organisation “terroristischer” Anschläge. Mehr soll hier nicht verraten werden.

Diese Handlung ist eingewoben in das Leben einiger Hauptpersonen. Dazu gehören zwei Ehepaare mit ihren Töchtern, ein Mitarbeiter der Selbstmord-Praxis und insbesondere eine potentielle Selbstmörderin. Wir bewegen uns in einem liberal-alternativen Milieu; die detailreich gezeichneten Figuren sind erstmal eher Sympathieträger, laden die Leserschaft zur Identifikation ein. Es handelt sich nicht um Abziehbilder, sondern um Personen mit Ecken und Kanten, mit biografischen Spuren.

Die dritte Ebene ist sicher die wichtigste; hier lauern ganz offenbar die zentralen Botschaften, die uns Juli ZEH vermitteln möchte. Ich würde sie mal als politische/gesellschaftliche Ebene bezeichnen.
Der entscheidende Clou des Romans ist nämlich, dass wir uns in der Nach-Merkel-Ära befinden, die  – man könnte es fast ahnen – eine AfD-Ära ist.
Natürlich heißt die Bewegung im Buch anders – aber es geht ganz eindeutig um die Darstellung der Veränderungen, die mit der Regierungsübernahme einer populistisch-nationalistisch-autoritären-rückwärtsgewandten Partei verbunden sein könnten.
Das Spannende und Lohnende daran ist, dass diese gesellschaftliche Klimaveränderung eher in leisen Tönen beschrieben und eher an unspektakulären Beispielen veranschaulicht wird. Das Faszinierende und Erschreckende ist die offenbar sehr rasch eingetretene Gewöhnung, die fortschreitende Normalisierung und Relativierung. Man arrangiert sich, zieht sich ins Private zurück, sucht nach den kleinen Lösungen. Den Glauben an die großen Ideale hat man aufgegeben; es herrscht Resignation. Die Mehrheit hat es ja offenbar so gewollt!

Auf diese – aus meiner Sicht schon sehr kunstvolle und feinsinnige – Analyse eines nahen gesellschaftlichen Zukunfts-Szenarios wird ganz am Ende des Buches noch eine Ebene draufgelegt. Hier gewinnt das Buch noch weiter an Format, denn es verbindet in diesem Finale die ziemlich verrückte Zuspitzung der Story mit einer sehr ersten und grundsätzlichen Aussage über die zulässigen Mittel der politischen Auseinandersetzung.
Da ich hier inhaltliche Vorwegnahmen (also ein Spoilen) vermeiden möchte, kann ich leider nicht konkreter werden; letztlich geht es um die alte Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt.
Ich finde die gegebene Antwort sympathisch und richtig – und ich sehe in dieser hier vorliegenden Aufbereitung dieses Konflikts eine tolle literarische Leistung.

Ein Roman besteht nicht nur aus Inhalt, sondern auch aus Sprache. Logischerweise. Juli ZEH benutzt immer wieder schöne Bilder, manche Formulierungen verdienen ein genussvolles Innehalten. Sie schreibt einen modernen Roman, ohne dass die Lesbarkeit durch eine übertrieben auf modern getrimmte Sprache leidet. Dadurch wird das Buch für ein breites Publikum attraktiv: Die thematische Einbettung spricht eher ein junges Publikum an, die sprachliche Umsetzung ist zeitlos.

Ein tolles Buch!

“Hologrammatica” von Tom HILLENBRAND

Wir befinden uns im Jahr 2088 und haben es vor allem mit folgenden Phänomenen zu tun:

  • Die ganze Welt ist von hologramm-artig projizierten Oberflächen überzogen, unter denen manchmal eine ganz andere reale Welt versteckt ist.
  • Menschen, die ihr Gehirn in eine kleine Metallkugel geladen haben, können zwischen verschiedenen Körperhüllen wechseln.
  • Es gibt Künstliche Intelligenz (KI), die von den Menschen mehr oder weniger in Schach gehalten wird.
  • Die Klima-Veränderung ist weit fortgeschritten; die beliebtesten und teuersten Siedlungsgebiete liegen in Sibirien und Nord-Kanada.
  • Es gibt einen direkten “Fahrstuhl” ins Weltall, mit dem Menschen und Rohstoffe transportiert werden können

Ansonsten ist die Welt geradezu befremdlich normal: Der Erzähler, eine Art Privat-Detektiv – trinkt Unmengen Kaffee und Whiskey, mag Sex (mit Männern) und verliebt sich sogar ein wenig. Man hat den Eindruck, dass sich der Autor ganz bewusst auf einige Zukunftsszenarien konzentriert und beschränkt hat – und den Rest einfach so gelassen hat. Das erleichtert dem Leser natürlich die Orientierung – weil vieles eben doch noch vertraut erscheint. Okay – das mit dem Kaffee ist doch ein bisschen breit ausgewalzt…

Die Story ist ziemlich komplex und abgedreht, letztlich aber doch irgendwie verstehbar. Menschen sind nun mal Menschen – auch wenn sie ihre Schwächen und Verrrücktheiten zukünftig noch in anderen Ebenen und Kanälen ausleben können. Es geht weiterhin um Familien-, Liebes- und Machtthemen. Und natürlich um maßlosen Reichtum und den Wunsch nach ewigem Leben.

Bis auf ein paar Durststrecken fand ich das Buch intelligent-unterhaltsam. Es ist aber kein Ausnahme-Werk, das ich jedem ans Herz legen würde.

“Der weite Weg der Hoffnung” von Loung UNG

Es geht um das Leben und Überleben in Kambodscha unter dem Schreckens-Regime der Roten Khmer. Die Autorin schildert Ihre Kindheit, die dadurch bestimmt war, dass sie urplötzlich aus einem behüteten Mittelschicht-Leben in ein jahrelanges Martyrium von Hunger, Unterdrückung und Zwangsarbeit geworfen wurde. Sie hat – anders als Millionen andere – überlebt.

Was kann man lernen aus diesem Buch?

  • Es  wird an diesem Einzelschicksal deutlich, wie wahnwitzig die Vorstellung ist, eine “ideale” Welt durch das rücksichtslose Umsetzen einer Ideologie zu schaffen. Die Roten Khmer waren nämlich von der Idee besessen, dass jede Form von Bildung oder Kultur den Menschen von seiner wahren Bestimmung abbringt, ein einfaches Landleben in absoluter Gleichheit zu führen.
  • Während man das Mädchen und seine Familie durch die Stationen ihrer Odyssee begleitet,  bekommt man ein Gefühl dafür, was Menschen – auch Kinder – alles aushalten können, wenn es die Umstände erzwingen. Anpassungsfähigkeit und Überlebenswille sind offenbar extrem starke Kräfte, die für das Weiterbestehen unserer Art sicherlich sehr bedeutsam waren.
  • Gleichzeitig entsteht auch ein Zweifel, ob eine Übertragung auf unsere aktuelle Lebenssituation wirklich möglich wäre: Unter solchen Bedingungen überleben zu können, hatte sicher auch mit einer kulturspezifischen Haltung und Genügsamkeit zu tun und vor allem mit einem geradezu unauslöschbaren Familiensinn.
  • Fassungslos macht immer wieder das Fehlen von Empathie, Mitgefühl, Mitleid. Geschildert wird das nicht nur im Umgang zwischen ideologisch aufgepeitschten Soldaten und ihren Umerziehungsopfern, sondern auch zwischen den “einfachen” Menschen, die sich nur in kleinen Facetten voneinander unterscheiden. Ist die für “uns” (damit meine ich mein Umfeld) so selbstverständliche Mitmenschlichkeit vielleicht doch nur ein hauchdünner zivilisatorischer Umhang über dem “Biest” in uns? Was ist mit den kleinen Zipfeln von Solidarität, die hin und wieder auch unter den unmenschlichsten Bedingungen sichtbar werden?

So ein Buch ist eben doch mehr als nur die Geschichte eines Einzelschicksals. Es zu lesen, reißt einen doch ein wenig heraus aus der Komfortzone, die kaum größere Aufreger zu haben scheint als eine verzögerte Regierungsbildung.

Natürlich hätte man das alles auch in 200 statt in 300 Seiten packen können – aber auch die Ausführlichkeit und die eindringliche Art der Darstellung vermittelt etwas von dem Grundgefühl dieser schrecklichen Epoche.

Wie viele Beispiele brauchen wir noch, um zu begreifen, dass  Menschenverachtung kein Schritt auf dem Weg zu einer besseren Welt sein kann?!

“Patria” von Fernando ARAMBURU

Ein großer Roman. 750 Seiten. Ein Stück echte Literatur.

Inhaltlich geht es um den ETA-Terror im Baskenland, der in den 70iger Jahren Spanien in Atem hielt. Es wird beschrieben, wie sich aus dem Stolz, ein Baske mit eigener Kultur und Sprache  zu sein, allmählich der zerstörerische Wahn ausbildet, mit der Waffe gegen die vermeintlichen Unterdrücker kämpfen zu müssen. Und es wird erzählt, was danach möglich oder unmöglich ist beim Heilen der Wunden und im Prozess der Versöhnung.

In zwei – ursprünglich befreundeten – Familien stoßen scheinbar alle denkbaren Facetten und Widersprüchlichkeiten dieser Gemengelage aufeinander: zwischen Täter und Opfer gibt es eine ganze Reihe von Abstufungen quer durch die Familien – mit weitreichenden Folgen für die Lebensläufe der beteiligten Personen.

Der Autor schildert diese menschlichen Verstrickungen rund um den Terror mit einer bemerkenswerten Eindringlichkeit und  schafft es so, allen Personen einen nachfühlbaren, psychologisch stimmigen Charakter zu geben. Man versteht diese Menschen, weil man sie so von innen heraus kennen lernt. Ihr Verhalten scheint zwangsläufig – weil sie so sind, wie sie sind. Was nicht bedeutet, dass es kein “richtig” oder “falsch” gäbe: es gibt keinen Zweifel daran, dass der Autor den sich schleichend ausbreitenden Hass, der in zahlreichen Morden endet, für ein Krebsgeschwür hält. Aber er lässt verstehen, warum dieser Tumor der Unmenschlichkeit auch zwischen zwei eng befreundeten Familien seine zerstörerische Kraft entfalten kann.

Das gesamt Buch ist wie ein riesiges Puzzle zusammengesetzt aus extrem kurzen Kapiteln von durchschnittlich ca. fünf Seiten. Es handelt sich jeweils um kurze Momentaufnahmen und diese setzen sich nur ganz allmählich zu einem Gesamtbild zusammen. Dabei wird insgesamt ein Zeitraum von über 20 Jahren durchmessen – jedes Kapitel setzt an einem anderen Punkt an. Dabei werden zwei Spannungsbogen parallel aufgespannt: die der entscheidenden Mordtat und die des Aussöhnungsversuchs.

Dass nicht nur die Konstruktion des Buches sondern auch die sprachliche Umsetzung von hoher literarischer Qualität ist, versteht sich schon fast von selbst.

Das größte Kompliment für den Autor eines solchen Buches ist aber vermutlich, dass seine Botschaft gehört wird. Diese Botschaft wird auf eine eher leise, aber absolut unüberhörbare Weise vermittelt:
Die ganz normale alltägliche Menschlichkeit ist so viel wertvoller und bedeutsamer als jedes ideologisch aufgeblähte Ideal!

Der Roman von Aramburu macht Mut, weil sich die Humanität letztlich ihren Platz weitgehend zurückerobert. Aber er bietet auch mahnendes Anschauungsmaterial dafür, wie eine gesellschaftliche Verrohung im Dienste einer “großen Idee” um sich greifen kann. Gründe, einer solchen Gefahr auch aktuell entgegenzutreten, lassen sich nicht nur im heutigen Spanien finden….

“Unter der Drachenwand” von Arno GEIGER

Ein Kriegsroman, der die Zeit kurz vor dem Ende des 2. Weltkrieges beschreibt. Es geht um einen jungen österreichischen Soldaten, dem eine Verwundung ein Jahr Auszeit in einer ländlichen Umgebung ermöglicht.

Geiger spannt ein atmosphärisch dichtes erzählerisches Netz auf, in dem nicht nur der Ich-Erzähler sondern auch seine und die Familie seiner Geliebten und ein jüdisches Einzelschicksal zu Wort kommen. So ergibt sich ein vielschichtiges Bild vom “Leben und Leiden im Krieg”, das sich vor allem durch eine – manchmal fast übertrieben detailverliebte – Alltagsnähe auszeichnet.

Alle Figuren werden sehr plastisch gezeichnet; man lernt reale Menschen mit all ihren Widersprüchen kennen. Genau das macht die Qualität dieses Buches aus: Es sind mehr die leisen, unspektakulären Erlebnisse und Beobachtungen, die den Irrsinn des Nazi-Krieges spürbar werden lassen. Nicht überwiegend auf dem Schlachtfeld, sondern in der scheinbar beschaulichen Provinz. Auch die große Politik reflektiert sich an Einzelpersonen – und es werden durchaus auch Grauzonen sichtbar. Selbst beim Erzähler, der eine existentielle Entscheidung treffen muss.

Die eingewobene Liebesgeschichte zwischen dem Soldaten und einer verheirateten Frau und die solidarische Beziehung zu einem regimekritischen Nachbarn macht deutlich, dass Menschlichkeit auch in kriegerischen Zeiten möglich und lebbar ist. Insofern macht der Roman auch Mut: Auch unter schwierigen und bedrohlichen Umständen lohnt es sich, eine elementare Grundanständigkeit zu bewahren und den Spuren von Vertrauen und Zuwendung zu folgen.

Ein aufklärender und menschenfreundlicher Roman – der vielleicht an einigen wenigen Stellen doch ein paar Längen aufweist.