“Seelenzauber” von Steve AYAN

Bewertung: 3.5 von 5.

Schon der poetisch aufgeladene Titel dieses Buches macht deutlich, dass es sich um eine besondere Form der Geschichtsschreibung handelt – nicht um nüchterne Wissenschaftshistorie, sondern um eine eher an Stimmungen und Personen gebundene Erzählung über ein Jahrhundert Psychotherapie. Tatsächlich nimmt uns Steve Ayan mit auf eine Zeitreise, die sich in weiten Teilen wie ein biografisches Gesellschaftspanorama liest – mit dem Zentrum im berühmten Wiener Salon Sigmund Freuds. Dass das Buch im Untertitel von einer „Bilanz des Jahrhunderts der Psychologie“ spricht, wirkt dabei fast schon wie eine bewusste Irreführung: Im Kern geht es nicht um die Psychologie als Ganzes, sondern um die Entwicklung und innere Dynamik der Psychotherapie, genauer gesagt – um die Psychoanalyse und ihre Verästelungen.

Ayan folgt der Entstehung und Differenzierung der psychoanalytischen Bewegung mit großer Detailverliebtheit. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf Theorien und kulturellen Einbettungen, sondern vor allem auf den Persönlichkeiten: Freud, Jung, Adler, Reich, Rank – sie alle treten in ihren Eigenheiten, Eitelkeiten, Neurosen und Konflikten auf die Bühne. Das macht den Text lebendig, bisweilen fast romanhaft – und doch bleibt man als Leser irgendwann erstaunt zurück: Wo bleibt der Rest der Psychotherapie?

Erst spät und eher zögerlich widmet sich Ayan den anderen großen Schulen: dem amerikanischen Behaviorismus, der Gesprächs-, Gestalt- oder der Verhaltenstherapie.
Und selbst dort schlägt immer wieder der Bezug zur Analyse durch. Kaum glaubt man, der Blick wende sich nun gleichberechtigt anderen Richtungen zu, ruft Ayan doch wieder die alten psychoanalytischen Grabenkämpfe auf – oft mit einer fast klatschhaften Freude an persönlichen Dramen. Dass er dabei keineswegs als unkritischer Bewunderer Freuds auftritt, macht die Lektüre nicht weniger widersprüchlich. Im Gegenteil: Ayan formuliert sehr klar alle bekannten Schwächen der Psychoanalyse – ihre wissenschaftliche Unschärfe, die unzureichende empirische Evidenz, ihre teils sektiererischen Züge. Warum dann immer wieder diese Rückkehr zu genau dieser Welt?

Ein möglicher Grund liegt auf der Hand: Die Protagonisten der Psychoanalyse liefern mit ihren exzentrischen, oft toxischen Persönlichkeitszügen das dramatischere Material. Das verführt – aber es verzerrt auch.
An einigen Stellen gerät AYANs Auswahl der behandelten Figuren ins Groteske: Dass etwa Rudolf Steiners esoterische Denkgebäude ausführlich dargestellt werden, lässt einen am thematischen Fokus des Buches zweifeln. Fragwürdiger wird es auch, wenn zum Abschluss marxistisch inspirierte Therapiekonzepte angerissen werden – ohne echten Erkenntnisgewinn.

Doch dann kommt das Schlusskapitel – und es versöhnt. Hier gelingt AYAN ein stimmiges Resümee: Der weite Weg von Freuds Sofa bis zur modernen, pragmatischen Dienstleistungspsychotherapie wird in klarer Sprache mit einem kompetenten Blick für die großen Entwicklungslinien zusammengefasst. Trotz seiner Schlagseite bleibt Seelenzauber ein lesenswertes Buch – vor allem für Leserinnen und Leser, die ein starkes Interesse an der psychoanalytischen Welt und ihren historischen Verwicklungen mitbringen. Wer sich weniger für Persönlichkeitsgeschichten und innerprofessionelle Eitelkeiten begeistert, wird zumindest eine unterhaltsame Geschichtsstunde erleben.

Du möchtest das Buch kaufen?
Mach Amazon nicht noch reicher und probiere mal den “Sozialen Buchhandel”, der aus jeder Bestellung eine kleine gemeinnützige Spende macht.
Der Preis für dich ändert sich dadurch nicht; die Lieferung erfolgt prompt. Klicke einfach auf das Logo.
Oder unterstütze einen kleinen Buchladen vor Ort.

“See der Schöpfung” von Rachel KUSHNER

Bewertung: 3 von 5.

Es gibt Bücher, bei denen man sich nach der Lektüre beinahe schuldig fühlt, weil man den allgemeinen Begeisterungssturm nicht teilen kann. Wenn ein Werk von der Literaturkritik mit Lob überhäuft und für namhafte Preise nominiert wird, wächst der Druck, sich diesem Urteil anzuschließen. Und das eigene abweichende Urteil löst Zweifel aus: Hat man etwas übersehen? Oder ist man einfach nicht empfänglich für den besonderen Ton, den diese Literatur anschlägt?

Im Zentrum dieses Romans steht eine Ich-Erzählerin, die im Auftrag einer privaten Organisation eine Gruppe französischer Umweltaktivisten infiltriert. Die 34-jährige Sadie hat ihr Handwerk einst beim FBI gelernt. Ihre Tarnungen sind perfekt, ihre Loyalität gilt einzig dem Auftraggeber (und ihrem Honorar) – moralische Bedenken oder gar Skrupel kennt sie nicht. Diese Konstellation eröffnet eine reizvolle Prämisse: eine Agentin ohne ethischen Kompass, die sich auch persönlichste Beziehungen strategisch zunutze macht, um ihre Ziele zu erreichen.

Bemerkenswert ist, mit welcher Detailtreue und psychologischen Tiefe einige Mitglieder der Aktivistengruppe beschrieben werden – besonders eine Figur sticht durch ihre radikale Entwicklung hervor. Der Text erlaubt Einblicke in extreme Rückzugs- und Fantasiewelten, die weit über das hinausgehen, was man als bloße politische Radikalisierung verstehen würde. Eine zusätzliche Ebene bringt die spekulative Idee ins Spiel, die Welt hätte sich womöglich ganz anders entwickelt, wenn sich nicht der Homo sapiens, sondern der Neandertaler durchgesetzt hätte. Alte Mythen des Landstrichs, in dem die Handlung spielt, dienen als Projektionsfläche für diese evolutionäre Alternativgeschichte.

Auch sprachlich hebt sich der Roman zweifellos vom Mittelmaß der Unterhaltungsliteratur ab. Der Stil ist anspruchsvoll, pointiert, gelegentlich philosophisch grundiert.
Und doch bleibt der Gesamteindruck zwiespältig. Die einzelnen inhaltlichen Ebenen – politische Milieustudie, persönliche Tragödien, anthropologische Spekulation – greifen zwar textlich ineinander, ergeben aber letztlich kein überzeugendes kohärentes Ganzes.
Die Protagonistin bleibt durch ihr berechnendes, empathieloses Verhalten schwer zugänglich, fast schon abstoßend. Die Darstellung der Aussteiger-Szene changiert zwischen Romantisierung und Kritik, findet jedoch keinen klaren Standpunkt. Der Einfluss gescheiterter Lebenswege, Alkohol- und Drogenmissbrauchs wird nicht verschwiegen; gemischt werden diese Aspekte in einer wenig überzeugenden Weise mit einem stabilen antikapitalistischen gesellschaftliche Gegenentwurf.

So bleibt ein Buch, das sich bewusst vom literarischen Mainstream absetzt, aber in seiner etwas zerrissen wirkenden Komplexität nicht restlos überzeugt. Thematisch und sprachlich anspruchsvoll, ja – aber nicht in dem Maße bemerkenswert, wie es der Konsens der literarischen Kritikerszene vermuten lässt.

Du möchtest das Buch kaufen?
Mach Amazon nicht noch reicher und probiere mal den “Sozialen Buchhandel”, der aus jeder Bestellung eine kleine gemeinnützige Spende macht.
Der Preis für dich ändert sich dadurch nicht; die Lieferung erfolgt prompt. Klicke einfach auf das Logo.
Oder unterstütze einen kleinen Buchladen vor Ort.

“Parts Per Million” von Theresa HANNIG

Bewertung: 2.5 von 5.

(Achtung: Spoiler-Warnung! Einigen könnten in dieser Rezension die Hinweise auf den Handlungsverlauf zu weit gehen; wer sich den Spannungsbogen in vollem Umfang erhalten möchte, sollte die Rezension vielleicht eher im Nachhinein lesen und mit dem eigenen Eindruck abgleichen.)

Theresa Hannigs neuer Roman “Parts Per Million” knüpft erzählerisch an die reale Situation der Autorin an: Ein Folgeprojekt ihres erfolgreichen Romans („Pantopia“) steht aus, Inspiration ist rar. Dann gerät die Ich-Erzählerin zufällig in eine Protestaktion von Klimaklebern. Was zunächst wie eine bedeutungslose Episode erscheint, entwickelt sich zur Initialzündung für eine weitreichende persönliche Transformation, die das Privat- und Familienleben der Protagonistin völlig durcheinanderwirbelt.

Die Protagonistin tastet sich zunächst neugierig und beobachtend an die Szene heran, beginnt zu recherchieren und lässt sich zunehmend hineinziehen in eine Welt, in der moralische Dringlichkeit und politischer Aktionismus eine explosive Mischung eingehen. In mehreren Stufen wandelt sich ihre Rolle: Von der interessierten Außenstehenden zur aktiven Mitstreiterin bis hin zur zentralen Figur einer radikalisierten Gruppierung, die mit immer drastischeren Mitteln gegen die “Klimakiller” unserer Gesellschaft vorgeht.

HANNIG strukturiert ihren Roman auch als warnende Aufklärung: Jedes Kapitel beginnt mit einer realen, alarmierenden Klimanachricht – ein erzählerisches Stilmittel, das die – unzweifelhafte – Dringlichkeit des Themas betont. Im Zentrum steht jedoch nicht der Klimawandel selbst, sondern die Frage, wie weit Aktivismus gehen darf bzw. vielleicht auch muss.
Zunächst dominiert das Ideal der Gewaltfreiheit, doch mit wachsender Frustration über die Wirkungslosigkeit symbolischer Aktionen verschiebt sich das moralische Koordinatensystem der Gruppe zunehmend. Gewalt wird nicht nur als Mittel zur Aufmerksamkeitserzeugung eingesetzt, sondern auch als eine Art Erziehungsmittel (Strafe) und zur Erzeugung konkreter Angst („ich könnte der Nächste sein“). Wirklich erschreckend ist jedoch die Radikalität, mit der die physische Ausübung der Gewalt als emotional befriedigend beschrieben wird.

An dieser Stelle beginnt der Roman problematisch zu werden. Die Grenzverschiebung in Richtung Gewalt wird erzählerisch kaum kritisch begleitet, sondern nimmt Züge einer geradezu sadistischen Gewaltorgie an.
Zwar wird ganz am Ende ein Kontrollverlust – und somit ein Scheitern der Strategie – dargestellt, eine inhaltliche Reflexion über Schuld, Verhältnismäßigkeit oder moralische Grenzen bleibt aber weitgehend aus. Weder wird diskutiert, inwieweit einzelne Akteure allein durch autonome „Willensentscheidungen“ – also im engeren Sinne „schuldhaft“- zu schädlichem (Klima-)Handeln veranlasst werden, noch ob und wann auch brutalste Gewalt gegen Personen auf einer höheren ethischen Ebene legitimierbar sein könnte.

Auch die Entwicklung der Hauptfigur wirkt da an entscheidenden Stellen konstruiert. Die Entwicklung von einer gutmeinenden und verantwortungsvollen linksliberalen Autorin und Mutter zur brutalen Akteurin in einer klimakämpferischen Terrorzelle bleibt psychologisch wenig überzeugend. Hier fehlt es an innerer Logik und Tiefe, um diese Wandlung wirklich nachvollziehbar zu machen; ohne den Bezug auf entsprechende biografische Prägungen wirkt das Ganze sehr unglaubwürdig.

Was als spannender Beitrag zur Diskussion um Klimaaktivismus begonnen hatte, verliert sich zusehends in einem erzählerischen Extremismus, der mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet. “Parts Per Million” ist ein aufrüttelndes, aber letztlich unausgewogenes Buch, das die moralischen Dilemmata des militanten Aktivismus zwar aufgreift, sie aber erzählerisch nicht zu Ende denkt. Die notwendige Balance zwischen Empathie, Analyse und Kritik bleibt auf der Strecke. Vielleicht ist das alles genau so gewollt – aber schwer verdaulich und unausgegoren ist es trotzdem.
Mit viel gutem Willen kann man den Roman zwar durchaus als provokante Mahnung und Warnung vor dem Phänomen des Öko-Terrorismus betrachten; er lässt das Publikum aber an entscheidenden Stellen ziemlich ratlos zurück. Stellenweise liest sich der Text wie eine konkrete Anleitung zu organisierter Klima-Militanz – inklusive Social-Media-Strategie. Warum sich HANNIG dann auch noch so detailliert in Gewaltlust-Szenarien hineinsteigert, bleibt ihr Geheimnis.
An diesen Irritationen kann auch das persönliche Nachwort der Autorin nichts mehr ändern.

Du möchtest das Buch kaufen?
Mach Amazon nicht noch reicher und probiere mal den “Sozialen Buchhandel”, der aus jeder Bestellung eine kleine gemeinnützige Spende macht.
Der Preis für dich ändert sich dadurch nicht; die Lieferung erfolgt prompt. Klicke einfach auf das Logo.
Oder unterstütze einen kleinen Buchladen vor Ort.