“Moralische Ambition” von Rutger BREGMAN

Bewertung: 4.5 von 5.

Der Autor von “Im Grunde gut” bleibt seinem Thema treu: Mit seinem aktuellen Werk spricht er Menschen mit dem eindeutigen Ziel an, sie zu einem beruflichen Engagement der besonderen Art zu motivieren. BREGMAN ist nämlich davon überzeugt, dass eine Tätigkeit ohne eine moralische Relevanz nichts anderes bedeutet als vergeudete Lebenszeit.
Speziell wendet er sich an eine Zielgruppe, die zwei Merkmale in sich vereinen: ein inhaltliches Interesse an Zielen, die die Welt zu einem besseren (gesünderen, gerechteren, nachhaltigeren) Ort machen würden, und die Bereitschaft sich mit vollem Einsatz dafür auf der Handlungsebene zu engagieren. Der Autor wirbt nachdrücklich dafür, bisherige Karrierepläne bzw. Berufswege zu hinterfragen und in das Team “Weltverbesserung” zu wechseln. Als Belohnung stellt er ein sinnhafteres und erfüllteres (Berufs-)Leben in Aussicht – ausgelöst durch die Gewissheit, auf der “richtigen” Seite der Geschichte zu stehen (beim moralischen Fortschritt). Ein noch so gut bezahlter “Bullshit-Job” könnte da doch keine ernsthafte Alternative sein – oder?

Wer den niederländischen Historiker kennt, weiß von seiner Fähigkeit, Geschichten aus der Geschichte zu erzählen. Genau das tut BREGMAN auch diesmal auf unterhaltsame Weise.
Der Autor führt am Beispiel einer Reihe von – mehr oder weniger bekannten – Vorbildern aus, in welchem Kontext, auf welchen Wegen und auf der Basis welcher Kompetenzen – oft spontane – persönliche Weichenstellungen zu erstaunlichen Langzeitwirkungen geführt haben. Dabei geht es ganz gewiss nicht um Kleinigkeiten, sondern um wahrhaft historische Entwicklungen wie die Abschaffung der Sklavenwirtschaft, die Gleichberechtigung der Frauen oder den Kampf um Verbraucherrechte.
BREGMAN leitet aus den exemplarischen Schilderungen auch bestimmte grundlegende Prinzipien ab, die er für die Umsetzung der moralischen Ambitionen für unerlässlich hält: Es geht um die Herabsetzung der individuellen Handlungsschwelle, um die Notwendigkeit einer Eingliederung in ein solidarisches Team, um das Inspirierenlassen durch (gerne auch etwas schräge) Modelle, um die Erweiterung des “moralischen Kreises”, um Kreativität, Hartnäckigkeit und Unbeugsamkeit.

Diese geführte Wanderung durch die Landschaft des moralischen Fortschritts ist ausgesprochen informativ und vergnüglich. Er soll aber vor allem Mut machen und Lust wecken für ein eigenes Abenteuer; auch das gelingt dem Autor.
Auch wenn BREGMAN betont, dass man im Kampf für eine bessere Welt keine halben Sachen machen sollte (“mit ein paar Klicks im Internet ist nichts gewonnen”), so warnt er am Ende doch die Übereifrigen vor einer Selbstüberforderung und erinnert an andere legitime Lebensinhalte.

Die Ernsthaftigkeit und der Anspruch des Autors wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass BREGMAN sein Buch mit einem eigenen international angelegten Projekt hinterlegt hat. In seiner “School für Moral Ambition” will er konkrete Projekte anstoßen und begleiten und so aus seiner theoretischen Idee reale gesellschaftliche Initiativen erwachsen lassen. Nur logisch erscheint auf diesem Hintergrund, dass BREGMAN u.a. die Erlöse dieses Buches in diese Stiftung einfließen lassen will.

Man kann diesem anregenden und engagierten Buch mit gutem (moralischen) Gewissen einen großen Erfolg wünschen.

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“Gefühle der Zukunft” von Eva WEBER-GUSKAR

Bewertung: 4.5 von 5.

Die KI-Revolution ist in den letzten ca. zwei Jahren ein solch umfassendes Mega-Thema geworden, dass es naheliegt, auch im Sachbuchbereich thematische Schwerpunkte zu bilden. Genau das tut die Philosophin WEBER-GUSKAR mit dieser vielversprechenden Publikation.

Verfolgt man – z.B. in den einschlägigen YouTube-Accounts – den Wettbewerb der großen und mittleren Player im Bereich der KI-Sprachmodelle, der Bild- und Videogenerierung und der Büro-Assistenzsysteme (“Agenten”), wird einem angesichts der wöchentlichen Neuerungen geradezu schwindelig. Parallel dazu läuft das Rennen um die Vorherrschaft auf dem Gebiet der Robotik mit ähnlicher Intensität, aber mit deutlich geringerer Breitenwirkung.
Im Vergleich dazu spielen sich die Entwicklungen in den Feldern, die hier “emotionale KI” genannt werden, fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit ab. Zwar wurde die emotionale Beziehungsmöglichkeit zwischen Mensch und KI in einigen Filmen thematisiert und vereinzelt tauchten Beispiele einzelner “verliebter” Programmierer auf – aber die reale Forschungsarbeit im Bereich der Gefühlserkennung oder Gefühlssimulation wird eher in Insiderkreisen (Sicherheitsdienste, Werbung) diskutiert.
Das ist um so erstaunlicher, als das die KI-Beziehungs-App “Replika” schon seit 2017 auf dem Markt ist und im Jahr 2024 von mehr als 30 Millionen Menschen genutzt wird (und zwar schwerpunktmäßig von erwachsenen Personen beiderlei Geschlechts).
Mit dem Buch von WEBER-GUSKAR ist die Zeit der Verborgenheit jedenfalls vorbei.

Wir bekommen von der Autorin eine systematische, gut strukturierte und didaktisch vorbildlich aufbereitete Einführung in die Thematik. WEBER-GUSKAR gliedert den Bereich in drei Fragestellungen:
– Wie weit ist die KI-Technologie der Gefühlserkennung fortgeschritten?
(Die Grenzen liegen in der Feinanalyse und den meist fehlenden Kontexten für eine tatsächliche qualitative Zuordnung von Gefühlsinhalten).
– Welche Entwicklungen gibt es bei der Simulation von Gefühlszuständen in der Interaktion zwischen Mensch und Maschine?
(Das “Vorspielen” von gefühlsmäßiger Beteiligung funktioniert erstaunlich gut und kann zu problematischen Ergebnissen führen).
– Wie sind die zukünftigen Möglichkeiten einzuschätzen, dass KI-Systeme selbst Gefühlszustände entwickeln könnten?
(So wie Bewusstsein in KI-Systemen langfristig nicht ausgeschlossen werden kann, muss auch die Möglichkeit von Empfindungs- und Leidensfähigkeit mitgedacht werden).

Die Autorin führt ihre Leserschaft in aller Ruhe und mit ausreichender begleitender Orientierung durch die spannende – für manche möglicherweise sogar unheimliche – Landschaft. Sie unterscheidet sehr klar zwischen der informativen Darstellung des Forschungs- bzw. Anwendungsstandes, der Einschätzung der tatsächlichen Leistungen bzw. Funktionen und einer kritischen Bewertung von individuellen und gesellschaftlichen Folgen der jeweiligen Technologie.

Geleitet wir die Autorin durch Maßstäbe, die sie als Philosophin aus dem eigenen Fachbereich (z.B. der Ethik oder der politischen Philosophie) mitbringt. WEBER-GUSKAR ist aber auch mit psychologischen Befunden und Konzepten sehr gut vertraut.
Sie zeigt sich prinzipiell offen auch gegenüber den kontrovers diskutierten Fragestellungen (KI-Systeme in der Pflege; KI-Beziehungspartner), ist aber weit entfernt von einer naiven Technikbegeisterung. Menschliche Bedürfnisse stehen bei ihr immer im Zentrum.

Die Stärke dieses Buches liegt genau in dieser Differenzierung, in dem Abwägen von Chancen und Risiken, und zwar bemerkenswert konkret und nachvollziehbar.
So beantwortet sie die Frage nach der Sinnhaftigkeit bzw. der Gefährlichkeit digitaler “Ersatz-Beziehungspartner” ebenfalls sehr abgewogen: Problematisch wird ihrer Einschätzung nach eine solche Beziehung (z.B. in der erwähnten App “Replika”) dann, wenn sich die virtuelle (eher spielerische) Ebene mit der Realitätsebene zu vermischen beginnt und der Mensch “in echt” davon ausgeht, in einer wirklichen Beziehung zu sein.

Möglicherweise könnte für manche Leser/innen die Strukturierung des Textes ein wenig überzogen wirken. Das Buch ist eben keine locker-flockige journalistische Lektüre, sondern ein seriöses Sachbuch auf dem Weg zum Fachbuch.
Als gut lesbarer und allgemeinverständlicher Einstieg in die Thematik der “emotionalen KI” ist diese Publikation kaum zu toppen.

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“Systemsturz” von Kohei SAITO

Bewertung: 2.5 von 5.

Dieses Buch könnte ein wichtiger Beitrag zum politischen Diskurs sein: Es entlarvt die Schwächen der Idee vom “grünen Kapitalismus” (der immer noch viel zu viele Ressourcen verbrauchen würde) und zeigt eine Alternative auf, die sich von der heiligen Kuh des Wirtschaftswachstums befreit und auch traditionelle Konzepte integriert, die von einem Allgemeineigentum an grundsätzlichen Ressourcen ausgehen. Er nennt sein Konzept “Degrowth-Kommunismus”.
Das ist alles zwar ziemlich radikal (und ein wenig utopisch) – aber durchaus stichhaltig und überzeugend (wenn man die ökologische Krise unseres Planenten wirklich ernst nimmt). Sich mit Post-Wachstums-Modellen intensiver zu befassen, wäre also ein Gebot der Stunde.

Das Problem mit diesem Buch liegt woanders: Es wurde ganz offensichtlich für Menschen geschrieben, deren Weltbild auf dem Marxismus fußt. Das führt dazu, dass der japanische Philosoph SAITO einen großen Teil seiner Ausführungen auf den Nachweis verwendet, dass der “späte Marx” (nach Veröffentlichung des “Kapitals”) von einigen seiner Grundpositionen abgerückt sei und sich – tatsächlich auch aus ökologischen Erwägungen – eben einem Kommunismus ohne Orientierung an weiterem Wirtschaftswachstum zugewandt habe.

Umgekehrt bedeutet das leider: Für eine Leserschaft, denen der Grad der Vereinbarkeit von ökologischen Zukunftskonzepten mit dem Denken von Karl Marx völlig nebensächlich erscheint, wird das Lesen von SAITOs Buch über weite Strecken zu einer echten Zumutung.
Das ist auch deshalb so eindeutig, weil der – aufgrund der vielen gestelzten (neo-)marxistischen Begrifflichkeiten (“Produktivismus”, “Konsumismus”, usw.) – sowieso schon hölzern wirkende Schreibstil auch noch extreme Redundanzen aufweist.

Der “Systemsturz” ist mit Sicherheit für Marxismus-Seminare eine große Bereicherung und wird vermutlich auch deshalb in entsprechenden akademischen Kreisen weltweit Beachtung finden.
Wem es schlichtweg um die ökologische Transformation unserer Lebens- und Wirtschaftsweise geht, sollte sich mit einem kurzen Blick auf die Kernthesen begnügen bzw. die Post-Wachstums- und Gemeinwohl-Ideen aus anderen Quellen schöpfen.

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“Wir. Tagebuch des Untergangs” von Dmitry GLUKHOVSKY

Bewertung: 4 von 5.

Es ist ein umfangreiches politisches Tagebuch, das der russische Bestseller-Autor hier vorlegt. Aus den letzten ca. 10 Jahren stammen die Statements (Blogbeiträge, Essays), die sich jeweils auf aktuelle politische Ereignisse in Putins Russland beziehen.
Der Autor wertet die Original-Texte dadurch auf, dass er sowohl den zeitgeschichtlichen Kontext ausführlich erläutert, als auch eine Bewertung aus der aktuellen Perspektive (Sommer 2024) beifügt. So ist sichergestellt, dass alle Ausführungen auch ohne genaues historisches Detailwissen nachvollziehbar sind.

In diesem Buch geht es permanent zur Sache: Hier wird nicht über Bande kommuniziert, hier werden keine Gleichnisse aufgemacht oder Bilder benutzt. GLUKHOVSKY betätigt sich als politischer Kommentator, immer direkt am Thema, faktenbasiert, angriffslustig, parteilich.
Was seinen Beiträgen auszeichnet: Der Autor bringt seine – aus seinen literarischen Werken bekannte und geschätzte – Sprachkunst und Sprachgewalt unüberhörbar auch in diese Texte ein. Er formuliert eindeutig, intensiv, ohne Rücksicht auf irgendwelche diplomatischen oder taktischen Gepflogenheiten. er spricht von “Kleptokratie”, von “Gangsterbande”, von “faschistoiden Methoden”.

GLUKHOVSKY prangert auf der einen Seite Putin und seine Machtclique an, nimmt aber auch immer wieder sein Volk ins Visier: Er sieht zwar die Mechanismen der Propaganda, der Lügen und der systematischen Verdummung durch die Staatsmedien – gleichzeitig beklagt er aber auch die Gleichgültigkeit und die Verführbarkeit. Verständnis hat er für die Ängste: Es gibt schon lange keinen Spielraum mehr für abweichende Meinungen.

Das Buch endet mit dem Tod von Nawalny. Für den Autor ist dieser wohl bekannteste Oppositionelle der letzten Jahren ein Vorbild und ein Held – jemand, der Putin durch die Kraft seiner Persönlichkeit hätte gefährlich werden können.
GLUKHOVSKY selbst lebt im Exil. Seine öffentlichen Äußerungen machen ihn zu einem Outlaw, dieses Buch sicher noch stärker als jemals zuvor.

Wer eine starke, unverfälschte und kämpferische Stimme der russischen Opposition hören möchte, bekommt das in diesem Buch geliefert. Nicht erwarten kann man abwägende Differenzierungen: Die Gegner sind klar identifiziert; sie werden als menschenverachtend und kompromisslos machtgeil und korrupt vorgeführt.
Wer sich die Entwicklung der letzten 10 Jahre aus dieser Perspektive noch einmal vorführen lassen will, ist mit diesem Buch bestens bedient. Wer eine distanzierte journalistische Analyse sucht, sollte woanders zugreifen.

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“Vom Mythos des Normalen” von Dr. Gabor MATÉ

Bewertung: 3.5 von 5.

Dieses Buch hat nicht nur einen beträchtlichen Umfang (570 Textseiten), sondern bringt auch inhaltlich einiges auf die Waage.
Für die Besprechung und Bewertung ist dabei vor allem bedeutsam, dass der Text ein weites Spektrum an Perspektiven und Facetten beinhaltet, die durchaus unterschiedliche Reaktionen auslösen können. Genau das wird in dieser Rezension zum Thema werden.

In diesem persönlich und engagiert geschriebenen Sachbuch geht es um Zusammenhänge zwischen (meist frühen) Lebenserfahrungen (Traumatisierungen, Belastungen) und (überwiegend psychischen) Störungen bzw. Erkrankungen im Erwachsenenalter. Dabei werden solche Zusammenhänge nicht nur dargestellt und mit empirischen Belegen unterfüttert, sondern es werden zahlreiche erklärende Wirkmechanismen beschrieben, z.B. Einflüsse auf neuronale Stress-, Selbstregulations- und Belohnungssysteme, aber auch auf (chronifizierte) Entzündungszustände.

MATÉ bleibt aber nicht aus der individuellen Betrachtungsebene stehen, sondern fokussiert auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einerseits die spezifischen Risikofaktoren zulassen, andererseits eine – aus seiner Sicht – geradezu toxische kulturelle Umgebung schaffen. Die Beschreibung der Aspekte dieser entwicklungsfeindlichen Umwelt ist ein zweiter inhaltlicher Schwerpunkt dieser Publikation. Im Kern geht es um unsere auf Konkurrenz, Selbstbezogenheit und Konsum ausgerichtete Wirtschaftsordnung, in der die kindlichen bzw. menschlichen Grundbedürfnisse nicht die notwendige Berücksichtigung finden.

In seiner Argumentation bezieht sich der Autor auf ein grundlegendes Persönlichkeits- bzw. Gesundheitsmodell, in dem jedes (erzwungenes) Abweichen von einem – bei jedem Menschen angelegten – “authentischen Selbst” eine Gefährdung für das langfristige körperliche und psychische Wohl darstellt. Umgekehrt sieht MATÉ die größte Chance der Heilung weniger in symptombezogenen Maßnahmen (der er keineswegs prinzipiell in Frage stellt), sondern in der Bewusstwerdung der eigenen biografischen Verletzungen und in einer Abkehr von fremdgesteuerten Zielen und Konzepten – die sich z.B. in einer übertriebenen Anpassung an sozialen Erwartungen bzw. in der Unfähigkeit der Selbstfürsorge zeigt).

Im letzten Teil des Buches erweitert MATÉ den Rahmen seiner Betrachtungen um spirituelle Dimensionen und verlässt dabei die – bis dahin sorgsam gepflegte – empirische Grundierung. Hier geht es um die Zusammenarbeit mit Schamanen, indigenen Heilern und den Einsatz von psychedelischen Substanzen. Es wird deutlich, dass dem Autor die wissenschaftlich erfassbare Welt zu eng wird, um seine eigenen Erfahrungen und die Vorstellungen von einem ganzheitlichen menschlichen Sein dort unterzubringen.

Um es kurz zu sagen: Was als kenntnisreicher und faktenbasierter Überblick über die Auswirkungen früher Belastungen und gesellschaftlicher Risiken auf die psychische Gesundheit beginnt, mündet in einem spirituell-esoterischen Weltbild, das wohl von den sehr persönlichen – auch drogeninduzierten – Bewusstseinsreisen des Autors nicht mehr zu trennen ist.

Gehen wir zurück zum ersten Teil:
Der Autor löst folgenden Widerspruch nicht auf: Auf der einen Seite führt er überzeugende Befunde für die Bedeutung früher Prägungen für die basalen physiologischen und psychischen Strukturen an, spricht aber gleichzeitig permanent von einem “wahren Selbst”, zu dem man irgendwie wieder finden muss, um gesund zu werden. Wie entsteht denn bitte dieses wahre Selbst?
MATÉ ist überzeugt davon, dass es keine (psychischen) Krankheiten gibt, die nicht Ausdruck und Folge belastender Lebensereignisse sind. Er bestreitet dabei nicht, dass sich organische Korrelate im Gehirnstrukturen bzw. bei den beteiligten Neurotransmittern finden lassen; seine Kausalkette hat aber eine eindeutige Richtung: Das Leben macht das Gehirn “krank” – und nicht umgekehrt! Ob das wirklich ohne Ausnahme gilt, darf bezweifelt werden; jedenfalls dient es nicht der Glaubwürdigkeit, wenn etwas so unumstößlich formuliert wird.
Der Autor führt immer wieder beeindruckende Fallbespiele an, in denen eine innere Einsicht bzw. eine Neuausrichtung von Lebensprioritäten zu spektakulären Heilungserfolgen führte (mit und ohne begleitende schulmedizinische Maßnahmen). In diesem Übergangsbereich des Buches werden also keine kontrollierten Untersuchungen mehr angeführt (der Autor verweist in einigen Fällen auf geprüfte Krankenunterlagen).

Es besteht kein ernstzunehmender Zweifel daran, dass – z.B. durch Therapie angestoßene – psychische Prozesse (Einsicht, Aufgabe jahrzehntelanger Selbstverleugnung und Neuorientierung) eine enorme Selbstheilungswirkung (sogar auf Krebserkrankungen) entfalten können. Trotzdem ist natürlich der Erkenntnisgewinn anekdotischer Berichte immer begrenzt.
Auch ist glaubhaft (und inzwischen auch zuverlässig belegt), dass Erfahrungen die im Kontext von angeleiteten spirituellen Verfahren (mit oder ohne Drogenunterstützung) gemacht werden, bemerkenswerte Wirkungen auf sogar verfestigte Störungsbilder haben können.
Das alles ist spannend und einer näheren Betrachtung wert.

Überzogen erscheint allerdings der Anspruch des Autors, aus seinem persönlichen Entwicklungsweg (den er zwischendurch immer wieder mal thematisiert) ein umfassendes und allgemeingültiges Weltbild von Krankheit und Heilung abzuleiten.
Hier wird jemand, der als Wissenschaftler gestartet ist, zum esoterischen Heiler und Prediger.
Ganz offensichtlich kann sich MATÉ nicht vorstellen, dass ein erfülltes, sinnhaftes und sozial bzw. ökologisch verantwortungsvolles Leben auch innerhalb eines rational-empirischen Kontextes möglich sein könnte – ohne Bezug auf Kräfte oder Erfahrungen, die aus einer prinzipiell anderen Dimension stammen.
Das mag ja für viele Menschen so gelten; für andere bleibt dann der – wirklich sehr informative – erste Teil des Buches.

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