“Echtzeitalter” von Tonio SCHACHINGER

Bewertung: 3 von 5.

Der 32-jährige Autor stammt aus einer bikulturellen Familie und lebt in Wien, dem Schauplatz dieser Erzählung. Sie wurde als “Roman des Jahres 2023” ausgezeichnet. Das sollte eine gute Grundlage für eine Lese-Entscheidung sein.

Wir Lesenden nehmen Anteil an der persönlichen und schulischen Entwicklung des Protagonisten “Till” und begleiten ihn durch die letzten Jahre seiner gymnasialen Ausbildung in einem traditionellen Wiener Internat (das er allerdings nur als Tagesschüler besucht). Dabei werden wir mit einer autokratischen Lehrerpersönlichkeit konfrontiert, die man eher in der erste Hälfte des letzten Jahrhunderts ansiedeln würde. Im krassen Kontrast zu dieser absurd wirkenden Zeitreise in eine vergangen geglaubte pädagogische Diktatur stehen die anderen Aspekte von Tills Alltagsleben: seine durchaus modernen Beziehungen zu einem recht “exzentrischen” sozialen Netzwerk und seine Leidenschaft für ein bestimmtes Echtzeit-Strategiespiel (AoE2). Die fast grenzenlose Hingabe an diese digitalen Gaming-Welten führen schon früh zu einer Kompetenz, die ihm in der Szene überregionale Anerkennung und sogar materiellen Erfolg verschafft.
Eingebettet ist diese “Coming-of-Age”-Story in einen österreichische und speziell wienerischen Kontext, der kulturelle, gesellschaftliche und politische Aspekte umfasst.

Die Leistung des Autors besteht wohl in erster Linie darin, das Erleben eines in elitärer Umgebung heranwachsenden Wiener Schülers aus einer glaubwürdigen Innenperspektive beschrieben zu haben. Es geht um das mehr oder weniger trickreiche Überleben unter erstaunlich repressiven Bedingungen, um das Erschleichen von Freiräumen, die ersten Beziehungserfahrungen, das Jonglieren mit unterschiedlichen Lebenswelten.
Parallel dazu – auch hier zeigt sich ein starker Kontrast – hat das Buch auch etwas sehr “Erwachsenes”: Aus einer distanzierten Meta-Perspektive werden Prozesse und Zusammenhänge eher abstrakt analysiert und Bezüge zu einem weiten Kanon an humanistischen bzw. literarischen Inhalten eingestreut.

So wie das Leben von Till strahlt der Roman eine große Portion Zwiespältigkeit aus: Als Jugendbuch ist er zu überladen mit hochkulturellen Details und lokal-politischen Anspielungen; für eine Gesellschaftsanalyse wird die jugendspezifische Perspektive überstrapaziert. Als Leser/in befindet man sich irgendwie dazwischen – so wie Till in seinen beiden Lebenswirklichkeiten.

Ein Problem hat Echtzeitalter mit seiner Glaubwürdigkeit: Während es kaum Probleme macht, in die Grenzen austestende, mit viel Alkohol unterfütterte Jugendwelt abzutauchen, gerät der Ausflug in die alte Pauker-Tradition doch etwas künstlich und konstruiert: Man mag kaum glauben, dass einzelne Lehrerpersönlichkeiten in der Echtzeit noch so prägend und scheinbar mit absoluter Macht ausgestattet agieren können. Das alles wirkt doch ein wenig klischeehaft aufgebauscht.
Einem deutschen Leser könnte es auch ein bisschen viel Österreich und Wien sein.

Was soll’s: Die Literatur-Kritik ist begeistert, es muss ja etwas dran sein.
Ein Buch für Heranwachsende ist dieser Roman aber sicher nicht. Eher ein Einblick für die ältere Generation, die u.a. einen ziemlich authentischen Eindruck davon gewinnen könnte, wie fremd ihr bestimmte Aspekte der Jugendkultur sind.


“Futurum II” von B.F. SKINNER

Bewertung: 4.5 von 5.

Wie um alles in der Welt kommt man im Jahre 2024 darauf, eine Publikation zu lesen, die im Jahre 1948 erstmals veröffentlicht wurde und keineswegs aus einem – möglicherweise zeitlosen – literarischen Kontext stammt?
Es wird noch seltsamer: Der Autor, B.F. SKINNER, ist in psycho-wissenschaftlichen Kreisen als ein beinharter “Behaviorist” bekannt, Er führte damit die Lernforscher an, die ausschließlich das beobachtbarem Verhalten als sinnvollen Forschungsgegenstand akzeptierten und ihre Grundlagenforschung überwiegend durch Tierexperimente betrieben (u.a. in den berühmten “Skinner-Boxen”).
Wenn ein solch nüchterner Hardcore-Wissenschaftler den Versuch macht, einen utopischen Gesellschaftsentwurf in Romanform zu verfassen – was sollte dabei bitte herauskommen? Und was sollte uns das heute noch sagen?
Es war die Recherche für ein eigenes Buch-Projekt, das mich zu dem Entschluss brachte, Futurum II nach ca. 50 Jahren noch einmal zu lesen – eine zweifellos gute Entscheidung.

SKINNER konstruiert eine Rahmenhandlung, die es ihm ermöglicht, seine Vorstellungen über eine durch wissenschaftliches “Verhaltens-Management” strukturierte Gemeinschaft überwiegend in Dialogform kundzutun: Er schickt eine sechsköpfige akademische Besuchergruppe einige Tage in die ländlichen Muster-Siedlung “Futurum II” (im Original “Walden II”) und schildert neben den Eindrücken des professoralen Ich-Erzählers vom Alltag der Bewohner insbesondere die kontroversen Gespräche zwischen dem Gastgeber, dem “Erfinder” des Projektes, und einem der Besucher, einem extrem kritischen Philosophen.
Indem der Autor die inhaltlichen Auseinandersetzungen über die Prinzipien des Zusammenlebens mit den Charakteren der Figuren verwebt, wird die akademisch-weltanschauliche Grundsatzdiskussion personalisiert und emotionalisiert und damit – so offensichtlich der Plan – attraktiver auch für ein breiteres Publikum.

SKINNER verfolgt mit diesem Romanprojekt ganz offensichtlich eine ernsthafte Mission: Er ist überzeugt davon, dass die systematische (und experimentell kontrollierte) Anwendung von psychologischer Verhaltenssteuerung deutlich besser dazu geeignet wäre, menschliches Zusammenleben glücklich, harmonisch und produktiv zu gestalten, als dies durch politische Ideologien, religiöse Systeme oder das freie Spiel von Marktkräften möglich ist. Das kann man für vermessen oder völlig realitätsfremd halten – aber ein Nachdenken darüber ist tatsächlich sehr anregend.

Der Autor hat es nämlich geschafft, eine Szenerie zu entwerfen, die nichts mit dem mechanistisch anmutenden “Operationalen Konditionieren” (Verstärkungslernen) in einer Sinner-Box gemein hat. Letztlich beschreibt er eine Art große und perfekt organisierte Landkommune, in der Arbeit, Erziehung, soziales Miteinander und kulturelles Leben so gestaltet sind, dass man diese Verhältnisse heute als gemeinwohlorientiert, achtsam und nachhaltig bezeichnen würde.
Lässt man einige – eher unwichtige Besonderheiten (z.B. extrem frühe Eheschließungen) – außer acht, wirken die Regeln und Prinzipien dieser Gemeinschaft geradezu visionär modern. Die Art des Wirtschaftens könnte aus einem aktuellen Handbuch über “Degrowth” (Postwachstums-Ökonomie) stammen. Zur Erinnerung: Es geht um ein vor 76 Jahren geschriebenes Buch!

Dieser Eindruck einer frappierenden Aktualität verstärkt sich auf der Meta-Ebene, die durch die permanenten Diskussionen der Protagonisten über das ihnen vorgestellte Gesellschafts-Projekt gebildet wird. Die hier angesprochenen politischen und philosophischen Grundsatzfragen würden heute – mit leicht veränderten Begrifflichkeiten – noch genauso geführt werden: Es geht um das Ausleben bzw. die Einschränkung individueller Freiheiten, die Bedeutung von Privateigentum und Gewinnmaximierung, um Lebensqualität und den berühmten “Freien Willen”.

Die zentrale Frage des Romans fehlt allerdings in der aktuellen Diskussion um lebenswerte und überlebensfördernde Zukunftsszenarien vollständig. Sie ist so stark tabuisiert, dass sich schlichtweg niemand trauen würde, sie überhaupt aufzuwerfen:
Könnten Prinzipien, die sich aus den Erkenntnissen der Humanwissenschaften (insbesondere der Psychologie und den Neuro- bzw. Kognitionswissenschaften) ableiten lassen, nicht sehr viel bessere Lösungen für die Gestaltung menschlichen Zusammenlebens bereithalten als dies Philosophie, Ideologien oder Religionen vermögen? Und wenn ja: Ist es dann wirklich der Weisheit letzter Schluss, unsere “Lebensregeln” durch das mehr oder weniger zufällige Zusammenspiel von traditionellen, politischen und kommerziellen Einflussfaktoren bestimmen zu lassen? Und wenn nein: Muss man dann nicht auch an der Sinnhaftigkeit der Mehrheitsentscheidungen in demokratischen Systemen zweifeln? Und an der Verabsolutierung der individuellen Freiheitsrechte?

Diese kleine utopische Geschichte aus der Mitte des letzten Jahrhunderts, dieser Ausflug eines Verhaltenswissenschaftlers in die Belletristik, stößt mehr solcher grundsätzlicher Gedanken an, als mancher Regalmeter aktueller Gesellschaftsanalysen.
SKINNER machte 1948 aus seinen Überzeugungen kein Geheimnis. Man mag sich kaum vorstellen, welchen medialen Shitstorm ein solches Buch heute auslösen würde.

(Das Buch ist in Deutschland nur schwer zu bekommen. Ich habe daher die englische EBook-Ausgabe gewählt).