“Zeitenende” von Harald WELZER

Bewertung: 3.5 von 5.

Vor ziemlich genau zwei Jahren hat Harald WELZER ein Buch über das “Aufhören” geschrieben; er meint das damals durchaus auch persönlich. Wie wir inzwischen wissen, hat er das nicht lange durchgehalten – zu reizvoll ist für ihn offenbar die Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs.
Unter dem originellen Titel “Zeitenende” begibt sich der Autor mitten hinein in die aktuellen politischen Strudel – auf gewohnt selbstgewisse und provokante Art.
Dieses Buch zu bewerten, ist für mich eine schwierige Aufgabe: Am liebsten würde ich es in zwei Teilbücher aufsplitten und könnte dann zwei klare, sehr unterschiedliche Rezensionen schreiben.

Fangen wir mit dem “guten” Buch an: WELZER ist in seinen Analysen hinsichtlich des Versagens in der Klimapolitik bestechend klar. Er entlarvt die Unfähigkeit der Politik, sich auf die wahren Herausforderungen zu fokussieren und sieht allenthalben ein geradezu neurotisches Festklammern an der Wachstumsideologie. Niemand habe den Mut, sich zu notwendigen Wohlstandsverlusten zu bekennen und den “mündigen” Bürgern auch etwas zuzumuten. Auf allen Ebenen beschreibt der Autor das Versagen der Eliten – einschließlich der Medien. Man gewinnt als Leser/in den Eindruck, WELZER mahne beherzte Führung an – statt eine Politik, die überwiegend in parteipolitischen Scharmützeln mit sich selbst beschäftigt sei.
Zu den positiven Seiten des Buches gehören auch seine Aussagen zur Bildungssituation und die Darstellung kreativer Lösungsbeispiele in verschiedenen Bereichen (Energie, Bürgerbeteiligung, Bildung).
In vielen Einzelbetrachtungen findet WELZER passende knackige Formulierungen, die inzwischen eine Art Markenzeichen geworden sind. Da macht das Lesen dann auch Spaß.

Die nervige Seite des Buches hat viel damit zu tun, dass WELZER gerne als Sieger (möglichst als der Klügste) vom Platz geht. Er, der nach allen Regeln der Kunst auszuteilen vermag, möchte gar nicht gerne Kritik erfahren. So nutzt er dieses Buch – in unangemessener Ausführlichkeit – dazu, Angriffe auf das (gemeinsam mit PRECHT verfasste) Buch über die deutsche Medienwelt (“Die vierte Gewalt”) abzuwehren.
Natürlich lässt es sich der Autor auch in diesem Zusammenhang nicht entgehen, in der Diskussion um den Ukraine-Krieg nochmal nachzulegen: Er entdeckt in Politik und Medien geradezu eine Kriegsbegeisterung und vermisst die öffentliche Darstellung der Gegenstimmen.
Zwar hat er zweifellos Recht, wenn er Krieg und Aufrüstung als zivilisatorischen Rückschritt und als auch ökologischen Wahnsinn brandmarkt – unklar bleibt allerdings mal wieder, wie man ernsthaft die Auslieferung der Ukraine an Putins Regime ohne Waffenhilfe hätte verhindern können.

Geradezu genüsslich weidet sich WELZER an der überkommenen Selbstüberschätzung des Westens gegenüber den neuen Mächten im Osten und Süden. So zeige gerade der Ukraine-Krieg, wie autonom und selbstbewusst Länder wie Indien, Brasilien oder Südafrika (von China gar nicht zu reden) ihre eigenen Interessen verträten – ohne sich weiter in die Fänge des (bisher) dominanten Westens zu begeben.
Irritierender Weise kann der leidenschaftliche Kriegsgegner WELZER, der die früheren Sündenfälle des Westens immer wieder lückenlos aufzählt, die Absetzbewegungen von der Sanktionspolitik gegenüber Russland nur als eine Art willkommene Lektion betrachten. Gegenüber dem egoistischen und opportunistischen Kriegsgewinnlereien dieser Länder, die wegen günstiger Energiegeschäfte auf eine Verurteilung eines Angriffskrieges verzichten, fällt kein kritischer Blick. Erstaunlich!

WELZER macht sich auch Sorgen um die Demokratie, weil im Einklang zwischen Regierung und Leitmedien Volkes Stimme zu wenig Gehör fände – zuletzt bei den großen Themen Migration, Corona und Ukraine. Er prangert z.B. an, dass die Ministerin Bearbock formuliert habe, dass sie an der Unterstützung der Ukraine festhalten würde, egal wie die Mehrheiten dazu gerade ausfielen.
Also sollen Politiker/innen jetzt doch nicht mutig führen und Verantwortung übernehmen und ihr Verhalten in den großen Schicksalsfragen an Umfragen orientieren? Konnten wir nicht froh sein, dass in der ersten Corona-Phase tatsächlich klare Vorgaben bestanden und die Leitmedien das mittrugen?
Für WELZER sind eigentlich immer die Eliten Schuld. Auf der einen Seite beklagt er sich, dass die Politiker ihr Volk wie kleine Kinder behandeln würden; wenn dann diese mündigen Bürger den rechten Rand wählen, werden aber nicht sie, sondern wieder die politische Klasse dafür gescholten. Seltsame Logik!

Wie fasst man so etwas zusammen?
Die WELZER-Fans werden sich auch diesmal an seinem Stil ergötzen. Mindestens 50% des Buches besteht ohne Zweifel aus klugen Analysen und zukunftsträchtigen Ideen.
Wenn dieser Mensch nur nicht so überzeugt von sich wäre und daher oft so arrogant rüberkäme. Wenn es mal Spuren von Selbstzweifel und Selbstkritik gäbe. Wenn er sich mal vorstellen könnte, dass vielleicht der Ukraine/Russland-Mainstream doch nicht so viel dümmer sein könnte als er.
Vielleicht war es auch ein Fehler, sich dieses (Hör)Buch auch noch von ihm selbst vorlesen zu lassen…
Dieses Buch wird polarisieren. Es kontrovers zu diskutieren, kann sicher ein gewinnbringender Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs sein.

“Gegen Wahlen” von David Van REYBROUCK

Bewertung: 4 von 5.

Das Buch des holländischen Historikers ist zuerst 2013 erschienen. Da ich bei Sachbüchern sehr auf die Aktualität achte, hat mich das bei dieser Buchempfehlung zunächst etwas irritiert. Diese Bedenken wurden weitgehend zerstreut.
Man kann sogar feststellen, dass die momentane Diskussion um sog. “Bürgerräte” – gefordert z.B. von der “Letzten Generation” – dem Buch eine brandaktuelle Note gibt.

Van REYBROUCK stellt in diesem überschaubaren Buch (170 Textseiten) eine kleine, aber feine Geschichte der demokratischen Auswahlverfahren dar. Dabei geht es um zwei Grunddimensionen, die sozusagen das Skelett dieses Textes ausmachen:
– Einmal geht es auf der Bewertungsebene um das Spannungsfeld zwischen Effizienz eines Regierungssystems und der Legitimität, die es gegenüber den Regierten geltend machen kann. Hier punktet die Demokratie allgemein erstmal bei dem Anspruch, die verliehene Macht rechtfertigen zu können; trotzdem wird schon eine Weile auch von einer Legitimationskrise der repräsentativen Demokratie gesprochen. Bei der Effizienz lassen gerade nicht nur die aktuellen Rückschläge in der Klimapolitik sowieso ernsthafte Zweifel aufkommen.
– Auf der Ebene der Organisation demokratischer Spielregeln diskutiert der Autor die Auswahl der “Volksvertreter/innen”: Dem für uns so selbstverständlich erscheinenden System der Wahlen stellt er ganz unterschiedlich strukturierte Losverfahren gegenüber. Nicht als abstraktes Gedankenspiel, sondern als ernsthafte und gut begründbare Alternative (oder doch zumindest Ergänzung). Natürlich werden auch auf diese Fragestellung die Kriterien der Effizienz und Legitimität angewandt.

Der Autor führt uns durch die Geschichte der Demokratie und öffnet die Augen dafür, dass Wahlen keineswegs von Beginn an die natürliche Basis demokratischer Prozesse waren. Ganz im Gegenteil: In der zufälligen Zuteilung von zeitlich begrenzten Mandaten wurden in der Antike und der Renaissance die Ursprünge demokratischer Vertretungssysteme gebildet. Die historische Analyse des Autors ist geradezu vernichtend: Wahlen seien anfangs gar nicht als echter Weg in die Volksherrschaft gedacht gewesen; sie sollten vielmehr die Macht bestimmter privilegierter Gruppen zementieren.
Zwar hätte sich das “elektoral-repräsentative” System weiterentwickelt, sei aber aktuell (Stand 2013) an kritische Grenzen gestoßen.

Auf den letzten 50 Seiten stellt Van REYBROUCK in einem international orientierten Überblick neue Ansätze von losbasierten Auswahlverfahren für ganz unterschiedliche Verfassungs- bzw. Regierungsorgane dar. In einer “Blaupause” wird ein ausgefeiltes Modell des Zusammenspiels unterschiedlicher Entscheidungsinstanzen vorgestellt.
Für den Autor steht ohne Zweifel fest: Unsere Demokratien würden enorm davon profitieren, wenn “normale” Bürger in einem begleiteten Prozess die Möglichkeit zur direkten Einflussnahme und Mitbestimmung bekämen.

Van REYBROECK hat ein gut recherchiertes und didaktisch vorbildlich aufbereitetes Buch über ein extrem relevantes Thema geschrieben. Den hier zusammengestellten Informationen, Analysen und den daraus abgeleiteten Vorschlägen wäre eine große Verbreitung und Eingang in den gesellschaftlichen Diskurs zu wünschen.
Dazu wäre es sicherlich nützlich, eine aktualisierte Neuausgabe herauszubringen, die dann auch die Entwicklungen des letzten Jahrzehnts berücksichtigen könnte. Zusätzlich sollte man bedenken, ob wirklich der extrem provokative Titel (inkl. Untertitel und Zitat auf der Buchrückseite) die optimale Verkaufsstrategie darstellt.
Dieses Buch hat erheblich mehr zu bieten als pure Provokation.

(Ob angesichts der ungelösten Menschheitsthemen tatsächlich demokratische Strukturen gegenüber “Expertokratien” – die in schnell steigendem Umfang auf Analysen und Prognosen der Künstlichen Intelligenz basieren werden -Bestand haben können, steht auf einem anderen Blatt. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass wir in naher Zukunft gezwungen sein werden, dem Kriterium der Effizienz ganz eindeutigen Vorrang einzuräumen.)