Alternative Weltbilder

Natürlich haben Menschen auch in der vor-wissenschaftlichen Zeit versucht, sich einen Reim auf all die wunderlichen und/oder bedrohlichen Phänomene zu machen, von denen sie umringt waren. Es ist davon auszugehen, dass die Beobachtung von bzw. die Suche nach Zusammenhängen zwischen Ursachen und Wirkungen zu den ganz frühen geistigen Herausforderungen gehörte, denen sich das wachsende und ausdifferenzierende menschliche Gehirn stellte.
Kulturgeschichtlich haben die verschiedenen Schöpfungsmythen, die Vorstellung von einer beseelten Umwelt, die Suche nach Kontakt zu den Verstorbenen und die Erklärung von Naturphänomenen durch das Einwirken diverser Götter ohne Zweifel eine große Rolle gespielt. Allein die Entwicklung religiöser Narrative und die Geschichte philosophischer Weltbetrachtungen boten und bieten ausreichen Stoff für etliche Forschergenerationen.
Im Rahmen dieser Betrachtung solle es aber um die Rolle gehen, die nicht-wissenschaftliche Perspektiven auf die Welt auch heute noch, also parallel zu den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, spielen können (oder sollten).
Dabei werden wir uns grob an der historischen Abfolge dieser alternativen Weltbilder orientieren. also uns zunächst mit den animistischen Weltmodellen beschäftigen die sich heute noch in den Vorstellungen indigener Völker spiegeln, und uns dann den großen Themen „Religion“ und „Philosophie“ zuwenden. Mit der Analyse moderner Ausgestaltungen von spirituellen und esoterischen Perspektiven schließen wir dann dieses Kapitel.

a)     Animistische und indigene Weltbilder

Die Vorstellung, dass allen Elementen der Natur (also Tiere, Pflanzen, Berge, Flüsse usw.) eine Art Seele oder Geist innewohnt, stellt eine der ältesten Formen von spirituellen Glaubenssystemen dar und hat die religiösen Praktiken und Überzeugungen vieler Kulturen beeinflusst. Dieser „Animismus“ der frühen Naturvölker kann also auch als eine Art Vorläufer für später entstandene religiöse Systeme verstanden werden. In einer ganzen Reihe von indigenen Völkern auf verschiedenen Kontinenten lässt sich die animistische Perspektive auf die Welt auch aktuell noch beobachten (z.B. bei den australischen Aborigines oder den neuseeländischen Maoris).
In traditionellen Inuit-Glaubenssystemen wird beispielsweise ein Animismus praktiziert, der von dem Glauben geprägt ist, dass alle Dinge in der Natur einen Inua besitzen (“Geist” oder “Person”). Dies schließt nicht nur Menschen und Tiere, sondern auch unbelebte Objekte wie Steine und Gewässer ein. Diese Geister sind nicht nur passive Beobachter, sondern können mit Menschen interagieren und haben oft ihre eigenen Wünsche und Ziele.
Ein zentraler Aspekt dieser Weltanschauung ist der Respekt und die Achtung vor allen Lebewesen. Die Jagd ist ein zentraler Teil des Lebens der Inuit, aber sie wird mit tiefem Respekt für die Tiere, die gejagt werden, und die natürliche Welt insgesamt durchgeführt. Es gibt oft bestimmte Rituale und Zeremonien, die ausgeführt werden, um die Tiere zu ehren und um sicherzustellen, dass ihr Geist nach dem Tod weiterlebt. Die traditionellen Glaubenssysteme der Inuit umfassen auch eine Vielzahl von Geistwesen und mythischen Kreaturen, wie Sedna, die Meeresgöttin, und verschiedene Formen von Schamanismus und Geisterkommunikation.
Wie bei allen spirituellen Traditionen hat sich das Inuit-Glaubenssystem im Laufe der Zeit verändert und weiterentwickelt, und viele Inuit praktizieren heute auch andere Formen von Religion, einschließlich des Christentums.
Ich werde in diesem Abschnitt frühere Naturvölkern und noch existierenden indigene Gemeinschaften gemeinsam behandeln; entsprechend springe ich zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her.

Erkenntnisweg
Die in den animistischen Vorstellungen enthaltenen Ansätze zur Welterklärung beruhen vorwiegend auf einer Beobachtung der natürlichen Umwelt. Das Erkennen von Zyklen und Regelhaftigkeiten in der Natur war extrem bedeutsam für das Überleben. Es lag offenbar nahe, den Naturkräften ähnliche Wirkfaktoren („Lebenskräfte“) zuzuschreiben, wie man sie an sich selbst und den Mitmenschen wahrnahm; auch magische Erklärungsmuster spielten eine Rolle. Sicherlich haben auch innere Prozesse (wie Träume oder Trance-Zustände) zu der Überzeugung einer beseelten Natur beigetragen – ebenso wie vermutlich die Auseinandersetzung mit dem Mysterium des Todes.
Mit der Zeit haben sich dann auf der Grundlage dieser Einzel-Ideen auch größere Geschichten, soziale Praktiken und Rituale gebildet, die für den Zusammenhalt der Gruppe bedeutsam waren. Hier haben dann auch spirituelle Autoritäten (z.B. Schamanen, Älteste, Priester oder Heiler) eine wichtige Funktion übernommen, beispielsweise als Vermittler zwischen den Menschen und den Naturwesen.
Man kann wohl davon ausgehen, dass solche Weltbilder über lange Zeiträume sehr stabil und fest in der Tradition des jeweiligen Volkes verankert waren. Es gehörte offensichtlich nicht zu den Notwendigkeiten und Zielen dieser Kulturen, durch das systematische Anhäufen von „neuem“ Wissen bisherige Überzeugungen zu hinterfragen oder gar zu überwinden. Eine Suche nach Erkenntnissen fand wohl nur innerhalb des etablierten Wahrnehmungs- und Denksystems statt (z.B. indem neue Heilpflanzen mit spezifischen „Kräften“ gefunden wurden). Vermutlich lag das schlichtweg daran, dass die Menschen sich dauerhaft in einem selbstverständlichen Gleichgewicht mit der sie umgebenden Natur befanden und erlebten und eher wenig äußeren Anpassungs-Druck (z.B. durch klimatische Veränderungen) zu bewältigen hatten.
Soweit man von einem Erkenntnisprozess sprechen kann, wäre dieser wohl am ehesten als „intuitiv“ und „ganzheitlich“ zu beschreiben: Das unmittelbare Erleben des Eingebettet-Seins in die Natur und die eigenen emotionalen Reaktionen auf die Interaktion mit Natur-Phänomenen bildete die Grundlage für Verstehen und Erklären. Verfestigte Narrative wurden dann durch geistige Führer an die nachfolgenden Generationen weitergegeben.[iii]

Grundannahmen
Aussagen über die Grundbestandteile verschiedener animistischer oder indigener Weltvorstellungen sind natürlicher Weise nur aus einer heutigen Perspektive und damit aus einem weitem kulturellen Abstand möglich; sie sind immer auch zu einem gewissen Grade spekulativ. In solchen Annäherungen schwingen daher auch aktuelle Einstellungen und Vorurteile mit.
Wir versuchen es trotzdem:

Naturnähe
Das tief empfundene Eingebundensein in die umgebenden Natur-Systeme ist sicher das Hauptmerkmal dieser frühen bzw. ursprünglichen Kulturen. Sich als Teil – nicht als abgehobener Herrscher – der Natur, zu verstehen, ergab sich aus den unlösbaren und existentiellen Verbindungen mit der pflanzlichen, tierischen und geografischen Umwelt: Sie bot Nahrung, Schutz und Heilmittel, war aber auch die Quelle konkreter (wilde Tiere, Giftpflanzen, Waldbrände) und abstrakter Gefahren (Dunkelheit, Tod, böse Geister). Das alles führte zu einer Haltung voller Respekt und wohl auch Demut; oft wurden einzelne Aspekte der Natur als „heilig“ empfunden.

Magische Elemente
Eng verbunden mit der Zuschreibung von menschenähnlichen Kräften und Motiven auch an die unbelebte Natur waren magische Vorstellungen von übernatürlichen Kräften oder Einflüssen, die man durch bestimmte Praktiken oder Rituale (z.B. Regentänze) zu beeinflussen versuchte. Die Suche nach Ursache/Wirkungs-Beziehungen ist tief in unseren evolutionär geprägten kognitiven Grundstrukturen verwurzelt; in Ermangelung anderen Erklärungswege wurde so auch auf all das zurückgegriffen, was sich an zufälligen oder fantasierten Zusammenhängen anbot.

Gemeinschaftsbezug
Es ist davon auszugehen, dass sich Menschen von Beginn an – ebenso wie auch andere Primaten – ganz selbstverständlich als Teil von engen Gemeinschaften erlebt und betrachtet haben. Für die Entwicklung von individuellen Identitäten, wie sie inzwischen in modernen Kulturen selbstverständlich geworden sind, bestand wohl über die längste Zeit der Menschheitsgeschichte weder Raum noch eine Notwendigkeit.
Extrem spannend ist in diesem Zusammenhang die Überlegung, in welchem Umfang z.B. spirituelle Autoritäten schon damals ein abweichendes – individualistischeres – Selbstbild entwickelt haben könnten. Entsprechende Untersuchungen bei noch existierenden indigenen Kulturen sind nicht bekannt.

Ganzheitlichkeit des Wahrnehmens und Erlebens
Die sprichwörtliche „Weisheit“ indigener Kulturen umfasst u.a. etwas, was wir heute „ökologisches Bewusstsein“ nennen würden: Indigene Völker haben oft ein tiefes Verständnis für die Ökosysteme, in denen sie leben. Sie können komplexe Nahrungsnetze, die Beziehungen zwischen verschiedenen Arten und die Auswirkungen von Umweltveränderungen verstehen. In vielen Fällen verwenden sie dieses Wissen, um nachhaltige Praktiken zur Ressourcennutzung zu entwickeln.
Die Natur wurde/wird also auf einem ganzheitlichen – statt auf einem analytisch-reduktionistischen – Weg erfasst.

Spezifisches Wissen
Innerhalb dieser intuitiven Welterfassung bildeten sich auch erstaunliche Fähigkeiten hinsichtlich der Wahrnehmung und Deutung feinster Veränderungen in der Umwelt heraus: So konnten sie z.B. die Annäherung von Tieren oder die Vorboten von Wetterereignissen sehr viel eher und besser erkennen als die Besucher aus moderneren Kulturen. Beeindruckend sind oft auch die Fähigkeiten zur Navigation auch über weite Strecken (sogar auf dem Meer) und die Entwicklung von spezialisierten Heilmethoden.
Solches Erfahrungswissen wurde meist über viele Generationen bewahrt und weitergegeben.

Kritik
Grundsätzlich kann und muss natürlich bei allen nicht-wissenschaftlichen Weltbildern zunächst darauf hingewiesen werden, dass die fehlende oder begrenzte Berücksichtigung von zweifelsfreien naturwissenschaftlichen Erkenntnissen die möglichen Beiträge dieser Weltsichten zur Erklärung der Welt extrem einschränkt. Was sollten wir von Sichtweisen lernen können, die weder die physikalischen Grundgesetze, noch die Prinzipien der Chemie oder die innere Logik der Evolution kennen bzw. nutzen?
Dieser Aspekt ist so grundsätzlich, dass man in Versuchung kommen könnte, es bei dieser Feststellung zu belassen. Aber wir wollen ein wenig genauer auch auf die kritischen Aspekte der jeweiligen Weltsichten schauen.

Romantische Überhöhung
Schon im 18. Jahrhundert wurde mit dem Konzept des “edlen Wilden” ein idealisiertes Menschenbild dargestellt. Rousseau stellte das Konzept vom den reinen und von der Zivilisation unverdorbenen „natürlichen Menschen“ der damals verbreiteten Auffassung entgegen, dass Menschen ohne Zivilisation “barbarisch” oder “primitiv” seien.[iv] Eine wissenschaftliche Annäherung erfolgte mit der oft vorurteilsbehafteten Anthropologie des 19. Jahrhunderts; die später wurde auch die sensiblere Methode der Feldforschung angewandt.
Im Rahmen der ökologischen Bewegung der letzten Jahrzehnte intensivierte sich das Interesse an den frühen bzw. indigenen Kulturen dramatisch: In ihnen sahen die Umweltbewahrer ein willkommenes Modell für einen harmonischen und auf Gleichgewicht ausgerichteten Umgang mit der Natur – also ein reales Gegenstück zu der entfremdeten und ausbeuterischen Haltung, die sich im Rahmen der wissenschaftlichen und technologischen Revolution und der darauf fußenden Technologien bzw. ihrer kapitalistischen Nutzung ausgebildet hatten.
Inzwischen breitet sich die Erkenntnis aus, das die Lebenswelt der frühen bzw. indigenen Kulturen kein Hort der Harmonie oder gar der Gewaltlosigkeit war: Zu verschieden und widersprüchlich waren Lebensweisen und Vorstellungswelten. Wir werden uns damit später bei den Menschenbildern näher damit befassen.[v]

Irrationale Ängste und Aberglauben
Animistische oder magische Weltbilder sind nicht einfach nur eine interessante und harmlose Variante menschlicher Denkweisen. Die entsprechenden Erklärungsversuche für damals unverstandene und damit oft unheimliche Phänomene haben die Menschen auch in Angst und Schrecken versetzt und zu Handlungen motiviert, die zu unserem Bild von den friedvollen Urmenschen kaum passen.

Ungleichheit und Gewalt
Obwohl viele indigene Kulturen für ihre Gemeinschaftsorientierung und ihren Respekt vor der natürlichen Welt bekannt sind, können sie auch Formen von sozialer Ungleichheit und Hierarchie aufweisen. Dies kann Geschlechterungleichheiten, Altersdiskriminierung oder Unterschiede in Status und Macht zwischen verschiedenen sozialen Gruppen einschließen. Ihre Normen und Rituale sind oft streng und restriktiv und sicher von unseren westlichen Toleranzidealen weit entfernt.  Indigene Gemeinschaften sind auch nicht immun gegen interne oder externe Konflikte und Gewalt (intertribale Kriege, Fehden oder Streitigkeiten um Ressourcen sowie familiäre Gewalt oder Missbrauch).

Begrenztheit der Erkenntnis- und Erklärungsmöglichkeiten
Kommen wir am Ende nochmal auf den zentralen Punkt zurück: Obwohl der Animismus eine sehr intuitive und unmittelbare Art der Interaktion mit der natürlichen Welt ermöglicht, kann er kaum leisten, komplexere oder abstraktere Aspekte der Natur und der Welt zu durchdringen. Zum Beispiel werden animistische Kulturen Schwierigkeiten haben, Phänomene wie Evolution, Klimawandel oder Mikrobiologie zu erfassen. Phänomene, die sich unserer unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, die aber zum Verständnis der planetaren Systeme unverzichtbar sind.

Konsequenz
Was können wir also lernen von den frühen bzw. indigenen Weltsichten? Enthalten sie Wissen oder Weisheiten, die uns mit unserem von der unmittelbaren Natur-Interaktion entfremdeten Zivilisations-Bewusstsein verloren gegangen sind und uns vielleicht bei der Bewältigung der großen Herausforderungen schmerzlich fehlen?

Am besten unterscheiden wir gleich zu Beginn zwischen wertvollen Einstellungen bzw. Haltungen und den Beiträgen zur Welterklärung: Es erscheint sofort plausibel, dass in der „partnerschaftlichen“, auf Austausch und Gleichgewicht angelegten Naturbeziehung der Indigenen ein echtes Vorbild für die Gestaltung unseres zukünftigen Umgangs steckt.[vi]

Auf der anderen Seite können es animistische und magische Erklärungsversuche nicht mal im Ansatz mit den naturwissenschaftlichen Forschungsbefunden und den aus ihnen hervorgegangenen Theorien aufnehmen – egal um welchen Bereich der Natur es geht. Welterklärung geht heute schlichtweg anders und besser!

Allerdings: Das Erkennen von komplexen, ineinander verwobenen systemischen Kreisläufen, hat erst in den letzten Jahrzehnten wirklich Einzug in unsere Naturwissenschaften gefunden; auf dieser Ebene hatten die Naturvölker mit ihrer intuitiv-ganzheitlichen Erfassung einen großen Vorsprung, der Respekt verdient. Ebenfalls nicht geringschätzen sollte man die an die Umgebung angepasste Wahrnehmungs-Spezialisierung und das spezifische umweltbezogene Erfahrungswissen, das sich im Laufe der Jahrhunderte angesammelt hat.

Nochmal eine ganz andere Frage ist es, ob in den emotional-spirituellen Erlebens- und Zugangsformen dieser ursprünglichen Kulturen noch wertvolle Schätze für unsere heutigen transzendenten Bedürfnisse versteckt sind. Sind es vielleicht Erfahrungen von Rausch und Trance, die uns mit den scheinbar so fremden Kulturen verbinden?

Dazu weiter unten mehr.

Einige Aspekte sollen als eine Art Schlussbemerkung zeigen, wie lebendig die Diskussion um die Inhalte dieses Kapitels sein kann:

Interessanter Weise gibt es in der aktuellen philosophischen Diskussion Konzepte, die (scheinbar) das animistische Konzept der frühen Kulturen weiterführen: Im sog. „Panpsychismus“ wird davon ausgegangen, dass ein Bewusstsein oder eine Art von mentalen oder psychischen Eigenschaften ein universelles oder grundlegendes Merkmal der Realität ist. In anderen Worten, alle Dinge – einschließlich unbelebter Objekte und Teilchen – haben eine (natürlich sehr rudimentäre) Art von Bewusstsein oder innerer Erfahrung. Auch einige Quantenphysiker zweifeln daran, dass mit dem Konzept der Materie alles zu erklären ist.[vii]

In dem Buch „Ideen um das Ende der Welt zu vertagen“ macht Ailton KRENAK den Versuch einer Verbindung zweier Welten, indem er seine Erfahrungen in beiden Kulturen zu einem Appell an die moderne Welt zusammenfasst.[viii] [ix]

Es soll in diesem Kapitel nicht der Eindruck erweckt werden, als ob sich die besonderen Erfahrungen bzw. die Weisheiten indigener Kulturen irgendwie auf unbekannten oder gar mystischen Wegen gebildet hätten und sozusagen außerhalb der wissenschaftlichen Realität ständen. Das wäre natürlich Unsinn. Auch in den Köpfen Indigener steckten und stecken menschliche Gehirne, in denen alle Wahrnehmungen, Träume, Erfahrungen, Trance-Erlebnisse oder Gedanken in Form von neuronalen Netzen entstehen und durch die Veränderungen solcher Verbindungsmuster gespeichert werden. „Alte Weisheiten“ weisen also nicht auf eine wissenschaftlich unzugängliche Parallelwelt hin, wie das in esoterischen Kreisen gerne behauptet wird (s.u.). Auch ein indigener Schamane kann nur so „weise“ und charismatisch sein, wie seine neuronalen Netzwerke es hergeben. 

b)     Religion

Das Menschheitsthema „Religion“ so nebenbei in einem breit angelegten Sachbuch abzuhandeln, erfordert schon einen gewissen Mut (oder vielleicht auch eine Portion Größenwahn?). Da erscheint es zumindest sinnvoll, sich nochmal die Fragestellung bewusst zu machen:

Wir schauen uns gerade an, was nicht-wissenschaftliche Weltbilder (noch) zur Erklärung der Welt beitragen können – jetzt, wo die Wissenschaft schon so viele Fragen beantworten konnte. Nach den Weltsichten der indigenen Kulturen ist jetzt eben die Religion dran.

Das hört sich schon ein wenig übersichtlicher an; versuchen wir es also einfach!

Vorbemerkung

Wenn man sich die Narrative anschaut, die in verschiedenen indigenen Völkern über das Entstehen und Funktionieren der Welt entstanden sind, erscheint es sehr plausibel zu sein, die ersten polytheistischen Ideen (also die Verehrung mehrerer Götter) als eine Art Weiterentwicklung der gerade dargestellten animistischen und magischen Vorstellungen anzusehen. Aus belebter und beseelter Natur wurden Wesen und Geister, die sich wiederum zu ersten Göttern entwickelten – oft in einem komplexen hierarchischen System miteinander verbunden.

Historisch sehr viel später entstanden dann an verschiedenen Orten der Welt (z.B. in Ägypten und in Persien) die ersten monotheistischen Religionen, in denen eine einzige zentrale Gottheit angebetet wurde. In unserem Kulturkreis haben sich bekannter Weise aus dem Judentum das Christentum und der Islam entwickelt, die damit die drei großen für uns besonders relevanten monotheistischen Religionen bilden.

Die folgenden Überlegungen sind prinzipieller Art und haben nicht das Ziel, Unterschiede zwischen diesen drei Religionen herauszuarbeiten. Auf die große Weltreligionen Hinduismus wird hier nicht eingegangen (viele Aspekte werden aber wohl auch hierauf passen). Der Buddhismus gilt insgesamt eher als ein philosophisches System, jedenfalls nicht als klassische, auf einen Gott zugeschnittene Lehre; auch er bleibt hier außen vor. Da ich in einem christlichen Umfeld aufgewachsen bin, werden sich meine Beispiele weitgehend auf diese Religion beziehen.

Erkenntnisweg

Die hier betrachteten religiösen Glaubenssysteme (aber auch die meisten anderen kleinen oder großen Religionen) erklären die Welt mit Hilfe heiliger Schriften, in denen zunächst eine Schöpfungsgeschichte dargeboten wird und dann weitere Aussagen zum Sinn, zur Bedeutung und zum Ziel des Universums und des menschlichen Lebens erfolgen. Ergänzend dazu gab und gibt es mehr oder weniger konkrete Anleitungen für „richtige“ Lebensführung. Da sich nach dem jeweiligen Glauben in diesen Schriften das Wort Gottes unmittelbar offenbart, waren sie zunächst (und oft für lange Zeit) in ihrer buchstabengetreuen Gültigkeit unangreifbar (und wurden auch mit sehr gewalttätigen Mitteln gegenüber Zweiflern verteidigt).

Da sich allerdings in den jeweiligen komplexen Textsammlungen (deren konkretes Entstehen und Zusammenstellung die Theologie schon seit Jahrhunderten beschäftigt) durchaus Unklarheiten und Widersprüche befinden, gibt es in den großen Religionen Autoritäten, denen das Recht zugesprochen wurde, bestimmte Auslegungen und Deutungen festzulegen. Der katholische Papst ist hier der Prototyp einer solchen Autorität, die durch das Prinzip der „Unfehlbarkeit“ fast göttliche Züge bekam.

Ist damit schon alles über religiöse Erkenntnisprozesse gesagt?

Nicht ganz! Natürlich war und ist die Realität komplexer als die reine Lehre.

So gab es im Christentum keinen völligen Stillstand bzw. keine absolute Beschränkung von systematischem Wissenserwerb jenseits der Vorgaben der Bibel. Insbesondere manche Klöster entwickelten sich im Mittelalter zu Zentren des intellektuellen Lebens und der Bildung. Sie fungierten als Bibliotheken, Schulen und Forschungsstätten. Mönche und Nonnen studierten eine Vielzahl von Fächern, darunter Theologie, Philosophie, Mathematik, Astronomie und Medizin. Sie kopierten und übersetzten Texte und trugen damit zur Erhaltung und Verbreitung von Wissen bei. Einige Klöster, wie das Kloster von Saint Gallen in der Schweiz, waren berühmt für ihre Bibliotheken und Schulen.

Im 12. und 13. Jahrhundert, während der Scholastik, wurde versucht, Glauben und Vernunft miteinander zu vereinen. Große Denker wie Thomas von Aquin versuchten, die Lehren der Kirche mit den Philosophien von Aristoteles und anderen klassischen Denkern zu verbinden. Sie verwendeten dabei logische Argumentation und Analyse, Methoden, die auch in der modernen Wissenschaft zentral sind. Die Klöster spielten auch eine wichtige Rolle in der Entwicklung der wissenschaftlichen Methodik. Roger Bacon, ein Franziskanermönch im 13. Jahrhundert, betonte die Bedeutung der Beobachtung und des Experimentierens in der Wissenschaft, Vorläufer des heutigen wissenschaftlichen Ansatzes.[x]

Trefflich streiten könnte man sicherlich über die Frage, ob diese Denk- und Forschungsfreiheiten hinter dicken Klostermauern wirklich einem religiös motivierten Wissensdrang zuzuschreiben ist und somit positiv auf das kirchliche Erkenntnis-Konto gutzuschreiben wäre. Naheliegender wäre wohl die Vermutung, dass hier durch die Zusammenballung intellektueller Ressourcen ein kreativer Freiraum entstand, der eine Art Eigenleben entwickelte.

Jedenfalls soll hier aber kein harmonisierendes Idealbild von einer Versöhnung zwischen Kirche und Wissenschaft gezeichnet werden. Wir alle kennen den erbitterten und unversöhnlichen Widerstand der katholischen Kirche gegen die Angriffe auf die Fundamente des menschenbezogenen (geozentrischen) Weltbildes.[xi] Und während sich zwar in großen Teilen der christlichen Welt ein aufgeklärtes Verständnis der „heiligen Schriften“ durchgesetzt hat (in denen Welterklärungen nicht mehr wörtlich, sondern symbolisch-bildhaft gelesen werden), gibt es nicht nur im Islam, sondern auch bei fundamentalistischen Christen weiterhin ein Festhalten an längst widerlegten „Wahrheiten“.[xii]

Man muss es wohl abschließend nochmal so deutlich sagen: Vom Grundprinzip her unterliegen Religionen und Wissenschaft völlig entgegengesetzten Erkenntnisprozessen: Göttliche Offenbarungen, heilige Schriften und priesterliche Autoritäten sind das krasse Gegenteil von empirisch-rationalen, auf Überprüfbarkeit und Widerlegbarkeit ausgelegten Wissenserwerb. Dass sich heute die meisten christlichen Glaubensgemeinschaften nicht mehr im Konflikt mit der Wissenschaft befinden, ist darin begründet, dass sich die Religion aus dem Wettbewerb um die Erklärung der Welt fasst vollständig zurückgezogen hat (man darf wohl sagen „notgedrungen“).

Dass sich damit die Bedeutung der Religion für andere Bereiche und Bedürfnisse nicht erledigt hat, schauen wir uns unten bei den Menschenbildern noch genauer an.   

Grundannahmen
Die uns geläufigen monotheistischen Religionen gehen davon aus, dass es einen allmächtigen Schöpfergott gibt, der nicht nur das ganze Universum geschaffen bzw. in Gang gebracht hat, sondern zu uns Menschen (sogar zu dem einzelnen Gläubigen) in einer Art persönlichen, vom Grundsatz wohlwollenden Beziehung steht. Seine besondere Verbundenheit mit unserer Gattung wurde noch dadurch unterstrichen, dass er einen persönlich beauftragten Propheten (Islam) oder sogar seinen menschgewordenen Sohn (Christentum) zu uns gesandt hat.

Dieser Gott gibt uns die Chance, durch den Glauben an ihn und die Befolgung einer Anzahl von Geboten und Vorschriften den eigenen Tod zu überwinden und in ein ewiges Gottesreich einzutreten. Allerdings ist dies nicht nur ein unverbindliches Angebot: Auf der anderen Seite droht nämlich ein Strafgericht und im Ernstfall dauerhafte Verdammnis und immerwährendes Leid.

Noch kürzer formuliert: Die wichtigste Grundannahme ist die Existenz eines höheren Wesens, dass alles geschaffen hat mit unserem Erdenleben irgendwie verbunden ist.

Das hört sich ziemlich harmlos an. Aber zu den Grundprinzipien der monotheistischen Religionen gehört leider auch ihr Exklusivitätsanspruch, um den nicht nur zwischen den großen Religionen, sondern auch innerhalb der Systeme erbittert und opferreich gestritten wurde und wird (das blutigste Beispiel der jüngeren Geschichte betrifft die schiitische und die sunnitische Auslegung des Islam).

Sowohl gegenüber dem „falschen“ Glauben, als auch gegenüber Ungläubigen zeigen religiöse Führer und Anhänger eine oft unbarmherzige und schonungslose Haltung, die bis zur physischen Vernichtung reicht.

Auf einer ganz anderen Seite wird von den Vertretern der Religionen mit großer Inbrunst darauf hingewiesen, dass ja Religionen – jenseits von ihren Glaubensinhalten – eine immense Bedeutung für das individuelle und gesellschaftliche Leben haben: Sie stifteten Gemeinschaft und Lebenssinn, seien an der Entwicklung von ethischen und moralischen Maßstäben beteiligt, böten zahlreiche soziale Dienstleistungen an und begleiteten die Menschen besonders in den existentiellen Momenten ihres Lebens.

Das ist sicherlich alles richtig (und kommt später auch noch zur Sprache), hat aber nichts mit der Fragestellung dieses Kapitels zu tun – der Welterklärung.

Kritik und Widerstand

Grundsätzlich wäre hier erstmal zu unterscheiden zwischen einem Streit um den richtigen Gott und die richtige religiöse Lehre – und der Auseinandersetzung um die Frage, ob es überhaupt so etwas wie einen Gott gibt. Religiöse Menschen bejahen diese zweite Frage, Agnostiker enthalten sich in diesem Punkt, Atheisten verneinen sie.

Um es kurz zu sagen: Beide Fragen sind „objektiv“ (also außerhalb der jeweiligen Glaubenssysteme) nicht zu klären.

Und genau das ist das Problem!

Religiöse Glaubensvorschriften und Überzeugungen beruhen auf – letztlich – willkürlichen und unbeweisbaren Annahmen. Dass bestimmte Religionen eine viele Jahrhunderte währende Geschichte haben, sensationelle künstlerische und architektonische Spuren hinterlassen haben und die kulturelle Entwicklung eines Großteils der Menschheit entscheidend geprägt haben – das alles ändert nichts daran, dass man skeptischen Menschen die Existenz eines Gottes oder die einzigartige Bedeutung bestimmter Schriften nicht beweisen kann.

Damit ist das Potential von Religionen hinsichtlich der Erklärung von Weltzusammenhängen noch einmal ziemlich grundsätzlich erschüttert. Dass Religionen trotz ihrer oft erhobenen moralischen Autorität sehr oft durch Intoleranz, rücksichtslose Missionierung und offene Gewalt aufgefallen sind, trägt sicher nicht zur Verbesserung ihres Renommees bei.

Konsequenzen und Bewertung

Religionen können – wenn überhaupt noch – nur für den Kreis der Gläubigen Beiträge zur Welterklärung leisten. Damit sind sie keine ernsthafte Konkurrenz für den wissenschaftlichen Ansatz zur Erlangung und Prüfung von Erkenntnissen und deren Zusammenfassung in Theorien.

c)     Philosophie

Das Problem mit der Philosophie erscheint noch größer als das mit der Religion: Wie sollen die unfassbar vielen und differenzierten Beitrage der verschiedenen philosophischen Denkschulen in der hier gebotenen Kürze erfasst und bewertet werden?

Auch hier ist eine drastische Einschränkung des Blickwinkels unerlässlich.

Es sollen einerseits nur die prinzipiellen Besonderheiten der philosophischen Weltbetrachtung herausgearbeitet werden (und das auch nur im Bereich der westlichen Denkschulen). Auf der anderen Seite sollen inhaltlich nur einige solcher Grundfragen berührt werden, die schon seit Jahrhunderten die Philosophen umtreiben und die auch noch heute von Relevanz sind (zum Teil im interdisziplinären Dialog mit Naturwissenschaften).

Denn es geht ja (nur) ums Prinzip – um den Beitrag der Philosophie zum Weltverstehen.

Die Philosophie stellt in diesem Kapitel eine Besonderheit dar: Sie ist selbst eine Wissenschaft, eine Geisteswissenschaft. Ihr sind daher systematisches Vorgehen, die Anwendung von wissenschaftlichen Methoden, Regeln der Theoriebildung und die offene Diskussion in der Community des eigenen Fachbereichs nicht fremd. Wir befinden uns hier also schon mal in einem „freundlichen“ Umfeld.

Historisch betrachtet ist die Nähe zu den Naturwissenschaften sogar noch viel ausgeprägter: Oft wird übersehen, dass die Trennung zwischen Philosophie und den wissenschaftlichen Fachdisziplinen erst im Laufe des 17. Jahrhunderts begann und sich bei einigen Fächern, z.B. der Psychologie und der Soziologie, noch lange hingezogen hat.[xiii] Man kann es sogar noch drastischer formulieren: Die Philosophie ist tatsächlich die „Mutter der Naturwissenschaften“ – denn es waren Philosophen des Altertums (insbesondere Aristoteles), die mit einer systematischen Beobachtung von Naturphänomenen begannen und dabei Theorien entwickelten, die sich deutlich von animistischen oder religiösen Erklärungsansätzen unterschieden.[xiv]

Mit einiger Berechtigung könnte die Philosophie mit ihren weitreichenden und grundlegenden Fragestellungen durchaus auch als eine Art „säkulare Religion“ betrachtet werden (weil Gott zwar auch Gegenstand philosophischer Betrachtungen sein kann, dabei aber nicht in glaubender oder bekennender Weise vorausgesetzt wird).

Erkenntnisweg
Philosophen führen (typischer Weise) keine systematischen Beobachtungen und keine kontrollierten Experimente durch; sie messen nicht, sammeln keine Daten, stellen keine Berechnungen hinsichtlich der statistischen Aussagekraft von Befunden dar – sie sind schlichtweg keine Naturwissenschaftler.

Philosophen durchdringen die Welt, also die belebte und unbelebte Natur, das menschliche Zusammenleben, die kulturelle Entwicklung, frühere philosophische Schriften, usw. auf dem Wege des (Nach-)Denkens. Ihr Handwerkszeug ist die Sprache: Sie bilden Konzepte und Kategorien, suchen nach Zusammenhängen und Differenzierungen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Logik: Schlussfolgerungen werden weniger aus Daten, sondern eher aus logischen Zusammenhängen abgeleitet. Der Gegenstand ihrer Erklärungen sind weniger konkrete Ereignisse, sondern es geht eher um Bedeutungen und Sinn.

Die berühmten philosophischen Grundfragen machen das deutlich: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?[xv]

Im Gegensatz zur Religion gibt es für die Philosophie keinen „natürlichen“ Gegensatz zwischen den Offenbarungen heiliger Schriften und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. Die anfängliche Vermischung von religiösen und philosophischen Weltbetrachtungen ist im Laufe der Jahrhunderte einer weitgehenden Trennung der beiden Perspektiven gewichen. Eine weiter bestehende Gemeinsamkeit liegt z.B. in der Beschäftigung mit moralischen Fragen und ethischen Prinzipien.

Grundsätzlich ist der Inhalt philosophischer Betrachtungen offen und flexibel: Die prinzipielle Abgrenzung zwischen Tier und Mensch passt ebenso hinein wie die kulturellen Auswirkungen der aktuellen KI-Innovationen.

Gelegentlich wir die Philosophie auch als „Meta-Wissenschaft“ bezeichnet. Das macht auf den „Blick von oben“ aufmerksam: Die breite Perspektive aus einer gewissen Distanz zu den Spezialfragen der wissenschaftlichen Einzeldisziplinen ermöglicht das Erkennen von größeren Zusammenhängen oder Trends. Es wird eben nicht gefragt: „Wie funktioniert das?“, sondern: „Wohin könnte das führen und was könnte das langfristig bedeuten?“

In den letzten Jahrzehnten hat die Philosophie immer stärker ihren sprichwörtlichen Elfenbeinturm verlassen und hat sich in das Getümmel der praktischen Anwendung und der interdisziplinären Zusammenarbeit geworfen. Das betrifft u.a. den Bereich der Wirtschaft, insbesondere bei den neuen Technologien: Die großen amerikanischen Tech-Konzerne haben sich Philosophen in ihre Teams geholt – sicher mit dem Ziel einer Perspektiverweiterung. Eine ganz andere Tendenz zeigt sich im Bereich von Beratung und Coaching: Philosophische Lebensberatung ist inzwischen ein etabliertes Angebot auf dem großen Psycho-Markt.

Die bedeutsamste und spannendste Entwicklung liegt aber wohl in der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Neurowissenschaftlern, Kognitionspsychologen und KI-Forschern. Hier mischen die Philosophen mit bei der Klärung eines der großen Rätsel der Wissenschaft: des menschlichen Bewusstseins (s. II C 2 a).

Halten wir fest: Bzgl. der Beiträge der Philosophie zur Welterklärung ergibt sich ein facettenreiches Bild. Wobei es sich in der Regel um eine besondere Form von Erkenntnissen handelt: Um Einordnungen, Zusammenhänge und Bedeutungen. Sie greift dabei auf die Erkenntnisse anderer Wissenschaften zurück.

Grundannahmen
Es scheint ein aussichtloses Unterfangen zu sein, in ein paar Zeilen etwas zu den Grundannahmen eines Gegenstandsbereiches auszusagen, der deutlich mehr als zwei Jahrtausende und eine Vielzahl von Schulen, Traditionen und geniale Einzeldenker umfasst – und damit einen wesentlichen Teil der kulturellen Entwicklung, auf der unsere heutigen westlichen Vorstellungen fußen.

Im Gegensatz zu den Wissensbeständen in den Naturwissenschaften, bleiben in den Geisteswissenschaften ganz unterschiedliche (z.T. auch unvereinbare) Sichtweisen oft dauerhaft nebeneinander bestehen. Das liegt daran, dass man über „richtige“ bzw. „falsche“ Interpretationen, Deutungen oder moralische Standpunkte nicht mit einem objektiven Verfahren entscheiden kann. Was zählt, sind nicht messbare Daten, sondern die Stringenz und Überzeugungskraft von Argumentationslinien. Aufgrund unterschiedlicher kultureller und fachlicher Einbettung kann auf diesem Wege oft keine gemeinsame Entscheidung in eine Richtung gefunden werden.

Kritik und Widerstände
Die Philosophie hatte bei uns nicht immer einen so guten Lauf wie im letzten Jahrzehnt. Der grandiose Erfolg des Buches „Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?“ war im Jahre 2012 für die deutsche literarische Szene noch eine große Überraschung.[xviii]

Davor wurde die Denk-Wissenschaft vom Mainstream oft eher ignoriert, belächelt oder zumindest als irrelevant abgetan. Der klassische Bewohner des Elfenbeinturms war ein (ergrauter) Philosoph, der sich in Form eines kaum verständlichen und extrem abstrakten Spezialjargons mit der Auslegung verstaubter Texte beschäftigte und damit außerhalb der eigenen, wohlgeordneten akademischen Welt niemand erreichte. Tatsächlich hat wohl jede/r von Ihnen schon einmal philosophische Text in der Hand gehabt, bei denen man (vielleicht zu Unrecht) als Schreibmotiv so etwas wie „intellektuelle Selbstbefriedigung“ unterstellt hat.

Die akademische Philosophie war und ist tatsächlich oft mit sich selbst beschäftigt. Sicher produziert sie dabei auch neue Erkenntnisse (z.B. bisher übersehene Zusammenhänge zwischen historisch weit auseinanderliegenden Sichtweisen), diese Welterklärungen sind aber häufig auf die eigenen Inhalte bezogen.

Natürlich darf aber auch nicht übersehen werden, dass sich in der historischen Entwicklung die Einflüsse und Dynamiken der verschiedenen Disziplinen gar nicht sinnvoll trennen lassen: So zeigt z.B. die epochal-bedeutsame Phase der Aufklärung, wie eng philosophische, politische, wirtschaftliche und künstlerische Aspekte miteinander verwoben waren.

Nicht ganz von der Hand zu weisen ist auch die Kritik, dass sich Philosophen oft mit Erkenntnissen schmücken, die in anderen – meist naturwissenschaftlichen – Disziplinen gewonnen wurden. Populärwissenschaftliche Philosophie-Sachbücher zitieren z.B. jede Menge sozialpsychologische Untersuchungen und nehmen wohl gerne in Kauf, dass all diese anregenden Befunde dem Konto der angewandten Philosophie gutgeschrieben werden.

Wirklich bedenklich wird es jedoch, wenn Philosophen noch immer aus ihren geisteswissenschaftlichen Denktraditionen heraus Aussagen über Phänomene oder Sachverhalte machen, zu denen inzwischen eindeutige naturwissenschaftliche Befunde vorliegen (z.B. über den Zusammenhang zwischen messbaren neuronalen Prozessen und Bewusstseinsinhalten). Auch eine Philosophie, die z.B. Aussagen über das Wesen der Materie macht, ohne die Befunde der Teilchenphysik zu berücksichtigen, befindet sich auf einem Abstellgleis.

Konsequenzen und Bewertungen

Die Philosophie ist eine facettenreiche und anregende Geisteswissenschaft, die aufgrund ihrer übergeordneten Betrachtungsweise wertvolle Beiträge zum Verständnis der Zusammenhänge in unserem komplexen Weltgeschehen leisten kann. Dabei greift sie in der Regel auf Wissensbestände und Erkenntnisse anderer Wissenschaftsdisziplinen zurück.

Im Gegensatz zur Religion setzt sie dabei nicht die Akzeptanz willkürlicher und unbeweisbarer Setzungen voraus; stattdessen orientiert sie sich an den Gesetzen der Logik und an den Methoden (geistes-)wissenschaftlicher Forschung. Die Philosophie hat zwar selbst keine empirische Verankerung, ist aber von Systematik und Logik weit von den sonst in diesem Kapitel genannten nicht-wissenschaftlichen Weltsichten entfernt.

Philosophie kann und sollte wissenschaftliche Erkenntnisse begleiten, also einordnen und auf ihre Konsequenzen hinterfragen. Wann immer sie sich aber in Konkurrenz zu
Befunden der Naturwissenschaften begibt, setzt sie ihre Bedeutung und letztlich auch ihre Berechtigung aufs Spiel. Eine „echte“ (empirisch beweisbare) Welterklärung kann aus philosophischen Denktraditionen genauso wenig abgeleitet werden wie aus animistischen Fantasien oder religiösen Glaubenssätzen.

Allein durch Denken kann man heute die Welt nicht mehr erklären.

d)     Esoterik

Wir schauen uns gerade die letzte Erkenntnisquelle an, die als Alternative zur Naturwissenschaft in Betracht käme. In diesem Kapitel geht es also nicht um die Sehnsüchte und Bedürfnisse, die viele Menschen dazu bewegen, sich esoterischen, spirituellen, mystischen oder transzendenten Themen oder Praktiken zuzuwenden. Die zu beantwortende Frage lautet vielmehr: Was können diese Perspektiven oder Lehren zu einem Verstehen der Welt – und damit vielleicht auch zur Lösung drängender Menschheitsprobleme – beitragen?

Wir werden uns aus pragmatischen Gründen auf den Bereich der Esoterik beschränken. In diesem bunten und chaotischen Allerlei gibt es fast nichts, was es nicht gibt: Elfen, Engel und Gnome, heilende Steine und energiespendende Kristalle, Handauflegen und Energetisierung und Reinigung von Wasser durch die Kraft von Symbolen. Es gibt Pulver, die gleich dutzende von Krankheiten heilen und telepathische Heilenergien durch die Wiederholung bestimmter wirkmächtiger Formeln. Es gibt die guten alten Tarot-Karten, das Pendeln und das Wahrsagen – und natürlich die Weisheit der Sterne.

Erkenntnisweg
Esoterische Erkenntnisse können im Prinzip aus verschiedenen Quellen stammen: Viel angesammelte Weisheit könnte in alten Traditionen oder Überlieferungen (wie z.B. in der Astrologie) stecken, erleuchtete oder sonst wie bevorzugte Menschen können als geistige Lehrer wirken (als Trainer oder Heiler), bestimmte – oft irgendwie energetisch aufgeladene – Gegenstände oder Materialien können positive Kräfte entfalten oder toxische Einflüsse (z.B. im Trinkwasser)  neutralisieren oder ganz persönliche, rein subjektive Praktiken bzw. Erfahrungen (z.B. in tiefen Entspannungszuständen) können neue Wege in ein erweitertes Bewusstsein oder reicheres Leben öffnen.
Die Aufzählung macht schnell deutlich: Hier sind keine Mechanismen im Spiel, deren Wirken sich beobachten, messen oder in einer auch für Unbeteiligte nachvollziehbaren Weise erklären ließen. Als Belege für die versprochenen Ergebnisse werden nur die anekdotischen Berichte der zufriedenen Konsumenten und Kunden angeboten – davon gibt es allerdings reichlich.

Grundannahmen
Die allermeisten esoterischen Praktiken und Theorien beruhen auf der (expliziten oder unausgesprochenen) Annahme, dass es neben der bekannten, erforschten und messbaren Welt eine Art zweite Realitätsebene gibt, in der bestimmte Energien oder Kräfte wirken. Diese Kräfte können an bestimme Materialien gebunden sein (z.B. bestimmte Steine oder Mineralien), können aber auch – sozusagen substanzlos – in bestimmten Zeichen oder Symbolen wohnen oder durch bestimme Praktiken (Bewegungen, Mantras, Rituale o.ä.) mobilisiert werden.
Darüber hinaus ist man sich in esoterischen Kreisen wohl einig, dass es bestimmte Menschen gibt, die durch ihre Bestimmung oder den Vorsprung an esoterischen Erfahrungen zur Vermittlung von esoterischen Weisheiten geeignet und berufen sind.
Man ist überzeugt davon, dass die etablierten naturwissenschaftlichen Methoden der Messung und Analyse von Wirkmechanismen nicht ausreichen bzw. nicht geeignet sind, die durch subjektive Erfahrung „bewiesenen“ Effekte zu erfassen. Die etablierten experimentellen Maßstäbe (z.B. Doppel-Blind-Versuche in der Medizinforschung) lehnt man als unpassend ab – oft mit dem lapidaren Ausspruch: „Wer heilt (oder sonst welche positiven Affekte erzielt), hat Recht!“

Kritik und Widerstände
Die esoterischen Annahmen, Heilsversprechen und vermeintlichen Wirkmechanismen sind willkürlich, unbewiesen bzw. unbeweisbar und in hohem Maße irrational. Das Verweisen auf eine geheimnisvolle Ebene, in der Kräfte wirken, die sich einer wissenschaftlichen Überprüfung grundsätzlich entziehen, ist einer aufgeklärten, an den Prinzipien von Logik und Vernunft orientierten Gesellschaft, die stolz auf ihre technologischen Errungenschaften ist, unwürdig.
Einen Großteil der esoterischen „Erkenntnisse“ hätte man wohl früher dem Bereich „Aberglauben“ zugeordnet. Mit diesem (menschlich – allzu menschlichen) Bedürfnis, Ursache-/Wirkungszusammenhänge auch dort zu finden, wo es keine gibt, und eine Art Kontrollgefühl in Situationen zu entwickeln, in denen man keinen Einfluss hat, gehen viele Menschen augenzwinkernd-entspannt um. Doch dieses systematische esoterische Zelebrieren von Irrationalität ist nicht nur ein Ärgernis, sondern birgt auch ernsthafte Gefahren in sich.
Auf einer konkreten Ebene betrifft das Menschen, die sich von den diversen Wunderheilern dazu verführen lassen, z.T. erhebliche finanzielle Investitionen in den vermeintlichen Schutz vor irgendwelchen Strahlen oder in die vermeintliche Verbesserung ihres Wohlbefindens durch energetisierende Kristalle zu stecken. Geht es darüber hinaus auch um die „Behandlung“ von Krankheiten, kann der esoterische Wunderglaube dazu führen, dringend notwendige Interventionen der Schulmedizin zu verzögern oder zu unterlassen.
Auf einer gesellschaftlichen Ebene trägt die esoterische Szene nicht nur zu einer insgesamt wissenschafts-skeptischen Grundhaltung bei, sondern vermischt sich in Teilbereichen bereits jetzt mit einer rechts-populistischen, antidemokratischen Szene im Verschwörungs-Querdenker-Milieu.

Konsequenzen und Bewertung
Ebenso wenig wie die Religionen können esoterische Lehren die Welt in einer Weise erklären, die zu allgemein nachvollziehbaren und akzeptierten Erkenntnissen führen und so eine Grundlage für gemeinsames Handeln bilden könnten.
Esoterische Theorien machen uns nicht schlauer, sondern dümmer.
Esoterische Praktiken können allerdings – so wie Vieles andere auch – durchaus eine psychologische Wirkung haben: den Placebo-Effekt. Möglicherweise fühle ich mich es tatsächlich eine zeitlang besser, wenn ich gerade 350 € für einen schönen türkisfarbenen Energie-Kristall ausgegeben habe. Von der Seite angestrahlt produziert er im ganzen Raum wunderschöne Reflexionen, man sieht geradezu die positive Kraft…
Natürlich macht der Erfolg der esoterischen Szene auf etwas aufmerksam: auf emotionale bzw. spirituelle Defizite und Sehnsüchte, auf den Wunsch nach Kontrolle in einer hyper-komplexen Welt, auf das Misstrauen gegenüber einer Roboter-Medizin und vielleicht sogar auf einen Überdruss oder eine Überforderung durch eine rational-technokratisch durchgetakteten Welt insgesamt.

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