Wenn Sie Ihren Blick von dem Text, den Sie gerade auf einem Bildschirm lesen, auf Ihre Umgebung richten, werden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit von zahlreichen Dingen umgeben sein, die es – zumindest in dieser Form und mir diesen Materialien – vor 300 Jahren noch nicht gab. Einige der Gegenstände in Ihrer Nähe gab es vermutlich selbst vor 30 Jahren noch nicht. Bezogen auf die Existenz des Homo Sapiens (ca. 300 000 Jahre) hat unsere Gattung also so zwischen 99,9 und 99,99 Prozent der Zeit ohne die für uns selbstverständlichen technologischen Errungenschaften der modernen Welt gelebt.
Diese explosionsartige Veränderung des menschlichen Daseins hat ihre Grundlage nicht etwa in einer plötzlichen evolutionären Weiterentwicklung unseres Gehirns – das ist weitgehend gleichgeblieben. Entscheidend waren die rasanten Erkenntnissprünge der Naturwissenschaften, die sich ab dem 18. Jahrhundert von der Philosophie abgespalten und als selbstständige Disziplinen etabliert haben. Ein bedeutsames Fundament für die Dynamik dieser kulturellen Evolutionsdynamik bildete die rasche Verbreitungsmöglichkeit von Wissen durch die Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert.
Die naturwissenschaftliche Weltsicht basiert – ganz allgemein betrachtet – auf dem Verständnis der Naturgesetze bzw. der Anwendung der wissenschaftlichen Methoden, mathematischer Modelle und der Bildung von Theorien, um Phänomene und Ereignisse zu erklären. Es geht davon aus, dass die Welt objektiv beobachtet werden kann und dass alles auf natürlichen Ursachen beruht. Auf dieser Grundlage sind Vorhersagen und damit auch technische Anwendungen möglich.
Schauen wir uns die Grundprinzipien des wissenschaftlichen Weltbildes nun ein wenig genauer an.
Üblicher Weise wird der Beginn eines wissenschaftlichen Zugehens auf die Welt mit dem griechischen Altertum in Verbindung gebracht. Insbesondere Aristoteles betonte bereits den Wert der Beobachtung und des logischen Denkens und wendete diese Methoden auf die Untersuchung von Tieren und Naturphänomenen an.[i] Bei ihm finden sich beschreibende Klassifizierungen ebenso wie deduktive und induktive Schlussfolgerung. Systematische Experimente führte er dagegen wohl noch nicht durch.
Damit sind einige der wichtigsten Erkenntniswege der modernen Naturwissenschaften schon genannt:
Beobachtung: Naturwissenschaftler beobachten sorgfältig Phänomene und Ereignisse in der natürlichen Welt. Durch genaue Beobachtungen können sie Muster, Zusammenhänge und Verhaltensweisen identifizieren, die zur Formulierung von Hypothesen und Theorien führen.
Experiment: Experimente sind ein wesentlicher Bestandteil der naturwissenschaftlichen Forschung. Durch die gezielte Manipulation von Variablen und die Kontrolle anderer Faktoren können Naturwissenschaftler Ursache-Wirkungs-Beziehungen untersuchen und Schlussfolgerungen ziehen. Experimente erlauben es, Hypothesen zu testen und empirische Daten zu sammeln.
Messung: Naturwissenschaftler verwenden präzise Messungen, um quantitative Informationen zu erfassen. Durch die Anwendung von geeigneten Messinstrumenten und -techniken können sie Eigenschaften, Größenordnungen und Veränderungen in der physikalischen Welt quantifizieren. Messungen sind wichtig, um empirische Daten zu erzeugen und zu analysieren.
Mathematische Modellierung: Die Naturwissenschaften nutzen mathematische Modelle, um komplexe Phänomene zu beschreiben und zu analysieren. Durch die Verwendung von Gleichungen, Formeln und statistischen Methoden können Naturwissenschaftler Vorhersagen treffen, Zusammenhänge identifizieren und theoretische Konzepte entwickeln.
Induktion und Deduktion: Naturwissenschaftler wenden induktive und deduktive Denkweisen an. Induktion beinhaltet das Ziehen von allgemeinen Schlussfolgerungen aufgrund spezifischer Beobachtungen oder Experimente. Deduktion beinhaltet das Ableiten spezifischer Vorhersagen aus allgemeinen Prinzipien oder Theorien. Beide Denkweisen ergänzen sich und tragen zur Entwicklung und Ausdifferenzierung des wissenschaftlichen Wissens bei.
Peer-Review: Naturwissenschaftliche Erkenntnisse werden einem strengen Peer-Review-Prozess unterzogen, bei dem Experten auf dem jeweiligen Fachgebiet die Qualität, Richtigkeit und Methodik wissenschaftlicher Arbeiten überprüfen. Dieser Prozess gewährleistet die Qualität und Zuverlässigkeit der Forschungsergebnisse und ermöglicht den Austausch von Wissen und Ideen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Wissen ist somit nicht an Personen bzw. Autoritäten gebunden und muss sich ausnahmslos einer sozialen Kontrolle unterziehen.
Diese Methoden und Prinzipien bilden das Rückgrat der naturwissenschaftlichen Forschung und tragen dazu bei, systematisch und objektiv Erkenntnisse über die physikalische Welt zu gewinnen. Genauso aussagekräftig wie die Beschreibung dieser Erkenntniswege wäre die Perspektivumkehr: Wissenschaftliches Arbeiten schließt nämlich eine große Menge alternativer Quellen für Erkenntnisse aus – z.B. individuelle Erlebnisse, innere Erleuchtungen, historische Überlieferungen, heilige Texte, Prophezeiungen, Aussagen von selbsternannten Autoritäten, astrologische Deutungen, Weisheiten indigener Völker, usw.
Es bleibt also alles außen vor, was sich einer rationalen Analyse, einer Wiederhol- und Überprüfbarkeit (auch durch beliebige Dritte) und einer Kontrolle durch die wissenschaftliche Gemeinschaft entzieht.
Die (natur)wissenschaftliche Sicht auf die Welt lässt sich nicht nur über ihre Methoden der Erkenntnisgewinnung definieren; auch bestimmte Grundannahmen spielen in den Naturwissenschaften eine bedeutsame Rolle. Am klarsten lassen sich solche Prinzipien im Bereich der Physik erläutern, die aufgrund ihrer Beschäftigung mit den grundlegenden Naturkonstanten sowie mit dem gesamten Spektrum zwischen subatomaren Teilchen und der Ausdehnung unseres Gesamtuniversums den Charakter einer Basis-Disziplin hat. Dazu kommt noch die starke Affinität zur Mathematik, die der Physik auch noch eine Art überzeugende Eleganz verleiht.[ii]
Rationalität und Logik
Das wissenschaftliche Denken und Arbeiten wäre wohl kaum vorstellbar ohne eine grundlegende Orientierung an dem, was wir üblicherweise die „Vernunft“ nennen. Das ist so selbstverständlich, dass man es leicht aus dem Auge verlieren könnte.
Während Intelligenz eher eine instrumentelle Fähigkeit zur Problemlösung beschreibt, werden mit einer rationalen und logischen, also vernunftbezogenen, Vorgehensweisen in der Regel weitergehende Eigenschaften verbunden: Hier geht es um das Erkennen von Zusammenhängen, um kritisches Hinterfragen, um eigenständige Schlussfolgerungen auf der Grundlage von Beweisen, die Bereitschaft zur Selbstkorrektur und auch um das Bilden von größeren Erklärungszusammenhängen.
Wenn man es umdreht, wird es noch klarer: Irrationalität und Wissenschaft sind natürliche Gegner; wer die Gesetze der Logik nicht akzeptiert, willkürliche Zusatzannahmen macht und mehr auf Autoritäten hört als auf empirische Daten, wird in der wissenschaftlichen Community wohl kaum einen Platz finden.
Materialismus
Ganz grundlegend ist das physikalische Weltbild ein materialistisches, da es bei der Untersuchung der fundamentalen Struktur und der Eigenschaften der Materie und der Energie im Universum davon ausgeht, dass die physische Welt durch reale Substanzen und natürliche Prozesse erklärbar ist. Phänomene außerhalb von (potentiell) beobachtbaren und messbaren Faktoren – also z.B. die Idee einer nicht an Materie gebundenen geistigen Kraft – haben in dieser Weltsicht keinen Platz.
Das hält die theoretische Grundlagenphysik aber keineswegs davon ab, ziemlich „abgedrehte“ Modelle (z.B. über unendlich viele „Multiversen“ oder „Strings“) zu entwickeln und in mathematische Formeln zu fassen, die sich kaum mehr mit Plausibilitäten des Alltagsverstandes vereinbaren lassen. Im Bereich der Quantenphysik gibt es sogar Sichtweisen, die das Konzept der Materie als Basis für den existierenden Kosmos ganz in Frage stellen.
Naturgesetze
Die größte Leistung der Physik liegt wohl darin, das scheinbar unendlich komplexe Geschehen in der uns umgebenden materiellen Welt in einigen wenigen – mathematisch darstellbaren – Gesetzmäßigkeiten erfasst zu haben. Diese Gesetze haben den Anspruch, das Verhalten und die Interaktion von (unbelebter) Materie – also von Galaxien, Planeten, Gegenständen, Atomen und Quanten zu beschreiben und möglichst auch vorherzusagen.
Zu diesen Gesetzen gehören:
Die moderne Physik des 20. Jahrhunderts hat mit Einsteins spezieller und allgemeiner Relativitätstheorie, der Quantenmechanik und dem Standardmodell der Teilchenphysik die Erfassung der materiellen Welt weiter ausgebaut und verfeinert.
Der von vielen Wissenschaftlern (u.a. von dem weltberühmten Steven Hawkins) herbeigesehnte große Wurf, die physikalische Weltformel, wurde allerdings noch nicht gefunden. Sie müsste eine Theorie sein, die sowohl die Phänomene der Quantenmechanik als auch die der allgemeinen Relativitätstheorie in einem konsistenten Rahmen erklären kann. Theorien wie die Stringtheorie und die Schleifenquantengravitation sind Kandidaten für eine solche Theorie, aber bislang ist keine von ihnen vollständig bestätigt oder allgemein akzeptiert ().
Minimalste Abweichungen in der ersten Materie-Wolke und/oder bei der Bildung der frühen geologischen Strukturen in den ersten Jahrtausenden nach dem Urknall haben höchstwahrscheinlich die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass wir jetzt, nach ca. 13,7 Milliarden Jahren, auf diesem winzigen Staubkorn im All leben und uns dieser Tatsache sogar bewusst sind.
In diesem Zusammenhang wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass ein Universum mit nur minimal abweichenden Naturkonstanten niemals die Möglichkeit für die Entwicklung von Leben (so wie wir es kennen) beinhaltet hätte. Manche Wissenschaftler ziehen daraus den Schluss, dass es vermutlich (unendlich?) viele Universen geben müsste, damit dann ein für uns „passendes“ dabei sein könnte (Theorie der Multiversen). Andere sehen darin eher einen Hinweis auf etwas Sinnhaftes und Zielgerichtetes (was dann schon an die Idee von einem bewussten Schöpfungsakt einer höheren Instanz erinnert). Diese Diskussion wird – von Philosophen und Physikern – unter dem Stichwort „anthropisches Prinzip“ geführt.
Mir erscheint das Wundern darüber, dass die Welt ganz genau solche Bedingungen vorhält, die unser Entstehen ermöglicht hat, ziemlich überflüssig und skurril: Wir sind halt da, weil es die Bedingungen gab – und wären nicht da, wenn sie anders wären. Wo genau liegt da das Problem?
Der Gedanke, dass die Ausgestaltung des Universums irgendwie mit unserem Dasein verknüpft sein könnte (im Sinne einer Zielsetzung), ist wohl so ziemlich die größtmögliche Selbstüberschätzung, die überhaupt vorstellbar wäre.
Universalismus
Die physikalische Weltsicht ist dadurch bestimmt, dass sie die Gültigkeit der Naturgesetze für das gesamte Universum postuliert. Sämtliche Modelle und Berechnungen der physikalischen Kosmologie gehen davon aus, dass die uns bekannten Naturkonstanten in jedem Zipfel der Milliarden von Galaxien genauso zu beobachten wären wie in unserem Sonnensystem.
Dieses Prinzip gehört wohl zu den am wenigsten umstrittenen Grundannahmen des physikalischen Weltbildes. Es ergibt sich schon rein logisch dadurch, dass dem uns bekannten Universum ja ein gemeinsamer Ausgangspunkt (der Urknall) zugesprochen wird; die von dieser Singularität ausgehenden Prozesse fanden dann in einer Umgebung statt, in der die gleichen Naturkonstanten wirken. Weil sich das bis heute nicht verändert hat, gelten unsere astronomischen Berechnungen – wie sich immer wieder bestätigen lässt – auch in weit entfernten Galaxien.
Das Prinzip der Universalität wird auch dadurch nicht in Frage gestellt, dass bestimmte Phänomene – wie „Schwarzen Löcher“ und „Dunkle Materie“ – noch nicht vollständig in theoretische Konzepte bzw. mathematischen Modelle integriert sind.
Kausalität und Determinismus
Während die bisherigen Konzepte eher abstrakt waren und das Grundthema dieses Buches kaum zu berühren scheinen, nähern wir uns jetzt einem Bereich, der deutlich mehr Bedeutung für die Ausführungen im Rest dieses Buches hat. Entsprechend ausführlich wollen wir uns dem Themenbereich widmen.
Was zuerst auffällt: Die Konzepte von Kausalität und Determinismus sind so grundsätzlich, dass sie nicht nur wissenschaftlich, sondern auch philosophisch intensiv diskutiert werden.
Während Kausalität ganz allgemein den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung eines beliebigen Ereignisses beschreibt und als Basis wissenschaftlichen Denkens kaum umstritten ist, geht das Prinzip des Determinismus deutlich darüber hinaus: Es postuliert, dass alle Ereignisse (einschließlich menschlicher Handlungen) durch vorherige Ereignisse bestimmt sind – in Übereinstimmung mit den unveränderlichen Naturgesetzen. Da es in diesem Modell keinen Zufall geben könnte, wären in einem deterministischen Universum der Zustand aller Dinge zu jedem Zeitpunkt exakt vorhersagbar, wenn man nur alle relevanten Informationen hätte. Eine solche Sichtweise der Dinge wird oft auch als „kausale Geschlossenheit“ der physikalischen Welt bezeichnet.
Und hier wird es dann gleich interessant: Je weiter wir uns im Bereich der unbelebten Welt auf die Prinzipien von Kausalität und Determinismus einlassen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass diese Konzepte auch für biologische Systeme und damit letztlich auch für menschliches Verhalten eine Bedeutung haben. Oder umgekehrt: Sähen wir schon in der physikalischen Weltbetrachtung Raum für Zufälle, Chaos oder unerklärbare Kräfte, dann wäre bei der Betrachtung komplexer lebender Systeme wohl kaum noch Raum für einen strengen Determinismus.
Um die Sache noch etwas komplizierter zu machen: Es gibt unterschiedliche Spielarten des Determinismus. Sie unterscheiden sich insbesondere dahingehend, ob sie die Besonderheiten komplexer Systeme berücksichtigen und damit das Prinzip des Reduktionismus hinter sich lassen (s.u.).
Zunächst kann man festhalten: Ein extremer (also ganz konsequenter) Determinismus ist ziemlich unplausibel; es ist ganz schön anstrengend, ihn durchzuhalten.
Die meisten Menschen würden solche Gedankenkonstruktionen wohl intuitiv ablehnen und auf Zufälle oder die Chaos-Theorie verweisen.
Fangen wir mal mit dem Zufall an und verbleiben wir in der physikalischen Welt (die mögliche Determiniertheit des Menschen wird weiter unten Thema):
Nahezu alles, was wir in unserem alltäglichen Sprachgebrauch dem Zufall zuschreiben, ist zweifellos ein Teil einer geschlossenen Kausalkette. Das bedeutet: Würden wir die (vollständigen und genauen) Ausgangsbedingungen vor einem Ereignis kennen und ebenfalls alle momentan einwirkenden Kräfte (mitsamt ihren Wechselwirkungen), so wäre das vermeintlich zufällige Geschehen zu 100% erklärt.
Das trifft für jeden Autounfall („was für ein glücklicher Zufall, dass wir den Baum um wenige Zentimeter verfehlt haben“) genauso zu wie auf das gleichzeitige Reißen beider Bremszüge bei einer Bergabfahrt mit dem Fahrrad („das war eindeutig Schicksal“). Ja, wir haben viele Namen für Ereignisse, die wir eher unwahrscheinlich finden. Aber: Prinzipiell lassen sich alle wirkenden Kräfte in bekannte Gleichungen einfügen und das entstandene Ergebnis ist plötzlich das einzig mögliche!
Der Begriff „Zufall“ ist meist so etwas ein Lückenbüßer: Wir benutzen ihn, wenn es aussichtslos oder zu aufwendig erscheint, alle Wirkfaktoren, alle an der Kausalkette beteiligten Elemente, zu erfassen oder gar zu messen. Wir bezeichnen damit auch vermeintlich unwahrscheinliche Begebenheiten – und vergessen dabei, wie oft unwahrscheinliche Dinge (wie ein Lottogewinn) auch tatsächlich nicht passieren. Sie passieren nämlich genau so oft bzw. selten, wie es ihrer Wahrscheinlichkeit (die im Prinzip – wie ein Flugzeugabsturz – berechenbar wäre) entspricht.
Der Punkt mit dem Zufall geht also ziemlich eindeutig an das Team „Determinismus“.
Der Sieg wäre allerdings noch eindeutiger, wenn es da nicht diese sperrige Quantenphysik gäbe (die schon Einstein geärgert hat). Wirklich ernst zu nehmende Leute (wie z.B. der Nobelpreisträger des Jahres 2022, Anton Zeilinger) sind nach jahrzehntelanger Forschung davon überzeugt, dass es im Bereich der Teilchenphysik so etwas wie „echte“ Zufälle gibt, also Phänomene oder Zustände die prinzipiell nicht vorhersagbar oder berechenbar sind.[vi] Allerdings ist umstritten, ob bzw. wie weit solche exotischen Vorgänge auf subatomarer Ebene eine Bedeutung für die Kausalität von Ereignissen in unserer Alltagswelt haben.[vii] Obwohl wir von technischen Gerätschaften umgeben sind, die auf Prinzipien der Quantenmechanik beruhen (Laser, Halbleiter, Smartphones, MRT), ist weiter davon auszugehen, dass unsere „normale“ gegenständliche Umwelt nach den (deterministischen) Prinzipien der klassischen Physik funktionieren. Sogar innerhalb der Quantenphysik gibt es eine Auseinandersetzung um die Frage, ob es nicht auch letztendlich deterministische Interpretationen geben könnte.
Das Zwischenergebnis könnte also lauten: Viel weniger Zufall, als man intuitiv denkt – aber der Determinismus und die exakte Vorhersagbarkeit haben selbst in physikalischen Welt wegen der festgestellten Unschärfen und Zufallseffekte offenbar prinzipielle Grenzen.
Mit der Chaos-Theorie werden wir schneller fertig. Die meisten kennen den Begriff wohl im Zusammenhang mit dem „Schmetterlings-Effekt“, bei dem angeblich der Flügelschlag eines Schmetterlings letztlich einen weit entfernten Tornado auslösen könnte.
Das Konzept soll die inhärente Unvorhersehbarkeit und Sensitivität komplexer Systeme gegenüber geringfügigen Veränderungen in ihren Anfangsbedingungen verdeutlichen. Nun ist die Komplexität und die Wechselwirkung auch von minimalsten Wirkfaktoren nicht automatisch ein Argument gegen eine innewohnende zwingende Kausalität. Insbesondere spielt hier die Unterscheidung zwischen „Vorhersagbarkeit“ und „kausaler Determiniertheit“ eine Rolle: Auch chaotische Systeme verhalten sich nämlich keineswegs völlig „regellos“ und beinhalten jede Menge nachvollziehbarer (kausal verbudener) Einzelschritte; allerdings sind langfristige Vorhersagen oft tatsächlich nicht möglich – auch wegen der Komplexität von Wechselwirkungen zwischen Einzelfaktoren.
Insgesamt könnte man – mit genug Daten und Wissen um die Zusammenhänge – die Chaos-Theorie als Determinismus-Killer wohl ähnlich entzaubern wie den banalen Zufall.[viii]
Reduktionismus vs. Emergenz
Eine der weitreichendsten und ernsthaftesten Auseinandersetzungen innerhalb der Physik-Community betrifft die Frage, ob – salopp gesagt – die kleinen Dinge auch die großen Zusammenhänge erklären. Macht es also Sinn, mit allen denkbaren technischen und geistigen Möglichkeiten die Gesetzmäßigkeiten der Elemente und Kräfte auf atomarer und subatomarer Ebene zu entschlüsseln, weil darin letztlich die Antworten auf alle Fragen stecken, die uns die Materie unseres Universums stellen kann?
Man nennt diese Tendenz, physikalische Probleme durch die Untersuchung immer kleinerer Teilchen zu lösen „Reduktionismus“. Die Idee ist nicht unlogisch: Da ja nun mal alle Materie – vom Molekül bis zum Gesamtuniversum – aus einer begrenzten Anzahl von Elementarteilchen zusammengesetzt ist und im Rahmen von einer – wiederum sehr begrenzten – Anzahl von Kräften gesetzmäßig miteinander interagieren, müssten im Prinzip alle Fragen geklärt und alle Phänomene (im Prinzip) berechenbar sein. In wie viele Einzelteile eine nach dem Start in 2000 m Höhe explodierende Weltraumrakete zerfällt, in welchem Radius ihre Trümmerteile auf dem Ozean verteilt sind, wie schnell sie auf den Meeresboden sinken und wie tief sie darin eindringen – all das passiert im Rahmen der uns (den Physikern) bekannten Gesetze, die mit Hilfe des reduktionistischen Ansatzes gefunden wurden.
Das gilt übrigens völlig unabhängig davon, dass die Zahl der in diesem Beispiel wirkenden Faktoren und Kräfte so astronomisch hoch wäre, dass auf der faktischen Ebene jede genauere Berechnung scheitern müsste.
Woher kommen nun die Zweifel an den Weisheiten des Reduktionismus?
Die Vertreter des Konzeptes der „Emergenz“ sind überzeugt davon, dass größere und komplexere Systeme Eigenschaften haben können, die sich nicht aus denen ihrer Einzelteile ableiten bzw. erklären lassen. Die Kurzfassung dieses Gedankens ist uns allen vertraut: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Emergenz-Befürworter führen ins Feld, dass komplexe Systeme (wie das Gehirn oder das weltweite Klimasystem) „höhere“ Organisationsprinzipien haben, die sich auf „tieferen“ Ebenen nicht finden, erklären und vorhersagen lassen. Phänomene dieser Art werden z.B. mit der „Komplexitätstheorie“ oder mit dem Ansatz der „Nichtlinearen Dynamik“ beschrieben. Auch das banale Phänomen der Nässe wird als Beispiel dafür angeführt, dass Eigenschaften sich erst in größeren Dimensionen (also nicht im einzelnen Molekül) zeigen. Selbst mögliche Verbindungen zwischen Emergenz und den Besonderheiten der Quantenmechanik werden diskutiert…
Doch die Fraktion der Reduktionisten hat den Kampf nicht aufgegeben: Sie geht davon aus, dass heute noch bestehende Erklärungslücken durch weitere Forschung noch geschlossen werden können.[ix]
Auf der Grundsatzebene geht die Diskussion über Emergenz also munter weiter. Forscher, die sich mit komplexen, nichtlinearen Systemen befassen, haben jedoch keinen Zweifel mehr an diesem Phänomen. Es gibt aber auch Warnungen davor, dieses Prinzip überzustrapazieren: So würde es beispielsweise zu weit gehen, den emergenten Zuständen „höherer Ordnung“ irgendwelche mystischen Kräften zuzusprechen, die sich nicht mit den innewohnenden Eigenschaften der beteiligten Einzelelemente vereinbaren ließen: Emergenz setzt die Teilchenphysik nicht außer Kraft; sie fügt eine – z.B. durch die Strukturen und die Dynamiken eines Systems gebildete – weitere Ebene hinzu.[x]
Übrigens: Die Tatsache, dass ein Kuchenteig sich anders verhält als die nebeneinander aufgereihten Zutaten ist nun wirklich kein Beweis für das Emergenzprinzip: Alle durch die Zusammenmischung in Gang gebrachten Vorgänge sind aus den physikalischen Materialien und den bekannten chemischen Gesetzmäßigkeiten ihrer Interaktion lückenlos abzuleiten. Und dass eine Melodie bei uns andere Empfindungen Dinge auslöst als die zufällige Darbietung der benutzen Noten ist eine Sache der Wahrnehmungspsychologie und nicht der Emergenz.
Warum könnte diese Detailfrage für die weitere Diskussion in diesem Buch überhaupt von Interesse sein?
Nun – wie schon angedeutet – ist auch das menschliche Gehirn ein extrem komplexes System (noch haben wir in unserem Universum keinen vergleichbaren Komplexitätsgrad gefunden). Wenn Emergenz in solchen Systemen eine bedeutsame Rolle spielt, könnte das für die Erklärung von Denk- und Entscheidungsprozessen relevant sein: Vielleicht ist ja sogar die vieldiskutierte Willensfreiheit des Menschen so ein Emergenz-Phänomen.
Genau das schauen wir uns unten bei den Menschenbildern nochmal an.
Soweit die Darstellung der Grundannahmen des wissenschaftlichen Weltbildes.
Zuletzt ist möglicherweise durch die Diskussion von sehr diffizilen Einzelaspekten der (falsche) Eindruck entstanden, als sei das ganze System irgendwie widersprüchlich und unausgegoren. Entscheidend für den Siegeszug des wissenschaftlichen Blicks auf die Welt sind – neben der Überlegenheit der benutzten Methoden – vor allem die am Anfang des Kapitels genannten Prinzipien:
Die Wissenschaft beruft sich auf eine übersichtliche Zahl von universell gültigen Gesetzen, die in einem weit überwiegenden Bereich unserer Realität klare Kausalitäten aufzeigen und Ergebnisse vorhersagen kann.
Obwohl der geradezu überwältigende Beitrag der Wissenschaft zu unseren Erkenntnisfortschritten und den zivilisatorischen Errungenschaften der Moderne (z.B. in der Medizin) für alle unübersehbar sein müsste, ist dieser Zugang zur Welterklärun keineswegs unumstritten.
Solche – mehr oder weniger grundsätzliche Kritik – stammt aus mehreren Quellen, die im Folgenden dargestellt werden sollen; gewisse Überschneidungen sind dabei nicht zu vermeiden.
Gescheiterter Wahrheitsanspruch
Ein häufig geäußerter Vorwurf an die Wissenschaft verweist darauf, dass sich im Laufe der Zeit immer wieder vorher als „richtig“ dargestellte Erkenntnisse nachträglich als „falsch“ erwiesen hätten. Aus dieser Erfahrung sei geradezu logisch abzuleiten, dass das auch für aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse oder Theorien gelten könnte. Zusätzlich wird gerne darauf verwiesen, dass sich Wissenschaftler oft nicht einig seien und somit von der Wissenschaft keine widerspruchsfreie „Wahrheit“ angeboten würde. Das scheinen auf den ersten Blick durchaus bedeutsame Argumente zu sein.
Allerdings liegt dieser Kritik ein sehr verkürztes Verständnis der wissenschaftlichen Erkenntniswege zugrunde. Wissenschaft erhebt nämlich gar keinen Anspruch auf Wahrheit (erst recht nicht auf absolute oder endgültige). Vielmehr ist der (natur)wissenschaftliche Weg der Welterkennung und Welterklärung gerade dadurch definiert, dass es keine „letzten“ Wahrheiten gibt, sondern nur eine schrittweise Annäherung. Das Besondere liegt dabei genau in der einbauten Selbstkorrektur: Wann immer auf der Basis der anerkannten empirischen Forschungsmethoden neue Befunde eingebracht werden und einer Prüfung der wissenschaftlichen Community standhalten, werden bisherige Sichtweise revidiert und Theorien angepasst. Das mag zwar wegen gewisser Widerstände oder Trägheiten im System im Einzelfall eine gewisse Zeit dauern, ist aber auf Dauer nicht aufzuhalten.
Auch der Streit zwischen Wissenschaftlern über methodische Fragen oder die stichhaltigere Theorie ist keineswegs ein Zeichen für Schwäche, sondern für das dynamische Ringen um die beste Annäherung an die Realität.
Nicht übersehen sollte allerdings auch, dass es inzwischen einen doch sehr gefestigten Bestand an stabilen wissenschaftlichen Erkenntnissen gibt, deren Gültigkeit jeden Tag milliardenfach von uns allen getestet und bestätigt werden.
Emotionale Kälte
Während der erste Einwand eher auf einer inhaltlichen Argumentation beruhte, soll es jetzt um eine recht allgemeine emotionale Distanz gehen. Viele Menschen sehen im System der Wissenschaft eine kalte, technokratische und geradezu menschenfeindliche Grundhaltung, die mit ihrer „Einseitigkeit“ den emotionalen Erlebens- und Erfahrungsaspekten bzw. den spontan-intuitiven Bedürfnissen des Menschen zu wenig Rechnung trage. Die Hinweise auf ausgeklügelte experimentelle Kontrollsysteme und aufwendige statistische Analysen werden von diesen Kritikern eher mit Miss- oder Verachtung gestraft und mit persönlichen Erfahrungen oder abweichenden Einzelmeinungen beantwortet. Irgendwie erscheint Ihnen die ganze Richtung suspekt.
In dieser Sichtweise findet sich m.E. eine Vermischung der beiden Aspekte „Welterklärung“ und „Weltzugang“. Natürlich schließt eine wissenschaftliche Weltsicht nicht aus, dass Menschen sich auch auf anderen Ebenen als der rational-logischen von der Welt berühren lassen. Wir sind vielschichtige Wesen, tragen ein komplexes System an Emotionen und Intuitionen in uns und finden seit je her jede Menge Möglichkeiten, diese auch – z.B. künstlerisch – auszudrücken. Das ändert aber eben nichts daran, dass diese alternativen Weltzugänge nicht besonders viel zu einer Erklärung von realen Phänomenen beitragen können (s.u.). Das Umgekehrte ist richtig: Die wissenschaftliche Erforschung der emotionalen und intuitiven Seite unseres Erlebens macht riesige Fortschritte.
Man mag das als endgültige „Entzauberung“ betrachten – darin findet sich aber eben auch eine Bestätigung dafür, dass wir ganz sicher nicht rein-rationale Geschöpfe sind. Warum sollte man das nicht mir wissenschaftlichen Methoden erforschen?
Entfremdung von der Natur
Angelehnt an das gerade besprochene Argument wird der wissenschaftlichen Welterforschung oft vorgeworfen, sie habe den Menschen von seiner ursprünglichen Einbettung in die natürlichen Kreisläufe des Lebens entfremdet. An die Stelle einer intuitiven Wahrnehmung des Eingebundenseins und der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Mitgeschöpfe sei eine distanzierte und funktionale Haltung zur Natur getreten, in der deren Vielfalt und Komplexität immer stärker auf eine Ausbeutungsbeziehung reduziert worden sei. Statt sich von den „Wundern der Schöpfung“ bezaubern zu lassen, habe die Wissenschaft mit ihren rationalen und zweckorientierten Instrumenten die nüchterne Analyse und die Verwertbarkeit für menschliche Zwecke in den Vordergrund gestellt. Statt uns als ein Teil der Natur zu betrachten, hätte wir uns neben bzw. über sie gestellt.
Das Ergebnis sei eine in Spezialdisziplinen aufgesplittete Wissenschaftslandschaft, in der das Gefühl für die großen Zusammenhänge verlorengegangen sei.
Auch hinsichtlich dieser Argumentation stellt sich die Frage, ob die beschriebenen Tendenzen wirklich spezifisch für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess waren. Wissenschaft ist zunächst einmal eine Erkenntnismethode und birgt in sich keine Versicherung gegen ihren Missbrauch für negative Ziele. Natürlich ist die Art, wie Wissenschaft mit welchen Zielsetzungen betrieben wird, vom jeweiligen Zeitgeist, also von den historischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen abhängig. In einer Zeit, in der Natur als beliebig und unbegrenzt ausbeutbare Ressource betrachtet wurde, hat sich auch die Wissenschaft weitgehend dieser Perspektive angeschlossen.
Aber es gab auch Gegenbeispiele. So hat Alexander von Humboldt bei seinen berühmten wissenschaftlichen Expeditionen schon am Ende des 18. Jahrhunderts ein weitreichendes Verständnis vom Zusammenspiel komplexer natürlicher Systeme und ihrer Gefährdung durch menschliche Eingriffe unter Beweis gestellt. [xi]
Extrem bedeutsam für uns ist jedoch, dass es seit einigen Jahrzehnten an erster Stelle die Naturwissenschaften sind, die uns die Bedeutung und die Gefährdung des komplexen Zusammenspiels natürlicher Systeme (z.B. beim Klima und beim Artensterben) eindrücklich vor Augen führen. In diesem Sinne hat die Natur inzwischen in der modernen Wissenschaft eines ihrer stärksten Unterstützer.
Die faszinierend vielschichte Durchdringung und Vernetzung aller physikalisch-geologischen, klimatischen und biologischen Systeme dieses Planeten wäre ohne die Fortschritte in den Naturwissenschaften nicht ansatzweise erkennbar und begreifbar; genauso wenig wie die existentielle Verbundenheit unseres biologischen Seins mit den natürlichen Lebensgrundlagen.
Daraus die richtigen und notwendigen Schritte abzuleiten, kann nicht allein Aufgabe der Wissenschaft sein.
Negative Folgen für Mensch und Umwelt
Eng mit dem letzten Kritikpunkt verbunden wird oft geäußerte Vorwurf erhoben, dass uns die wissenschaftlich-technologische Revolution der letzten Jahrhunderte eine geradezu endlose Zahl von Problemen und Nachteilen eingebrockt habe. Man denke nur an den katastrophalen Raubbau an der belebten und unbelebten Umwelt, an den grotesken Selbstzerstörungs-Overkill der Atomwaffen und an den Wahnsinn des globalen Hyperkonsum-Kapitalismus. Dazu käme aktuell noch die Bedrohung durch eine explosionsartige Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI), deren destruktives Potential unübersehbar sei. Insgesamt habe die naturwissenschaftliche Logik der analytischen Welterklärung zu einer Sucht nach technokratischer Weltbeherrschung geführt, die unseren Planeten an die Grenze der Apokalypse getrieben habe.
Wow! Da muss man schon mal kurz Luft holen, denn diese Argumentationslinie hat einiges Gewicht.
Ein erster Impuls der Entgegnung könnte sein, auf all die segensreichen zivilisatorischen Errungenschaften hinzuweisen, die unser Leben (in den reichen Ländern der Welt) so unglaublich angenehm, sicher und interessant machen. Gerne wird in diesem Zusammenhang auf die Fortschritte in der Medizin hingewiesen (wer will schon bei einem Eingriff auf bildgebende Diagnostik und moderne Betäubungsmittel verzichten?). Man könnte auch über die Steigerung der Nahrungsmittelproduktion sprechen oder den Zugang zu praktisch grenzenlosen Informationen. Diese Diskussion liefe also auf eine Gewichtung von zwei Waagschalen hinaus (die wohl jede/r etwas anders beladen würde).
Etwas allgemeiner könnte man darüber streiten, ob denn tatsächlich der Versuch, den Geheimnissen der Natur und des Universums auf die Spur zu kommen, für alle entstandenen negativen Folgen verantwortlich gemacht werden kann. Ist schon die Grundlagenforschung zur Entschlüsselung der atomaren Kräfte ein Sündenfall – oder erst die direkte Beteiligung an der Entwicklung der Atom- bzw. Wasserstoffbombe? Oder wäre auch das noch legitim, solange es der Verteidigung der „freien“ Welt gegen ein diktatorisches Monster (wie Hitler) dient?
Etwas weniger dramatisiert heißt die Frage wohl: Muss man nicht doch trennen zwischen dem wissenschaftlichen Erkenntnisdrang (und seinen Methoden) und der – letztlich politisch gesteuerten – Anwendung von Technologien? Ist nicht jedes Werkzeug, jede Erfindung potentiell zu missbrauchen? Wie weit wollen wir (gedanklich) zurückgehen, um den Forschergeist zu stoppen? Bis zur Beherrschung des Feuers oder zur Erfindung des Rads? Oder war erst die Dampfmaschine böse? Wie wollen wir das tun – wenn es nicht einmal die (damals) fast allmächtige Katholische Kirche die Renaissance und die Aufklärung verhindern konnte?
Aber die bisherige Argumentation greift noch immer zu kurz.
Selbst, wenn wir zugestehen würden, dass die angewandten Naturwissenschaften tatsächlich die Verantwortung für die desolaten Zustände auf unserem Planeten tragen – was würde das bedeuten? Gäbe es einen anderen Weg zur Lösung der entstandenen globalen Herausforderungen als die konsequente Anwendung all unserer wissenschaftlichen Erkenntnisse und aller unserer technologischen Potentiale?
Tatsächlich stehen wir inzwischen an einem Punkt, an dem selbst ein – völlig unrealistischer – Kurswechsel nicht mehr ausreichen würde: Wir brauchen tatsächlich mehr Wissenschaft, um die notwendige Transformation von Wirtschaft und Alltag in der gebotenen Eile hinzubekommen. Aber natürlich brauchen wir genauso dringend eine grundlegende Veränderung unserer gesellschaftlichen und persönlichen Prioritäten (dazu später mehr).
Ideologische Einwände
Ein anderer Grund für das Ablehnen einer rationalen Diskussion auf der Grundlage einer wissenschaftlichen Erkenntnissuche sind dominante persönliche Überzeugungen, Haltungen, Dogmen oder Ideologien. Sind diese nur stark genug ausgeprägt, definieren und begrenzen sie das, was akzeptabel, möglich oder wahr sein kann bzw. darf.
Wenn man z.B. davon überzeugt ist, dass die Bibel ein Text ist, der Wort für Wort die allzeit gültige Botschaft Gottes enthält, muss man bei der Frage nach der Entstehungsgeschichte unseres Planeten ziemlich bald aus einem faktenbasierten Diskurs aussteigen. Dann muss man den Ergebnissen von radiometrischen und paleomagnetischen Messungen ihre Gültigkeit bzw. Bedeutung absprechen.
Hält man jede Form von Beteiligung an unserem kapitalistischen Wirtschaftssystem für eine Art Todsünde, kann man natürlich auch das Wissenschaftssystem auf dieser Grundlage in Bausch und Bogen ablehnen.
Aber es gibt auch ganz aktuelle, sogar als fortschrittlich geltende Tendenzen, wissenschaftliche Erkenntnisse aus weltanschaulichen Gründen zu relativieren. So stellen einige Transgender-Aktivistinnen die Existenz zweier Geschlechter inzwischen nicht nur in Bezug auf die Unbestimmtheit und Veränderlichkeit von subjektiv erlebten Geschlechts-Identitäten in Frage, sondern halten auch die biologische Zweigeschlechtlichkeit selbst für ein (überholtes) gesellschaftliches Konstrukt.
Besonders in den USA ist andererseits zu beobachten, dass die Ablehnung und Verächtlichmachung der Wissenschaft inzwischen zu den Grundhaltungen eines rechts-konservativen Milieus gehört. Sie sehen in der intellektuell begründeten Weiterentwicklung von Weltverstehen einen Angriff auf ihre traditionellen Werte und reagieren darauf mit einer rein emotionalen kulturkämpferischen Abwehr.
Interessanter Weise treffen sich also Wissenschaftsgegner auf beiden Seiten des politischen Spektrums – einig in dem Empfinden, dass ihre jeweiligen Überzeugungen mehr Gewicht haben (und behalten sollten) als die überprüfbaren Ergebnisse von empirischer Forschung.
Da die entsprechenden Inhalte weiter unten bei der Diskussion alternativer Weltbilder noch ausführlich zur Sprache kommen, gibt es hier keine Entgegnung auf diese Sichtweisen.
Westliche Kultur-Dominanz
Dem rational-wissenschaftlichen Weltverständnis wird gelegentlich vorgehalten, dass es letztlich die Fortsetzung einer imperialistischen und kolonialistischen Umgangsweise mit anderen, z.B. asiatischen oder indigenen Kulturen darstelle. Es drücke eine ungerechtfertigte und einseitige Überhöhung eines Weltbildes aus, das sich dem analytisch-technokratischen Zugang zur Welt und zur Natur verschrieben habe und die „Weisheiten“ aus anderen kulturellen Quellen systematisch und überheblich abwerte und übergehe.
Auch hierzu wird im nächsten Kapitel ausführlich im Zusammenhang mit alternativen Weltbildern Stellung genommen. An dieser Stelle sei noch einmal darauf verwiesen, dass in diesem Text zwischen den Aspekten „Welterklärung“ und „Weltzugang“ unterschieden wird. Es wäre tatsächlich arrogant und dumm, die Bedeutung von alternativen (nicht-rationalen) Aspekten von Welterfassung zu leugnen.
Auf der anderen Seite gibt es bei genauer Betrachtung tatsächlich keine „westliche“ oder „östliche“ oder sonst wie „kulturspezifische“ Wissenschaft, denn ihre Methoden und ihre Theoriebildung sind vom Prinzip her kulturell neutral (was natürlich nicht ausschließt, dass es in der gelebten Praxis zu Ungleichgewichten gekommen ist). Es sei auch daran erinnert, dass es in früheren geschichtlichen Phasen durchaus eine erste Blütephase wissenschaftlichen Denkens im asiatischen Raum gab. Es würde darüber hinaus wohl keine frühere Unterdrückung oder aktuelle Ausbeutung anderer Völker lindern, wenn man alle kulturellen oder zivilisatorischen Entwicklungen nur deshalb abwerten würde, weil sie aus einem Teil der Welt kommen, die eine kolonialistische oder rassische Vergangenheit haben.
Dem Vorwurf der Kultur-Dominanz könnte man aus einer ganz anderen Perspektive sogar mit einigem Selbstbewusstsein antworten: Es sind gerade die methodischen Regeln, die Kriterien der unabhängigen Überprüfbarkeit und die Kontrolle durch die wissenschaftliche Community, die diesem System einen kulturübergreifenden Charakter geben.
Überforderung des „Durchschnittsmenschen“
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf eine Skepsis ganz anderer Art.
Gelegentlich wird darauf hingewiesen, dass diese rational-empirische Perspektive der Wissenschaft zwar extrem nützlich und erfolgreich sei, sie aber einen grundlegend „elitären“ Charakter habe: Sie sei letztlich nur für einen eher kleinen Teil der (akademisch) gebildeten Bevölkerung wirklich nachvollziehbar und zugänglich und schließe in gewisser Weise die anderen Gruppen aus. Wer die methodischen Grundprinzipien nicht erfassen, die Systematik von experimentellen Versuchsszenarien nicht nachvollziehen und theoretischen Schlussfolgerungen nicht folgen könne, bleibe sozusagen abgehängt am Wegesrand stehen. Aus so einer Perspektive sei dann die – ach so demokratische verfasste Wissenschaft – ein undurchschaubarer Moloch. Diesem begegnet man dann vielleicht mit dem gleichen Misstrauen wie den wirtschaftlichen und politischen Eliten („die machen ja doch, was sie wollen und was ihnen selber nützt“).
Wie ernst muss man eine solche Argumentation nehmen?
Man könnte es sich leicht machen und darauf verweisen, dass man ja schlecht die Art und Komplexität der Welterforschung nach der kognitiven Auffassungsgabe des Durchschnittsbürgers ausrichten kann. Schließlich will dieser Durchschnittsbürger seine Fußball-Liveübertragungen aus anderen Kontinenten genauso wie seine Handy-Navigation – ohne den Anspruch zu haben, die mehr als komplexen Wirkmechanismen zu begreifen.
Trotzdem erscheint es sinnvoll, ein möglichst umfassendes Basiswissen über wissenschaftliches Denken und Forschen auch in die Breite der Gesellschaft zu transportieren. Wie sich in zahlreichen Initiativen gezeigt hat, lassen sich schon Vor- und Grundschulkinder für ein experimentelles Erkunden ihrer Umwelt begeistern.[xii] Um die Wissenschaftsbegeisterung von jungen und junggebliebenen Erwachsene hat sich in den letzten Jahren insbesondere die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi NGUYEN-KIM verdient gemacht.[xiii]
Wir sollten jedenfalls bei den anderen Welterklärungs-Systemen auch auf die Frage nach den Voraussetzungen schauen: Sind sie denn tatsächlich eine sinnvolle Alternative für „einfachere“ Gemüter?
Wie schon mehrfach angedeutet, finden einige dieser Aspekte im folgenden Kapitel eine intensive Fortsetzung. Die dort – zunächst dargestellten und dann kritisch hinterfragten – alternativen Weltbilder spiegeln einen großen Teil der Kritik wieder, die dem wissenschaftlichen Denken entgegengebracht wird.
Ich kann mich an dieser Stelle kurz fassen:
Die wissenschaftliche-rationale Sicht von der Welt und die entsprechenden Methoden der Erkenntnisgewinnung sind extrem erfolgreiche Modelle, deren Ergebnisse das Alltagsleben für einen großen Teil der Menschheit prägen. Die große Mehrheit dieser Menschen würde wohl nur höchst ungern auf die damit verbundenen Errungenschaften verzichten.
Es soll hier aber keine naive Heiligsprechung des Wissenschafts-Systems erfolgen:
Wissenschaft wird von Menschen gemacht; Wissenschaft findet in gesellschaftlichen Kontexten statt und ist entsprechenden Abhängigkeiten und Einflussnahmen ausgesetzt. Wissenschaft kann missbraucht werden – sie wurde und wird missbraucht. Wissenschaft kann sogar irren, sie hat (natürlicherweise) oft geirrt. Aber es ist ein einzigartiges, sich selbst korrigierendes und sich permanent weiterentwickelndes System, das uns inzwischen der Entschlüsselung der Weltgeheimnisse schon erstaunlich nahegebracht hat.